Gleichgültigkeit ist keine Option
Rassismus und Antisemitismus sind in der Schweiz eine Realität. Das zeigen aktuelle Studien. Die Aktionswoche gegen Rassismus kann zwar Augen öffnen, es braucht aber mehr staatliches und zivilgesellschaftliches Engagement, kommentiert Valerie Wendenburg.
Fast jede sechste Person in der Schweiz hat in den letzten fünf Jahren rassistische Diskriminierung erfahren. Erschreckend. Besonders, wenn man sich vor Augen führt, dass dies nur die Spitze des Eisbergs ist, da die Dunkelziffer deutlich höher liegen dürfte. Menschen werden aufgrund ihrer Nationalität, Hautfarbe oder eines anderen körperlichen Merkmals, die Religion oder die ethnische Herkunft diskriminiert.
Diese Woche läuft in Basel die Aktionswoche gegen Rassismus, die mit einem umfangreichen Programm das Thema in den Mittelpunkt stellt, das nicht nur die offiziell 1,2 Millionen von Rassismus betroffenen Menschen, sondern uns alle etwas angeht. Es ist begrüssenswert, dass der Fokus anlässlich des Internationalen Tags gegen Rassismus am 21. März wieder auf das Problem rassistische Diskriminierung gelegt wird – aber nicht ausreichend.
In der Gesellschaft verankert
Wir sind aufgrund der aktuellen Entwicklungen 365 Tage im Jahr gefordert, uns gegen Diskriminierung zu stellen. Denn Rassismus und Antisemitismus zeigen sich nicht nur in den Extremen, sondern sie sind überall in der Gesellschaft anzutreffen. Betroffen sind unsere Nachbar*innen, Arbeitskolleg*innen oder Menschen, die neben uns an der Kasse im Supermarkt stehen.
Heute erscheint der Antisemitismusbericht 2024, in dem zu lesen ist: «Antisemitismus in der Schweiz steht nicht mehr an einem Scheideweg», vielmehr habe er sich «spürbar gegen jeden Widerstand durchgesetzt». Übergriffe wie Beschimpfungen, Anspucken, Tätlichkeiten und gar brutale Angriffe auf Leib und Leben seien heute Realität.
Das Sicherheitsgefühl jüdischer Menschen und die Sicherheitslage jüdischer Einrichtungen hat sich deutlich verschlechtert.
Die Zahlen sprechen für sich: Auch wenn die Antisemitismuswelle, ausgelöst durch die Terroranschläge der Hamas 2023 und den Krieg in Gaza, wieder leicht abgeebbt ist, wurden konstant und massiv häufiger antisemitische Vorfälle registriert als zuvor. Gezählt wurden im Berichtsjahr 2024 insgesamt 221 Fälle (2023: 155, 2022: 57).
Wie der Schweizerische Israelitische Gemeindebund und die Stiftung gegen Rassismus und Antsemitismus, die den Antisemitismusbericht gemeinsam herausgeben, resümieren, erfahren Jüd*innen Antisemitismus direkter, Aussagen und Übergriffe hätten stark zugenommen. Die Beispiele sprechen für sich. Im letzten Jahr verletzte ein Jugendlicher in Zürich einen orthodoxen Juden mit einem Messer schwer. In Davos wurde ein jüdisch-orthodoxer Mann von zwei Männern bespuckt und geschlagen.
Fazit: Das Sicherheitsgefühl jüdischer Menschen und die Sicherheitslage jüdischer Einrichtungen habe sich «deutlich verschlechtert». Schweizer Jüd*innen leiden zudem besonders darunter, dass sie oft für den Krieg, die Handlungen und die Politik Israels verantwortlich gemacht werden.
Undifferenziertes Islam-Bild
Ganz ähnlich ergeht es Muslim*innen in der Schweiz: Seit den Anschlägen vom 7. Oktober 2023 in Israel und die Eskalation des Nahostkonflikts sehen sie sich in pauschalisierender Weise mit Antisemitismus-Vorwürfen konfrontiert. Zudem werden sie mit einem undifferenzierten Bild vom Islam in Verbindung gebracht. Wie in der jüngst erschienenen Grundlagenstudie «Antimuslimischer Rassismus in der Schweiz» beschrieben wird, werden Muslim*innen als «Terroristen» beschimpft oder es wurde ihnen unterstellt, für den Islam missionieren zu wollen.
Die Studie zeigt weiter auf, wie Muslim*innen in der Schweiz im Alltag diskriminiert werden. Zum Beispiel sind Arbeitssuchende mit Namen, die als muslimisch wahrgenommen werden können, bei Bewerbungsverfahren im Nachteil. Muslimische Menschen haben zudem ein mehr als doppelt so hohes Risiko für Arbeitslosigkeit wie nicht muslimische Personen.
Muslim*innen werden mangelnde Sprachkenntnisse und ein geringer Bildungsstand zugeschrieben, und muslimische Eltern erleben, dass von ihren Kindern in der Schule ein tieferes Leistungsniveau erwartet wird.
Diskriminierung gilt es mit vereinten Kräften von Bund, Kantonen, Gemeinden und der Zivilgesellschaft zu begegnen.
Die Resultate aus beiden Berichten lassen aufhorchen. Zumal es darüber hinaus weitere Minderheiten gibt, die aufgrund ihrer Herkunft, ihres Geschlechts oder ihrer Gesinnung täglich Diskriminierung erfahren. Angesichts dieser Missstände braucht es dringend Massnahmen, die über eine Aktionswoche gegen Rassismus hinausreichen.
Es ist wichtig, die geplante nationale Antisemitismusstrategie jetzt voranzutreiben. Darin sollte auch garantiert werden, dass sich der Staat künftig beim Monitoring von Antisemitismus und Rassismus selbst engagiert und die betroffenen Minderheiten die Berichte nicht wie bisher aus eigenen Mitteln realisieren müssen.
Es lohnt sich, nicht wegzusehen
Diskriminierung gilt es mit vereinten Kräften von Bund, Kantonen, Gemeinden und der Zivilgesellschaft zu begegnen. Wir alle können uns im Alltag für die Minderheiten in unserem Land einsetzen. Gleichgültigkeit ist keine Option. Jede*r Einzelne von uns kennt höchstwahrscheinlich von Diskriminierung betroffene Personen oder beobachtet Situationen, in denen es sich lohnt, nicht wegzusehen.
Wir können das Wort ergreifen, wenn jemand auf der Strasse oder im Sportverein rassistisch beleidigt wird oder am Stammtisch ein ausländerfeindlicher Spruch kommt. Auch können wir unsere eigenen Vorurteile hinterfragen und Fälle von Rassismus melden, von denen wir erfahren. Wir können Betroffene unterstützen und sie ermutigen, sich Hilfe zu suchen. Indem wir für unsere Mitmenschen einstehen und solidarisch sind, können wir im Kleinen Grosses bewirken.