«Apokalyptisch ist das einzige Wort, das der Realität nahekommt»

Die humanitäre Katastrophe in Gaza geschieht vor unser aller Augen. Falestin Naïli, Professorin für Nahoststudien an der Uni Basel, ordnet die Situation ein und sieht die derzeitige Hungersnot als eine Weiterentwicklung der israelischen Kontrolle der Lebensmittelimporte nach Gaza.

PALESTINIAN TERRITORIES, GAZA - JULY 22, 2025: People carry sacks after an air strike on a warehouse. Hasan Alzaanin/TASS
Falestin Naïli sagt, die Bevölkerung in Gaza sei zum Verhungern verdammt. (Bild: KEYSTONE/TASS/Hasan Alzaanin)

Haben Sie persönlichen Kontakt zu Menschen in Gaza, und wie schildern diese ihre Lage?

Es ist nicht nötig, persönliche Kontakte in Gaza zu haben, um Augenzeugenberichte zu hören: Palästinensische Journalist*innen und Mitarbeiter*innen von internationalen Organisationen berichten seit Monaten über die ständig dramatischere Situation. Sie selbst essen mittlerweile nur jeden zweiten Tag eine Mahlzeit, wenn überhaupt. Täglich sterben mittlerweile Menschen aufgrund des Hungers. Diejenigen, die noch kräftig genug sind, um mehrere Kilometer zu den sogenannten humanitären Hilfsstationen der Gaza Humanitarian Foundation zu laufen, gehen damit das Risiko ein, dort von israelischen Soldat*innen, amerikanischen Söldnern oder der mit Israel verbündeten kriminellen Bande von Abu Shabab erschossen oder verletzt zu werden. Laut Uno sind mehr als 1300 Palästinenser*innen in den letzten Wochen getötet worden, während sie sich um Hilfsgüter bemühten.

Falestin Naili
Zur Person

Falestin Naïli ist Professorin für Nahoststudien an der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel. Die Historikerin ist auf die Sozialgeschichte des späten Osmanischen Reiches und des Mandatsgebiets Palästina und Jordanien spezialisiert. Sie forscht zu Siedlungs- und Missionsprojekten in Palästina, Zwangsmigration im heutigen Nahen Osten, frühen Ethnografien Palästinas sowie zu Fragen des kollektiven Gedächtnisses und des Kulturerbes in diesen Kontexten.

Wie würden Sie selbst die aktuelle Situation dort beschreiben?

Ich kann die Situation nicht besser beschreiben als andere Aussenstehende, da Israel jeglichen Zugang nach Gaza verbietet, einschliesslich für internationale Korrespondent*innen. Aber die Bilder und Berichte, die wir alle sehen und lesen können, sind grausam. Apokalyptisch ist das einzige Wort, das der Realität nahekommt. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International, Human Rights Watch und jetzt auch B’Tselem und Physicians for Human Rights – zwei israelische Organisationen – sprechen von Völkermord. Mehr als 60’000 Menschen sind offiziell getötet worden, davon mindestens 18’500 Kinder.

Die Bevölkerung überlebt jetzt auf zwölf Prozent des Territoriums des sogenannten Gazastreifens. Als die bereits bestehende Blockade von Israel Anfang März 2025 noch weiter verschärft worden ist, wurde es nur noch der von den USA finanzierten Gaza Humanitarian Foundation erlaubt, Hilfsgüter (und zwar nur Lebensmittel) zu verteilen. Im Gegenteil zu den etablierten humanitären Akteur*innen wie UNRWA, OCHA, IRKR und WFP hält sich diese dubiose Stiftung aber nicht an die Grundprinzipien humanitärer Arbeit und hat stattdessen militarisierte Stationen für die Hilfsgüterlieferung geschaffen. Der Journalist Rami Abu Jamous spricht von «Hunger Games».

Wie unterscheidet sich die aktuelle Krise von früheren Konflikten?

Krise ist meines Erachtens ein Euphemismus. Was derzeit in Gaza geschieht, sind laut allen Gremien der Uno und laut Menschenrechtsorganisationen schwerwiegende Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Wie schon erwähnt, trifft der Begriff Völkermord mittlerweile auf grossen Konsens. Aber natürlich ist die derzeitige Katastrophe die Weiterentwicklung einer etablierten israelischen Politik gegen die Bevölkerung von Gaza. Wenn wir nur im derzeitigen Jahrhundert ansetzen, dann müssen wir beachten, dass Gaza seit 2007 unter einer völligen israelischen Blockade ist: Alle Grenzen – Land, See und Luftraum – sind geschlossen, wobei die Landesgrenze im Süden auch von Ägypten bewacht wird.

«Die Bevölkerung von Gaza ist heute zum Verhungern verdammt.»
Falestin Naïli, Professorin für Nahoststudien an der Uni Basel

Also wurde die Einfuhr von Lebensmitteln bereits vorher kontrolliert …

Die derzeitige Hungersnot ist eine drastische Weiterentwicklung der israelischen Kontrolle der Lebensmittelimporte nach Gaza. Bereits 2008 erarbeitete die israelische Militärverwaltung eine Liste, in der der Grundbedarf für die Bevölkerung in Gaza abgeschätzt wurde. Sie definierte den durchschnittlichen Tagesbedarf von 2279 kcal pro Tag und Person, das heisst etwas höher als der Richtwert von 2100 kcal/Tag der Weltgesundheitsorganisation. Die Bevölkerung von Gaza sollte damals also nur knapp am Leben bleiben; heute ist sie zum Verhungern verdammt, denn Landwirtschaft ist in dem zerstörten und von den massiven Bombardierungen verseuchtem Gebiet unmöglich geworden und die Fischerei von der israelischen Armee verboten worden.

Es sterben derzeit immer mehr Menschen an Unterernährung. Wie schätzen Sie die Versorgungslage der Bevölkerung derzeit ein?

Im letzten Bericht des Integrated Food Security Phase Classification von Ende Juli wird klar von einer Hungersnot in Gaza gesprochen. Zwischen dem 2. März und dem 18. Mai sind gar keine Hilfsgüter in den Gazastreifen gelangt, also ist der Bedarf jetzt enorm. Es mangelt auch an Wasser. Darüber hinaus ist die Gesundheitsversorgung seit den wiederholten israelischen Angriffen auf die Krankenhäuser und Ärzt*innen und in Abwesenheit von regelmässigen Lieferungen von medizinischem Material in einer absoluten Krisensituation. Jetzt kommt noch die Tatsache dazu, dass auch die Ärzt*innen und Krankenpfleger*innen unterernährt sind oder hungern. 

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Welche Rolle spielen internationale Hilfsorganisationen – und wie effektiv können sie überhaupt arbeiten?

Für die Bevölkerung von Gaza ist die wichtigste humanitäre Organisation das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA), denn zwei Drittel der dortigen Bevölkerung sind Flüchtlinge, die 1948 vertrieben wurden, und ihre Nachkommen. Am 28. Oktober 2024 wurden zwei umstrittene Gesetze von der Knesset verabschiedet, die seit Ende Januar 2025 die Aktivitäten der UNRWA in Ost-Jerusalem, im Westjordanland und im Gazastreifen verbieten. Dabei ist Israel als Besatzungsmacht gemäss den Genfer Konventionen von 1949 verpflichtet, den Zugang zu humanitärer Hilfe in diesen Gebieten zu gewährleisten.

Die israelische Regierung hat die internationale Hilfsorganisation UNRWA also faktisch ausgeschaltet. Was sind die Konsequenzen?

Die UNRWA hat derzeit mehrere Tausend LKWs mit lebenswichtigen Hilfsgütern an den Grenzen zum Gazastreifen und wartet immer noch auf die israelische Erlaubnis, diese zu liefern. Währenddessen werden von mehreren europäischen und arabischen Staaten Hilfsgüter über den Luftweg mit Fallschirmen nach Gaza geschickt, wobei ein grosses Militärflugzeug nur den Inhalt von ungefähr zehn LKWs enthält. Diese Flüge kosten aber 100 Mal mehr als Lieferungen über den Landweg und sind darüber hinaus gefährlich für die Bevölkerung. Diese Initiative ist also eine Augenwischerei und soll die Gewissen beruhigen, während die Hungersnot unverändert anhält.

Die aktuelle humanitäre Katastrophe – offenbar bewusst herbeigeführt – geschieht vor den Augen der ganzen Welt. Wie ordnen Sie das Nichtreagieren bzw. insbesondere die unverrückbare Position Deutschlands in Bezug auf die Unterstützung Israels ein?

Humanitäre Katastrophen sind das Resultat von Tsunamis, Erdbeben und Grossfeuern. Sobald eine ähnliche Situation bewusst herbeigeführt wird, kommen wir in den Bereich der Kriegsverbrechen und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Hier stellt sich die Frage der strafrechtlichen und der politischen Verantwortung. Da ist Deutschland genauso gefragt wie alle anderen Staaten, insbesondere die, die dem Rom-Statut zum Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) beigetreten sind. Ich würde sagen, dass Deutschland da aufgrund seiner Geschichte noch mehr gefragt ist.

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Valerie Wendenburg

Nach dem Studium, freier Mitarbeit bei der Berliner Morgenpost und einem Radio-Volontariat hat es Valerie 2002 nach Basel gezogen. Sie schreibt seit fast 20 Jahren für das Jüdische Wochenmagazins tachles und hat zwischenzeitlich einen Abstecher in die Kommunikation zur Gemeinde Bottmingen und terre des hommes schweiz gemacht. Aus Liebe zum Journalismus ist sie voll in die Branche zurückgekehrt und seit September 2023 Redaktorin bei Bajour. Im Basel Briefing sorgt sie mit ihrem «Buchclübli mit Vali» dafür, dass der Community (und ihr selbst) der Lesestoff nicht ausgeht.

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