Heiliger Aristoteles, sie haben es niemals überprüft!
Kolumnistin Cathérine Miville überprüft nicht nur die Anzahl der Mässglöggli, sondern auch Zitate. Und sie fragt sich, warum wir Realitäten so wahrnehmen, wie wir sie zu kennen glauben.
Heute geht auch auf dem Petersplatz d Mäss zu Ende. Und nein, ich habe noch keine Antwort auf die in der letzten Ma-ville-Kolumne offen gebliebene Frage gefunden. Aber es ist ja auch nicht so wichtig, warum wir vom Mässglöggli reden, wenn es doch zwei sind.
Was mich aber beschäftigt: Beim Ylüte waren auch Besucher*innen auf dem Martinskirchplatz stehend überzeugt, dass eine Glocke läutet…bis sie, durch meine Frage angeregt, genau hinschauten und die zweite, die etwas von der ersten abgedeckt wird, selber entdeckten und sich dann doch sehr wunderten, dass ihnen das noch nie aufgefallen ist. Wir nehmen Realitäten so wahr, wie wir sie zu kennen glauben.
Cathérine Miville ist in Basel geboren und aufgewachsen. Sie unternahm ihre ersten Karriereschritte am Theater Basel, später lebte sie lange Zeit in Deutschland, führte an verschiedenen Häusern und bei Dieter Hildebrandts Sendung «Scheibenwischer» Regie und leitete zuletzt als Intendantin das Stadttheater Giessen. Als vor drei Jahren Mivilles Vater, der Basler SP alt Ständerat Carl Miville-Seiler, starb, beschloss sie, nach Beendigung ihrer Tätigkeit als Intendantin, wieder in Basel zu leben. In ihrer neuen Kolumne «Ma ville» wirft die 70-Jährige regelmässig einen genauen Blick auf das kulturelle Leben in der Stadt und reflektiert, wie sich Basel entwickelt hat.
Beim Uslüte am Samstag fiel mir Turmzimmer der Martinskirche dazu ein Satz von Brecht wieder ein, der mich schwer beeindruckte, als ich ihn mit 13 Jahren in Zürich im Schauspielhaus erstmals gehört habe: Galileo und sein Schüler unterhalten sich in dem Theaterstück über eine These von Aristoteles, die davon ausgeht, dass nur Elemente, die leichter sind als Wasser, schwimmen können. Galileo legt zur Überprüfung eine Eisen-Nadel auf die Wasseroberfläche und stellt fest: «Sie schwimmt! Heiliger Aristoteles, sie haben ihn niemals überprüft!» Klar, über Jahrhunderte galt: Wenn Aristoteles das sagt, wird es schon so sein. Oder eben nicht.
Während in Basel Mässglöggli lüte, läutete der Ausgang der Wahl in Amerika eine in mehrfacher Hinsicht neue Zeit ein. Viele Auswirkungen müssen sich erst noch konkret zeigen, aber eines ist für mich gewiss. Wir werden uns künftig noch weniger verlassen können auf alles, was wir lesen, hören und sehen. Unsere Sorgfalt im Umgang mit Infos jeder Art kann gar nicht gross genug sein – ganz egal wie, von wem und auf welchem Weg sie kommuniziert werden.
Der Asche-Feuer-Gedanke
Dazu eine Geschichte: Seit gut 20 Jahren begleitet mich der Satz: «Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers.» Wir hatten ihn als Zitat von Gustav Mahler der ersten Spielzeit meiner Intendanz in Giessen gesetzt. Und nun bin ich zufällig in einem Bericht zu Erasmus von Rotterdam wieder über diese Formulierung gestolpert, allerdings mit dem Gelehrten Rabanus Maurus als Urheber, wodurch der Gedanke auf einen Schlag um weit mehr als 1000 Jahre alterte. Ist er dadurch ärmer?
Unterstützt von Dr. Google und Prof. Wiki konnte ich inzwischen auch noch mühelos Quellen finden, die Konfuzius, Benjamin Franklin, Theodor Fontane, Friedrich der Grosse, Ricarda Huch, Theodor Heuss, Papst Johannes XXIII, George Bernhard Shaw oder John Denham als Urheber*innen für den Asche-Feuer-Gedanken nannten.
«Wir haben die fragwürdige Mahler-Zuschreibung nicht überprüft und ich bin wirklich nicht stolz darauf.»
Die fragwürdige Mahler-Zuschreibung ist all den vielen Professor*innen, Politiker*innen, Festredner*innen, die das Zitat gerade auch in den letzten Jahren so gerne und häufig verwendet haben, nicht aufgefallen – genauso wenig wie uns damals am Start meiner Intendanz. Wir haben es nicht überprüft und ich bin wirklich nicht stolz darauf, zumal ich inzwischen auch noch eine Recherche aus Österreich kenne, die glaubwürdig zum Ergebnis kommt: Das Kuckuck-Zitat ist weder in den Werken oder Briefen von Rabanus Maurus noch bei Gustav Mahler oder einem der vielen anderen Pseudo-Urheber*innen zu finden.
Nachzuweisen ist der Gedanke jedoch bei einem der besten parlamentarischen Redner Frankreichs, dem Sozialisten Jean Jaurès, dem es gelang, in Frankreich unterschiedliche linke Strömungen zu einer Partei zu vereinen.
Grossartige Parlamentsrede
Vier Jahre bevor Jaurès von einem jungen Rechtsextremen am 30. Juli 1914 in Paris ermordet wurde, reagierte er mit einer grossartigen Parlaments-Rede auf die Anfeindungen des antisemitischen, rechtsnationalen Schriftstellers und Politikers Maurice Barrès:
«Herr Barrès fordert uns öfter auf, in die Vergangenheit zurückzugehen; für die, die nicht mehr sind und die, die zur Unbeweglichkeit erstarrt, gleichsam heilig geworden sind, hegt er eine Art pietätvolle Verehrung. Nun, meine Herren, auch wir verehren die Vergangenheit. Aber man ehrt und achtet sie nicht wirklich, indem man sich zu den verloschenen Jahrhunderten zurückwendet und eine lange Kette von Phantomen betrachtet: die richtige Art, die Vergangenheit zu betrachten, ist, das Werk der lebendigen Kräfte, die in der Vergangenheit gewirkt haben, in die Zukunft weiterzuführen. (..) Nicht vergeblich hat die Flamme im Herd so vieler menschlicher Generationen gebrannt und gefunkelt; aber wir, die wir nicht stillstehen, die wir für ein neues Ideal kämpfen, wir sind die wahren Erben der Herde unserer Vorfahren: wir haben daraus ihre Flamme geholt, ihr habt nur die Asche bewahrt.»
«Also – überprüfen wir, was wir zu wissen glauben.»
Was für eine Ansprache – im Vergleich zu heutigen Debatten.
Und wie kam nun Mahler zu der Ehre dieses Zitats? Erstmalig wird es ihm wohl irrtümlich durch den legendären Burgtheater-Direktor Klaus Bachler zugeschrieben. Mahler schien ja als Urheber auch schlüssig, zumal sein Name schon mit einem anderen Satz über Tradition in Verbindung stand: «Was Ihr Theaterleute eure Tradition nennt, das ist eure Bequemlichkeit und Schlamperei.»
Aufmerksam bleiben
Seine spätere Weltkarriere verdankt der Satz allerdings wohl hauptsächlich der allgemeinen Wurstigkeit im Umgang mit Zitaten. Nach meiner Einschätzung aber auch der Tatsache, dass bei feierlichen Anlässen lieber Gustav Mahler zitiert wird als der Sozialist Jean Jaurès. Wobei ich eingestehen muss, bei uns war es damals leider einfach Schlamperei.
Vor 20 Jahren waren wir sicher auch noch gutgläubiger. Inzwischen haben uns nicht nur ferngesteuerte Social-Media-Wahlkämpfe schlauer, aufmerksamer und wacher gemacht. Also – überprüfen wir, was wir zu wissen glauben, sogar s Mässglöggli im Martinsturm.