Mindestlohn? Das beste Konjunkturprogramm!
Rein sozial gesehen, sind 21 Franken unsozial. Aber auch aus ökonomischer Sicht reichen selbst 23 Franken bei Weitem nicht. Mehr Geld ist nötig, dann wird auch mehr konsumiert.
Der soziale Aspekt
Sprechen wir über den Mindestlohn, müssen wir zuerst auf den sozialen Aspekt eingehen. Also auf die Frage, wie wir damit umgehen, dass die Mitmenschen, die uns an der Ladenkasse bedienen, die uns die Pizza ins Haus bringen, die Haare schneiden, oder unsere Wohnung putzen, deutlich weniger verdienen als wir. Darauf, dass wir sie vielleicht nicht auf der Skipiste, oder in unserer Lieblingsbeiz treffen, weil ihnen diese Vergnügen zu teuer sind. Darauf, dass ihre Kinder nicht mit unseren zur Schule gehen, weil auch Kinder für sie ein zu teurer Luxus sind.
Letztlich ist es auch die Frage, ob wir in einer 2- oder 3-Klassengesellschaft leben wollen. Und ob wir – weil wir eben dies vermeiden wollen – bereit sind, für gewisse Dienstleistungen etwas mehr zu bezahlen. Denn der Hungerlohn der*s einen ist das 3-Sterne-Menü der*s anderen. There is no free lunch, wie die Ökonom*innen zu sagen pflegen.
«Reinigungskräfte, Pizzakurier*innen, Verkäufer*innen etc. arbeiten meist auf Abruf und liegen oft deutlich unter dem durchschnittlichen Arbeitspensum.»
Doch wie viel darf es denn sein?
Die Expert*innen der Basler Regierung haben dazu auf der Grundlage eines Bundesgerichtsurteils eine Expertise erstellt. Zitat: «Errechnet wurde schliesslich ein Bruttojahreslohn von 45’000 Franken, was einen Stundenlohn von knapp 21 Franken ergibt.» Ok. 45'000 Stunden geteilt durch 21 ergeben 2143 Jahresstunden. Ein durchschnittliches Arbeitspensum in der Schweiz umfasst aber nur 1590 Stunden.
Auf Abruf für die Bessergestellten
Wenn überhaupt. Denn Reinigungskräfte, Pizzakurier*innen, Verkäufer*innen etc. arbeiten meist auf Abruf und liegen oft deutlich unter diesem Schnitt. Denn diese Kategorie von Arbeitskräften wird flexibel eingesetzt – immer genau dann, wenn wir Bessergestellten mit den Fingern schnippen und ihre Dienste beanspruchen. Die typische Reinigungskraft wird morgens und abends je zwei bis drei Stunden gebraucht. Doppelter Arbeitsweg für ein halbes Pensum.
Wenn also 45'000 Franken das Existenzminimum und 1590 Jahresstunden halbwegs realistische Grössen sind, dann kommt Adam Riese schon mal auf einen Stundenlohn von 28.30 Franken. Sieht auf den ersten Blick nach viel aus, ist aber nur knapp die Hälfte dessen, was die Schweizer*innen, die nicht im Tieflohnsektor arbeiten, im Schnitt pro Stunde kassieren. Im reichen Basel sind es gemäss Amt für Statistik (BfS) noch ein paar Prozente mehr.
Werfen wir aber noch einen Blick auf die 45'000 bzw. 3750 Franken pro Monat. Auch wenn davon bloss ein Einpersonenhaushalt leben muss, gehört man damit gemäss der schweizerischen Statistik der Haushaltseinkommen zum ärmsten Fünftel, kann sich punkto Kleider und Schuhen, Reisen und Verkehr sowie Unterhaltung nur gut halb so viel leisten wie der Durchschnitt.
Für Nahrungsmittel und Getränke liegen nur zehn Franken pro Tag drin. Da muss man Bio liegen lassen. Und trotz diesen Einschränkungen macht man selbst dann noch monatlich gut 700 Franken miese, wenn man das Glück hat, nur 1000 Franken für die Miete bezahlen zu müssen. So sieht das aus.
Das Zwischenfazit:
Auch ein Mindestlohn von 28 Franken bietet keinen Schutz vor dem Abgleiten in eine unschweizerische Klassengesellschaft. Die Experten sollten noch mal über die Bücher.
Der ökonomische Aspekt
Wenden wir uns nun den ökonomischen Aspekten zu. Das Gegenargument, das gegen höhere Löhne so sicher kommt, wie das Amen in der Kirche, sind die Jobs, die damit verloren gehen. Das Argument zieht vor allem bei den Leuten, die glauben, dass es die Aufgabe der Wirtschaft sei, möglichst viele Jobs zu schaffen. Die Kirchen dieser Glaubensrichtung sind leider randvoll. «Jobs, Jobs, Jobs», sagte schon unser vormaliger Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann.
Doch warum eigentlich? Besteht die Aufgabe der Wirtschaft nicht vielmehr darin, unsere Bedürfnisse zu befriedigen? Und soll der «knallharte Wettbewerb», der Kampf um immer mehr Effizienz, nicht dazu führen, dass uns dies mit möglichst wenig (Arbeits-)Aufwand gelingt? Seit 1970 ist die durchschnittliche Arbeitszeit um gut 20 Prozent geschrumpft und das reale BIP pro Kopf ist dennoch um 50 Prozent gewachsen.
Sinkende Arbeitszeiten sind die DNA unserer Marktwirtschaft. Wer möglichst viel Arbeit will, muss mit dem Vorwurf leben, ein*e Systemveränder*in zu sein.
«Ein Volkseinkommen generiert mehr Konsum und damit Jobs, wenn es gleichmässiger verteilt ist.»
Wer nun aber doch an seinem Job-Job-Job-Glauben festhält, findet Trost in der berechtigten Hoffnung, dass ein höherer Mindestlohn mehr Jobs schafft als er vernichtet. Denn: Ein Volkseinkommen generiert mehr Konsum und damit Jobs, wenn es gleichmässiger verteilt ist. Warum?
Nehmen wir das Beispiel der Schweiz: Die ärmsten zwei Fünftel der Haushalte verdienen gemäss BfS im Schnitt nur 4750 Franken und können davon keinen Rappen sparen. Ihr Einkommen fliesst also voll in den Konsum und schafft damit Jobs.
Superreiche als Konsumbremse
Das reichste Fünftel kassiert im Schnitt pro Monat 20'000 Franken, spart davon rund einen Viertel und entzieht damit der Wirtschaft monatlich 5'000 Franken an Kaufkraft. Schweizweit läppert sich diese Konsumbremse auf jährlich rund 60 Milliarden Franken zusammen. Könnten wir diesen Mangel an interner Nachfrage nicht immer wieder mit Exportüberschüssen kompensieren, wäre die Arbeitslosenquote mindestens doppelt so hoch.
Die Schweiz hat also auch aus rein ökonomischen Gründen allen Anlass, die unteren Löhne anzuheben und so den Konsum anzukurbeln. Für Basel-Stadt gilt das noch viel mehr, weil hier die Einkommen noch ungleicher verteilt sind. Das Verhältnis vom reichsten zum ärmsten Fünftel beträgt hier 5,6 zu 1 gegenüber 5,2 zu 1 im Rest der Schweiz. Nach Zug, Nidwalden und Genf ist Basel der ungleichste Kanton.
Aber ein höherer Mindestlohn schafft nicht nur (vermutlich) mehr, sondern vor allem auch bessere Jobs: Mal angenommen, der Mindestlohn wird von rund 20 auf 28 Franken erhöht, also um 40 Prozent. Damit würden etliche Produkte und Dienstleistungen deutlich teurer. Am extremsten würde es wohl die Kurierdienste treffen. Müssten diese endlich anständige Löhne bezahlen, würden in Zukunft sehr viel mehr Leute ihre Pizza selber backen und die Klamotten nicht mehr über Zalando bestellen.
«Plakativ gesagt, würde die Wirtschaft dank dem Mindestlohn weniger Kaviar und dafür mehr Brot produzieren.»
Stark betroffen wären auch die Gastronomie und das Hotelgewerbe, wo die Lohnanteile bei 37 und 33 Prozent des Umsatzes liegen. In diesen Branchen würden die Preise wohl um 10 bis 15 Prozent steigen, was zu Umsatzverlusten – und damit zu einem Abbau von Stellen – führen dürfte. Das gilt wohl auch für gewisse persönliche Dienstleistungen. Manch eine*r würde vielleicht noch alle vier statt alle drei Wochen zum Friseur oder zu Pedicure gehen.
Mehr Hunger stillen statt Gelüste befriedigen
Auf der anderen Seite würden alle, die von einer Lohnerhöhung profitieren, deutlich mehr ausgeben. Und zwar dort, wo sie bisher sparen mussten, also bei den Ausgaben für Unterhaltung, Reisen, Verkehr, Restaurants und auch bei ganz elementaren Bedürfnissen wie gesund essen, medizinische Dienstleistungen etc. Plakativ gesagt, würde die Wirtschaft damit weniger Kaviar und dafür mehr Brot produzieren. Sie würde mehr Hunger stillen statt Gelüste zu befriedigen, die sie zuvor mit viel Werbeaufwand selbst geschaffen hat. Keine schlechte Sache, oder?
Klar, die reicheren 80 Prozent der Bevölkerung müssten wohl etwa auf 1 bis 2 Prozent ihrer Kaufkraft verzichten, aber für die meisten heisst das nicht, dass sie den Gürtel enger schnallen müssen, sondern bloss, dass sie weniger sparen würden. Dafür kaufen sie sich eine Versicherungsprämie gegen das zunehmend deprimierendere Gefühl, allmählich in eine Zwei-Klassen-Gesellschaft abzuleiten.
Schocktherapien funktionieren nicht. Als erster Schritt ist deshalb ein Mindestlohn von 23 Franken in Ordnung. Aber wir müssen weiter denken. «Expertisen», in denen sich Fachleute hinter Paragraphen verschanzen, um auszurechnen, wie viel die da unten brauchen, um gerade noch zu überleben, sind der falsche Weg. Vielmehr braucht es jetzt ein Gremium von klugen Mitbürger*innen, die wissen, dass der Mindestlohn eines der wichtigsten Instrumente zur Gestaltung unserer Gesellschaft ist. In ihrem Bericht sollten die Mitbürger*innen bitte auch offen legen, zu welchen Stundensätzen sie gearbeitet haben.
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Werner Vontobel ist gebürtiger Basler und einer der bekanntesten Wirtschaftsjournalisten der Schweiz. Auf Bajour bringt er sich regelmässig zu volkswirtschaftlichen Themen, konjunkturpolitischen Grundsatzdebatten und ökonomischen Sinnfragen ein.