Die Moralkeule in der Steinenvorstadt
Covid-19 hat uns wieder auf den sozialen Abstand getrimmt, den unsere Grosseltern anerzogen bekommen haben. Lange hält der Mensch das nicht aus. Ein Kommentar
Das Corona-Virus scheint uns alle auf eine rasend schnelle Zeitreise in die Vergangenheit zu nehmen. So empfinde ich es zumindest. Die sechs Wochen Lockdown waren wie ein ewiger autofreier Sonntag mit Tanzverbot in den muffigsten 70er-Jahren meiner fernen Kindheit. Reduce to the max, bzw. auf die ganz enge Zweierkiste.
Nur Blutsverwandte durften zusammen herumlaufen, und wer zu fünft am Rhein sass, konnte damit rechnen, als unverantwortlicher Gesellschaftsfeind von einem Leser*innenreporter gemeldet zu werden. In den 70ern brauchte es mindestens einen Bankraub, damit man in Aktenzeichen XY kam.
Einkaufen ist konjunkturbedingte Bürger*innenpflicht
Immerhin ist seit ein paar Wochen die gesellschaftlichen Öffnung per Dekret und im Eiltempo wieder in Gang. Einkaufen ist seither konjunkturbedingte Bürgerpflicht und im Baumarkt gibts wieder Dichtestress wie einst im Shoppingcenter. Doch jeder Öffnungsschritt ist von einer Wertedebatte begleitet. Ist das wirklich nötig? Schadet uns das?
Nur in drei Punkten besteht Einigkeit:
- Daheimbleiben für die Alten
- Pendeln für die Arbeit
- Shoppen für die Wirtschaft
Es geht hier nicht darum, die Gefahren von Covid-19 zu verharmlosen oder zu bagatellisieren. Im Gegenteil. Aber es geht auch nicht, sozialen Austausch zum überflüssigen Luxusgut zu deklarieren.
Derzeit sind wir in der Corona-Zeitmaschine gefühlt irgendwo in den 90ern angelangt. Da war auch Rezession und die Arbeit hatte Vorrang. Shopping läuft wieder einigermassen und die Beizen sind geöffnet bis 24 Uhr.
Das hätte schon damals sozial reichen sollen. Tat es aber nicht. Die strikte Polizeistunde und die Auflagen der Gewerbepolizei führten zu illegalen Bars und einem Schatten-Nachtleben, das irgendwann mal so rege war, dass man es legalisieren musste. Die politischen Zuchtmeister kapitulierten vor dem Bedürfnis nach prallem Leben und gaben die Trottoirs und die Nächte frei. Das klamme Stadtleben wurde mediterran.
Zuviel los in der Steinenvorstadt
Es geht hier nicht darum, die Gefahren von Covid-19 zu verharmlosen. Im Gegenteil. Aber es geht auch nicht, sozialen Austausch zum überflüssigen Luxusgut zu deklarieren. Das Virus hat uns wieder auf den sozialen Abstand getrimmt, den unsere Grosseltern anerzogen bekommen haben. Aber ewig hält das kein normaler Mensch mehr aus. An diese Normalität tasten wir uns derzeit zurück. Mal gehen wir dabei zu weit, mal muss zurück korrigiert werden. Ob im Baumarkt oder in den Beizen – mit Moral hat das nichts zu tun.
Am letzten Samstag war zu viel los in der Steinenvorstadt. Aber am nächstens Samstag werden es alle selber besser wissen. Und wenn nicht, wird die Polizei entsprechend vorbereitet sein, die Weisungen herausgeben und durchsetzen. Sollten die Ansteckungsraten wieder steigen, werden die Massnahmen verschärft. Genau wie im Pendlerverkehr oder beim Einkaufen.
Es ist nun mal so: Es gibt derzeit keine starren Rezepte und festgeschriebenen Anweisungen. Die Umstände ändern sich laufend. Gefragt ist Vernunft und Agilität, rationales Handeln und keine moralinsaure Empörung. Es gibt keinen Status Quo, den man – der Tradition verpflichtet – verteidigen muss und kann. Nur Try und möglichst wenig Error.
Die Polizei muss diese laufenden Veränderungen letztlich steuern, begleiten und durchsetzen. Und die hat in Basel bis jetzt wesentlich mehr Augenmass und Fingerspitzengefühl bewiesen als diverse empörte Politiker*innen, Wut- und Gutbürger*innen, die bei jedem Verstoss gegen Baumarkt-Schlangen, Demo-Auflagen oder Beizenabständen ein knallhartes Durchgreifen im Interesse der Volksgesundheit fordern. FDP-Sicherheitsdirektor Baschi Dürr sagte nach den Partybildern aus der Steinenvorstadt zu Recht dem «SRF»: «Die Polizei ist bei uns keine Besatzungsmacht und das wird sie auch in Covid-19-Zeiten nicht».
Wenn man das jeweilige Gejaule in den sozialen Medien mitverfolgt, scheint es gerade für viele wertkonservative Zeitgenossen ein nackter Graus zu sein, die gesellschaftliche Öffnung und die Aufhebung von Verboten im Eiltempo noch einmal durchlaufen zu müssen. Verhindern lässt sie sich zum Glück nicht.