Lysbüchel, magst du noch?

Die Anwohner*innen des neuen Stadtquartiers im St. Johann werden noch jahrelang eine Monsterbaustelle vor ihrer Haustür haben. Damit es ihnen nicht zu bunt wird, fühlt das Stadtteilsekretariat zwischendurch den Puls.

Baustelle Lysbüchel
Das Areal Volta Nord: Noch eine Grossbaustelle, in ein paar Jahren ein neues Quartier am Stadtrand. (Bild: Michelle Isler)

Sarah Zussy hält sich ein Ohr zu. «Das sind die lautesten», sagt die Co-Geschäftsleiterin des Stadtteilsekretariats Basel-West und zeigt hinter sich in den Baustellengraben, wo ein Saugbagger das Gelände auf dem Lysbüchel-Areal bearbeitet. Der Lärm hallt von den umliegenden Häuserwänden, die Strasse ist staubig. Alle Bewohner*innen hier haben gewusst, dass sie auf eine Baustelle ziehen, die noch mehrere Jahre dauern wird. Und trotzdem: Erst wenn man hier wohnt, merkt man, was «Entwicklungsareal» tatsächlich bedeutet. Und dass Wohnen auf einer mehrjährigen Baustelle auch Geduld und Nerven braucht. 

Es ist Zussys Job, den Leuten auf dem Areal den Puls zu fühlen. Oder wie es Zussy sagt: «Fiebermessen». Zuletzt tat sie das im Juni. Zusammen mit der mobilen Quartierarbeit LoLa lud sie die Quartierbewohner*innen an einen «Quartiergrill». Die Idee: Sich über die Entwicklungen auf dem Areal austauschen und Anliegen anbringen. Über 20 Punkte sind es, die Zussy zusammen mit der mobilen Quartierarbeit Lola aus dem Quartiergrill zusammengetragen hat – gebündelt in Themen Baustelle, Nachbarschaft und Verkehr.

Sarah Zussy
Sarah Zussy und Salome Rätz vom Stadtteilsekretariat Basel-West im schon begrünten Teil des Lysbüchel. (Bild: Michelle Isler)

Es sind Themen, die bei solchen Entwicklungsarealen immer zu reden geben. Im Kanton Basel-Stadt entstehen viele neue Quartiere, zum Beispiel im Klybeck, beim Dreispitz oder im Westfeld. An all diesen Orten sieht man: Die Stadt muss wachsen. Gebaut wird nach dem Prinzip der Verdichtung auf engem Raum und in die Höhe. Auf dem Lysbüchel – offiziell genannt Areal Volta Nord – wohnen aktuell rund 500 Personen mitten auf der mehrjährigen Baustelle. 

«Das ist noch nichts im Vergleich dazu, wie viele Menschen hier wohnen, wenn alles fertig ist», sagt Zussy. In den nächsten Jahren entstehen diverse grosse Überbauungen, die nochmals Platz für 1500 bis 2000 Anwohner*innen bieten. Noch nicht mitgezählt sind die 2000 Arbeitsplätze, die ebenfalls hier entstehen sollen. Und, wie steht’s ums Fieber im Quartier? «Dieses Jahr war die Stimmung beim Quartiergrill entspannter als letztes Jahr», sagt Zussy. «Natürlich gibt es immer noch Themen, die bewegen, aber der Austausch war locker und positiv.» Vor einem Jahr war das anders.

Ende Juni 2024 starb ein Schulkind bei einem Unfall an der Elsässerstrasse. Aus dem Quartier – medial, aber vor allem auch im persönlichen Kontakt – spürte Zussy Wut und Trauer der Anwohner*innen unmittelbar. Seither hat sich einiges bewegt: «Der Kanton hat rasch gehandelt, zum Beispiel mit einer sicheren Verbindung zwischen Weinlager und Schulhaus, damit die Schulkinder der Elsässerstrasse besser ausweichen können.» Im Protokoll vom diesjährigen Quartiergrill ist vermerkt, dass die Anwohner*innen das schätzen: «Grosses Dankeschön», steht da.

Protokollierte Wünsche aus dem Quartier sind zum Beispiel eine bessere Kommunikation der Lärmzeiten bei der Baustelle. Besonders relevant sei das fürs Homeoffice. Andere Punkte sind etwa der Wunsch nach einer öffentlichen Toilette, Treffpunkte und Grünflächen, Verbesserungen bei den Strassen. Besonders häufig taucht das Wort «Kinder» auf. 

Zussy bestätigt: Viele Familien würden hier wohnen. So viele, dass das Schulhaus bereits nachrüsten musste. Es war zu klein. Und auch der Pausenhof muss dem wachsenden Quartier und Bauphasen angepasst werden: Zusätzlich zu Terrassen und Pausenplatz auf dem Dach päuselen die Kinder jetzt noch in der Baugrube vor dem Schulhaus. Weil dieser Platz aber für den Bau eines neunstöckigen Hochhauses gebraucht wird, musste ein Ersatz auf der anderen Seite des Schulhauses gefunden werden.

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Auf der Passerelle hat man einen guten Blick auf die Baugrube, aus der künftig ein neunstöckiges Hochhaus wachsen soll.

Der Kanton gebe sich Mühe, für auftauchende Probleme Lösungen zu finden, meint Zussy. Ausserdem würden im Quartier viele Leute wohnen, die sich gut mit Abläufen und Beteiligungsmöglichkeiten auskennen und sich aktiv einbringen – «in Partizipationsprozessen, Petitionen oder Genossenschaftssitzungen. Das ist eine Stärke des Quartiers», findet Zussy. Man könnte das auch so auffassen: Das Quartier ist eher homogen. Künftig dürfte sich das aber ändern: «Mit den kommenden Wohnbauten wird das Quartier in den nächsten Jahren vielfältiger», ist sie überzeugt.

Zussy findet es deshalb wichtig, die Menschen bei den Planungen mitzudenken. «Vor zwei Jahren haben Besucher*innen an einer Infoveranstaltung die Behörden gefragt, ob eine Art Quartiertreffpunkt geplant sei», erinnert sich Zussy. 

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Das Gebäude links im Bild beherbergte früher Wein – jetzt ist es bewohnt. Seinen Namen hat es aber behalten: Weinlager. (Bild: Michelle Isler)

Damals war das noch nicht vorgesehen, nun sei ein Ableger des Quartiertreffpunkts Lola in Planung, «weil man gemerkt hat, dass es wertvoll ist, wenn das Quartier Freiräume und Anlaufstellen vor Ort findet», sagt Zussy. Ein weiteres Anliegen der Anwohner*innen betrifft die Jugend. Am Quartiergrill tauchte die Frage auf, wo es für sie künftig Freiräume geben wird. Noch ist das nicht die drängendste Frage. «Aber in zehn Jahren sind all diese Kinder hier Jugendliche.» Zussy zeigt auf das Schulhaus.

«Bei einer so grossen Entwicklung ist es wichtig, nicht nur in Hardware zu investieren, sondern auch in die Software, das Miteinander vor Ort», findet Zussy. Mit Software meint Zussy «Menschen und Strukturen, die das Quartier beleben»: Quartierarbeit, Siedlungsentwicklung, Ansprechpersonen vor Ort, Menschen, die die Anwohner*innen kennen. 

Sarah Zussy Felix Graf
Felix Graf und Sarah Zussy kümmern sich ums Miteinander im neuen Stadtquartier. (Bild: Michelle Isler)

Dass diese Software nicht gerade überbordet, sieht man auch am Beispiel von Felix Graf. Er ist seit zwei Jahren mobiler Quartierarbeiter im St. Johann und arbeitet schwerpunktmässig im Lysbüchel. Seine Stelle wurde vor drei Jahren mit einem 40-Prozent-Pensum im Lola geschaffen, weil die Finanzierung durch die Stiftung CMS kürzlich aber auslief, wurde auch sein Pensum gekürzt, auf 20 Prozent.  

Graf ist regelmässig im Quartier unterwegs und kann nachvollziehen, dass die Menschen sich auch mal ab dem Baulärm stören. «Das war vorher alles Freiraum», erklärt er und zeigt auf braune Erdhaufen und Baustellengerüste hinter sich. «Und relativ schnell ist alles verschwunden.» Und dann erst hätten viele gemerkt, was Wohnen in einem Quartier mit Verdichtung heisst.

Grafs Aufgabe ist es, genau dafür ein offenes Ohr zu haben. Auch mit geschrumpftem Pensum versucht er, neben Leuten wie Zussy, Anwohner*innen und kleinen Organisationen dafür zu sorgen, dass das Zwischenmenschliche nicht auf der Strecke bleibt. Und auch wenn nicht alles rosig ist, trotz Lärm, Dreck und Verdichtung, sagt Zussy vom Stadtteilsekretariat: «Ich glaube, viele Menschen wohnen hier gerne – auch jetzt schon.»

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