Meine Facebook-Freund*innen posten Unsinn. Was soll ich tun, Ingrid Brodnig?

Seit Gruppen wie «Gärn gschee – Basel hilft» möchte man das Silicon Valley fast wieder ein bisschen liebhaben. Doch Digital-Expertin Ingrid Brodnig findet das Moralisieren der Digitalriesen unpassend. Ein Gespräch über die Corona-Dynamik im Netz – und Tipps im Umgang mit unsinnigen Posts aus dem eigenen Freundeskreis.

Ingrid Brodnig arbeitet zu den Auswirkungen der Digitalisierung auf die Gesellschaft.
Ingrid Brodnig arbeitet zu den Auswirkungen der Digitalisierung auf die Gesellschaft. (Bild: Ingo Pertramer/Brandstätter Verlag)

Ingrid Brodnig*, seit Ausbruch des Corona-Virus hat sich ein erheblicher Teil menschlicher Interaktion in die sozialen Netzwerke verlagert. Wie ist die Stimmung bei Facebook und co., knallen im Silicon Valley seit Wochen die Korken?

Die Corona-Krise ist sicher eine Chance für die Digitalriesen. Gerade Facebook war seit 2016 und dem Cambridge-Analytica-Skandal immer wieder mit schlechten Nachrichten in den Schlagzeilen; jetzt ist der Moment, um mit positiven Facetten aufzufallen. Bei Facebook ist das eine lokale Nützlichkeit, also dass sich in vielen Gegenden Leute in der Nachbarschaft mit Hilfe dieser Plattform vernetzen.

Wie äussert sich das physical distancing konkret in Bezug auf das Online-Verhalten der User*innen?

Der Traffic auf den Netzwerken steigt massiv. Facebook hat bald nach Ausbruch der Krise bekannt gegeben, dass gerade in Ländern, die stärker vom Virus betroffen sind, die Nutzung um 50 Prozent angestiegen ist. Gleichzeitig sehen wir, dass Amazon extrem zulegt und nochmal an Bedeutung gewann.

Immer mehr Menschen nutzen Bajour.

Ist die Kritik, von der Sie gesprochen haben, in den Hintergrund gerückt?

Das muss man so beobachten. Amerikanische Tech-Journalist*innen schreiben sogar schon von einem Ende des sogenannten Tech-lashes, also von einer Abkehr der Kritik an diesen grossen Digital-Unternehmen. Ich zweifle allerdings daran, ob dem wirklich so sein wird, denn an den grundlegenden Kritikpunkten hat sich ja nichts verändert.

Welche Kritikpunkte meinen Sie?

Nur weil jetzt Facebook und andere Netzwerke für Nachbarschaftshilfe genutzt werden, heisst das ja nicht, dass die oftmals kritisierten Probleme dieser Digitalkonzerne einfach weg wären. Zum Beispiel die Problematik des Datenschutzes. Oder die Problematik eines Geschäftsmodells, das auf dem Verkauf von Nutzer*innendaten basiert – die ist noch immer da. Die Corona-Krise überdeckt diese Themen nun einfach, aber sie werden wieder aufflammen. Nur weil die Digitalkonzerne nun ihren sozialen Kern betonen, sollten wir nicht aufhören, kritisch zu sein. 

Kann man jetzt schon sagen, dass Digitalunternehmen wie Facebook gestärkt aus dieser Krise hervorgehen werden?

Ich kann mir gut vorstellen, dass die Tech-Konzerne nach der Krise versuchen werden, in Fällen von Kritik auf ihre Nützlichkeit in Zeiten von Corona hinzuweisen. Aber lassen Sie es mich so sagen: Gerade weil die Coronakrise zeigte, wie wichtig Facebook, Amazon und Co. sind, sollten wir umso genauer hinschauen.

In Basel erleben wir eine Art digitale Nachbarschaftshilfe, wie wir sie so noch nicht sahen. Über 15’000 Menschen haben sich der Facebookgruppe «Gärn gschee – Basel hilft» angeschlossen, das Beispiel machte schweizweit Schule. Können Sie sich an einen Zeitpunkt erinnern, an dem die Vernetzung auf digitale Plattformen derart unmittelbar in die Realität hineinwirkten?

Das ist eine interessante Frage. Ich würde sagen: als 2015 viele Flüchtlinge nach Österreich, Deutschland und auch in die Schweiz kamen. Damals gab es Solidaritätsaktionen und Freiwillige haben sich in der Flüchtlingshilfe stark über Social Media organisiert. Allerdings war diese Vernetzung nicht so breit gefächert wie jetzt während der Corona-Krise, weil sich damals wohl ein kleinerer Teil der Bevölkerung engagierte. Ich denke, man kann gerade in Zeiten von Unsicherheit und Neuorientierung beobachten, dass diese Plattformen eine schnelle Vernetzung ermöglichen. Das ist sicher positiv. 

«Social Media at its best», jubelten viele, als die ersten Hilfesuchenden in unserer Gruppe mit Hilfsangeboten in den Kommentaren überflutet wurden. Sehen wir in diesen Tagen die Utopie sozialer Netzwerke als wirklich soziale Orte wahr werden?

Ich würde sagen, wie sehen heute das Schönste und das Schlechteste an den sozialen Medien. Das Schönste in der Hinsicht, dass viele Menschen Gutes tun wollen und sich damit bemerkbar machen können. Zum Beispiel, indem sie sich beim Gesundheitspersonal bedanken wollen, oder dass Leute Unterstützungsaktionen für Künstler*innen einleiten, die jetzt riesige Probleme haben.

Wo sehen Sie das Schlechteste?

Das Schlechteste im Sinne davon, dass sehr viel Falsches kursiert. Panikmache und wilde Gerüchte. Emotionalisierende Posts haben oft eine höhere Viralität. Das können Posts sein, die Freude bereiten, aber auch solche, die Angst auslösen. Soziale Medien sind ambivalent, es wäre falsch zu sagen, dass sie nur Gutes oder nur Schlechtes bringen.

«Das Problem bei Falschnachrichten auf WhatsApp ist, dass Menschen diese von Freund*innen bekommen und darum das Vertrauen in den Absender grösser ist.»
Ingrid Brodnig

Das Bedürfnis nach Austausch und Informationen stieg sprunghaft an. Die klassischen Medien konnten bislang noch wenig Kapital daraus schlagen. Es gibt, im Gegenteil, Kritik daran, wenn Zeitungen ausgerechnet jetzt ihre Artikel hinter der Paywall aufschalten. Wie ist das bei den Netzwerken: Profitieren die jetzt konkret und in harter Währung durch den gestiegenen Traffic?

Der allgemeine Inserate-Rückgang trifft auch Facebook. Es ist zu früh abzuschätzen, wie sich der weltweite Werbemarkt in den nächsten Monaten entwickelt – aber grundsätzlich können soziale Medien derzeit auf hohe Nutzungszahlen verweisen, was Werbekunden anlocken kann.

Wer enorm von der Krise zu profitieren scheint, ist Amazon, wo viele Menschen online ihre Waren bestellen. Nur eine Zahl: Seit Beginn des Jahres ist das Vermögen von Amazon-Chef Bezos um 23,6 Milliarden Dollar gestiegen, sein Vermögen umfasst jetzt 138 Miilarden Dollar, besagt der Bloomberg Billionaires Index.

Sie haben vorhin die um 50 Prozent gestiegene Nutzer*innenfrequenz auf Facebook erwähnt. Lässt sich nachvollziehen, unter welchen Bevölkerungsgruppen die Facebook-Nutzung am meisten zulegt?

Diese 50 Prozent sind eine Zahl, die Facebook selbst bekannt gab und das wird nicht bis ins letzte Detail aufgeschlüsselt. Was wir aber sehen, ist, dass die Mediennutzung insgesamt gestiegen ist. Und wir wissen aus einer Untersuchung der Universität Wien, dass Menschen, die zur Risikogruppe gehören, darunter auch ältere Leute, ihre Informationen tendenziell öfter über Whatsapp beziehen als andere. 

Das ist insofern eine riskante Informationsquelle, weil man sieht, dass gerade über Whatsapp Kettenbriefe und sehr viele wilde Gerüchte kursieren. Und gerade wenn Menschen, die ein erhöhtes Risiko haben, die älter sind und möglichst wenig rausgehen sollten, falsche Behauptungen erhalten und die Gefahr nicht richtig einschätzen, dann ist das unbehaglich.

Was wissen wir ausserdem über das Nutzungsverhalten der Menschen?

Eine aktuelle, repräsentative Studie des Reuters Instituts der Universität Oxford untersucht das Nutzungsverhalten und den Nachrichtenkonsum in dieser Krise. Die Resultate zeigen zum Beispiel, dass Menschen mit niedrigem formalen Bildungsniveau deutlich seltener auf traditionelle Nachrichtenangebote zurückgreifen. Sie verlassen sich eher auf soziale Medien und Messenger für Nachrichten und Informationen über das Coronavirus.

Was unternimmt Whatsapp gegen die Verbreitung von Falschnachrichten?

WhatsApp will erschweren, dass Kettennachrichten im Eiltempo die Runde machen: Ist eine Nachricht schon vielfach weitergeleitet worden, kann man sie nur noch an einen einzelnen Chat weiterleiten. Kurz gesagt: Die Verbreitung soll etwas gedämmt werden.

Das Problem bei diesen privaten Chats ist, dass Menschen die Nachrichten von Bekannten oder Freund*innen bekommen und darum das Vertrauen in den Absender möglicherweise noch grösser ist als gegenüber eines Posts auf Facebook. Nur kann es gut sein, dass der Absender eine Nachricht mit zweifelhaftem Inhalt selber zugeschickt bekam und den Inhalt nicht überprüft hat.

Das heisst WhatsApp reagiert mit konkreten technischen Massnahmen?

Ja. Wenn eine Nachricht mehr als fünf Mal weitergeleitet wurde, wird diese schon länger mit einem Doppelpfeil-Symbol markiert, um Nutzer*innen anzuzeigen, dass die Nachricht nicht von einem persönlichen Kontakt stammt. In einer Mitteilung schreibt Facebook, dem WhatsApp gehört, dass diese Änderungen zu einem weltweiten Rückgang von weitergeleiteten Nachrichten um 25 Prozent geführt habe. Es ist durchaus sinnvoll, dass Facebook hier auch technische Massnahmen ergreift.

«Wenn Bekannte Unsinn posten, ist mein Tipp: Sich vor allem nicht darüber lustig zu machen.»
Ingrid Brodnig

Wie können User*innen am besten reagieren, wenn sie problematischen Inhalt auf Facebook sehen? Sollen sie den Content einfach über die «Melde-Funktion» markieren, oder den Absender in den Kommentaren darauf ansprechen?

Grundsätzlich ist immer die Frage, wer Absender*in eines problematischen Posts ist. Mir erzählen Leute, dass in ihrer Familie oder im Bekanntenkreis wilde Theorien via Messengerdienste herumgereicht werden. Manche «entfreunden» die Personen dann, oder verlassen einfach die Gruppe. Mein Tipp wäre, gerade wenn das im eigenen Umfeld passiert, mit den Leuten zu reden. Denn wenn das ein*e Bekannt*e von Ihnen ist, haben Sie eine höhere Chance, die Person argumentativ zu erreichen. Es ist dann sinnvoll, einen Faktencheck zu schicken – und vor allem, sich nicht darüber lustig zu machen.

Und wenn man die Person nicht kennt, die Unsinn postet?

Wenn es sich um den Post eines bereits bekannten Verschwörungstheoretikers oder um dubiose Akteure handelt: Die brauchen diese Reichweite, davon leben sie. Wenn Sie dort posten, ist die Gefahr, dass Sie mit ihrer Interaktion dem helfen, noch sichtbarer zu werden.

Das heisst, auf einer sehr unseriösen Seite würde ich ihnen nicht empfehlen zu posten, sondern einen Screenshot der falschen Aussage zu machen. Sie können dann diesen Screenshot mit Richtigstellung posten oder einfach schreiben: Achtung, es kursiert gerade diese und diese Behauptung, hier gibt es einen Faktencheck dazu. Wichtig ist bei der Aufklärung, nur die richtigen Informationen anzusprechen und nicht die falschen zu wiederholen, auch wenn Sie sie richtigstellen wollen.

Der Linguist George Lakoff empfiehlt die Technik eines «Truth Sandwiches»: Man erklärt, was richtig ist. Dann geht man kurz auf die falsche Aussage ein. Und man endet wieder mit etwas Richtigem. Das Ziel ist, dass Fakten sichtbarer sein sollen als die nachweisbar falsche Behauptung.

Eine Eigenart dieser Corona-Krise ist, dass sie sehr viele unbekannte Faktoren hat und sich damit für Spekulationen besonders gut eignet. Kommt das nicht präzise den Netzwerken und ihren Mechanismen zugute, die eben auf Kontroverse und entsprechende Interaktion gepolt sind?

Was man auf jeden Fall gut beobachten kann, ist, dass die Unsicherheit jenen Akteur*innen hilft, die Gewissheiten versprechen. Wer eine Gewissheit verspricht und das verbreitet, woran die Menschen eh schon glauben wollen, der wird in unsicheren Zeiten Erfolg haben. Wir Menschen neigen zum «Confirmation Bias»: Wir glauben eher, was uns gut ins Konzept passt.

Glauben Sie, Facebook und andere soziale Netzwerke haben so etwas wie ein soziales Gewissen?

Ich finde die Frage immer seltsam, ob diese Plattformen gewissenhaft oder gut oder böse sind. Ich halte diese Moralisierung nicht unbedingt für die passende Rhetorik. Mein Eindruck ist, bei der Corona-Krise können die Digitalunternehmen auch deshalb oft streng und entschieden vorgehen, weil es um wissenschaftliche Fragen der Medizin geht.

Die schwierige Frage ist aber auf lange Sicht, wie zum Beispiel Facebook damit umgeht, wenn wieder gegen Minderheiten gehetzt wird oder politische Schlammschlachten stattfinden.

Dieses strengere Eingreifen, das jetzt bei Gesundheitsthemen stattfindet, werden die Plattformen das auch in Zukunft bei anderen politischen Themen anwenden? Ich denke, man sollte diese grossen Unternehmen nicht vermenschlichen. Das sind ja nicht Lebewesen, sondern das sind Unternehmen, die nach wirtschaftlichen Interessen vorgehen.

Ingrid Brodnig ist Autorin und Journalistin aus Österreich. In ihrer Arbeit beschäftigt sie sich mit den Auswirkungen der Digitalisierung auf die Gesellschaft, sie hat mehrere Bücher zum Thema veröffentlicht. Zuletzt erschienen: «Macht im Netz. Warum wir für ein gerechteres Internet kämpfen müssen.»

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Themeninputs und Hinweise gerne an [email protected] . Twitter: @dan_faulhaber


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Bei Bajour als: Reporter und Redaktor

Hier weil: da habe ich die Freiheit, Neues anzupacken und unkonventionell zu arbeiten, ohne über sieben Hierarchiehürden zu springen. Das ist toll. Gleichzeitig macht diese Freiheit natürlich Angst, und das wiederum schweisst zusammen. Darum bin ich auch hier. Wegen des Teams.

Davor: Bei der TagesWoche und davor lange Jahre an der Uni mit Germanistik & Geschichte.

Kann: Ausschlafen.

Kann nicht: Kommas.

Liebt an Basel: Die Dreirosenbrücke. Das Schaufenster des Computer + Softwareshops an der Feldbergstrasse Ecke Klybeckstrasse. Das St. Johann. Dart spielen in der Nordtangente. Dass Deutschland und Frankreich nebenan sind.

Vermisst in Basel: Unfertigkeit. Alles muss hier immer sofort eingezäunt und befriedet und geputzt werden. Das nervt. Basel hat in vielem eine Fallschirmkultur aus der Hölle. Absichern bis der Gurt spannt. Ich bin schon oft aus Versehen eingeschlafen.

Interessensbindung: Vereinsmitglied beim SC Rauchlachs.

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