Eine weibliche Brust verändert alles
Die böse Empusa frisst Männer! Das jedenfalls glauben die sechs Männer, die im Stück «Empusion» auf der kleinen Bühne des Theater Basel alle von Frauen gespielt werden. Ein Zeitstück mit Tiefgang.
Das Stück beginnt und endet mit einer Arztszene. Am Anfang weigert sich der Lemberger Student Mieczyslaw, sich seiner Kleider zu entledigen. Am Ende schafft er es, seinen nackten Körper dem Arzt zu zeigen. Zwischen den beiden Szenen wird nicht nur die persönliche Entwicklung des Studenten gezeigt, sondern eine ganze Welt entfaltet: Die Welt einer Geschlechter-Ordnung, die alt, kaputt und ebenso frauen- wie menschenfeindlich ist.
Misogyne Äusserungen
Zwei Studenten – der genannte aus Lemberg und ein anderer aus Berlin -, ein Wiener Schriftsteller und ein katholischer Lehrer aus Königsberg treffen sich zur Kur in einem schlesischen Lungensanatorium. Sie husten, sie wandern, sie tafeln. Und sie unterhalten sich vor allem über Frauen. Zweitausend Jahre Frauenverachtung und Frauenfeindlichkeit quillt aus ihnen heraus.
Mit Zitaten oder Anspielungen reproduzieren sie die misogynen Äusserungen der grossen Autoren von der Antike bis ins 20 Jahrhundert, von Augustinus bis Frank Wedekind. In dieser Welt scheint klar: Die Frauen haben ein kleineres Gehirn als Männer, gehören ins Haus, und wenn sie mal was Gescheites sagen, so ist es bloss äusserliche Nachahmung männlicher Konversation.
Die Helden haben eigentlich Panik vor ihren eigenen Fantasien.
Bald aber bröckelt die Herrlichkeit der Schöpfung. Die Helden haben eigentlich Panik vor ihren eigenen Fantasien. Sie haben Angst vor Hexen und weiblichen Monstern. Schon bei Aristophanes gibt es die Empusa, ein schreckliches, ständig sich wandelndes Feuerweib mit Beinen aus Erz und Eselsmist. Und bis heute lebt eine Empusa im Wald gleich nebenan, sie fordert jedes Jahr einen Mann zum Zerreissen.
Hexen, die den Männern auflauern, wohnen allüberall in stinkenden Erdlöchern. Der Wald ist voller Gefahren, das Leben voller Stress. Ein richtiger Mann muss jagen, Tiere töten, Blutsuppe essen, Mutproben bestehen, fürs Vaterland kämpfen. Formal spielt das Stück hier auch mit der Tradition des romantischen Schauerdramas, das feministisch-kritisch ironisiert wird.
Die Zurichtung beginnt früh, als Mann wird man schliesslich nicht geboren, dazu muss man qualvoll abgerichtet werden durch schreckliche Väter, Onkels, Chefs und – Generäle. Wir sind im Jahre 1913, das ganze endet im Krieg. Der Besitzer des Sanatoriums hat schon mal seine vierte Frau umgebracht oder zumindest in den Suizid getrieben.
Einer entdeckt seinen Busen
Nur einer passt nicht ganz in diese stramm männliche Welt: Mieczylaw, der schüchterne Student aus Lemberg, der sich nicht ausziehen will. Er entdeckt langsam und unsicher zartere Seiten in sich und einen Busen an sich. Er ist und wird zu dem, was man damals noch mit dem schönen Wort Hermaphrodith bezeichnete. Bei einem anderen Studenten, dem todkranken Maler Thilo von Hahn, findet er zunächst Verständnis, dann Zuneigung, schliesslich Zärtlichkeit.
Ihre neuen Gefühle gehen einher mit neuem Denken. Thilo zeigt ein Renaissance-Gemälde: Dargestellt ist die Opferung Isaaks – eine grausame und dumme Szene, die aber durch die Wiedergabe einer wunderbaren Landschaft ergänzt wird. Es sei, sagt Thilo, als ob diese blühende, duftende, strahlende Natur uns anblicke und uns frage, ob nicht ein anderes Verhältnis des Menschen zur Natur möglich wäre, eines, das nicht nur auf Herrschaft ausgerichtet ist.
Ein anrührendes, unsentimentales, von ernsten Tönen getragenes Theaterereignis der Sonderklasse.
Die Alternative einer erweiterten, sensibleren Wahrnehmung von Natur und Selbst geht am Ende des Stücks nicht unter, aber sie siegt auch nicht. Während die Männer zu sich kommen, indem sie im Stechschritt in den Krieg marschieren («Für die grosse Sache müssen wir marschieren!»), setzt der Student Mieczyslaw seine Selbstfindung fort, indem er sich die Kleider und den Pass der toten Frau des Gastwirts aneignet. Dann greift er sich noch sein altes Jäckchen und geht ab, «einer ungewissen Zukunft entgegen», wie es im Textbuch heisst.
Grosse Fragen, grosses Theater
«Empusion» ist ein Theatertext, den der Autor Lucien Haug (in Basel geboren und als Theatermann präsent, zuletzt mit «Antigone nach Sophokles» auf dem Spielplan) aus dem gleichnamigen Roman der polnischen Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk entwickelt hat, die sich ihrerseits auf Thomas Manns Sanatoriums-Roman «Der Zauberberg» bezieht. Die Aufführung ist eine Koproduktion mehrerer deutschsprachiger Theater. Antu Romero Nunes, festes Mitglied der Basler Companie, hat inszeniert – wie üblich mit stupendem Einfallsreichtum, unbändiger Spiellust, fernab von Realismus und Psychologie, ganz auf die Theaterillusion bauend, immer zu haben für Klamauk und Klamotte.
Ein schönes, thematisch passendes Bühnenbild mit grossen herabhängenden Tüchern und nur ganz wenigen Stellwänden (Mathias Koch) unterstützt ihn. Seine Grundentscheidung, die Männer alle von Frauen spielen zu lassen, rückt die Frauenfeinde in die Ferne heiterer Komik. Im ersten Teil des Abends ist ihm manches zu grell und zu laut geraten. Schreiende Frauen zerstören die Illusion, dass sich Männer hier ausagieren, vollkommen. Im zweiten Teil aber, wenn das Coming-out des einen Studenten und der stille Tod des anderen geschildert werden, ist ihm ein anrührendes, unsentimentales, von ernsten Tönen getragenes Theaterereignis der Sonderklasse gelungen.
Meisterhafte Darstellung
Sabine Waibel als Schriftsteller aus Wien gibt meisterhaft den eitel-arroganten kakanischen Bildungsbürger, der ständig damit beschäftigt ist, seine homoerotischen Triebe zu zügeln. Gross ist die Begeisterung im Publikum, wenn sie spielt, wie Aristophanes das Ungeheuer Empusa darstellt. Anderen Karikaturen mangelt es an Präzision. Charlotte Müller als katholischer Lehrer bleibt blass und Anne Haug überzeugt zwar als Arzt, setzt aber als Sanatoriumsbesitzer dermassen einseitig auf das kehlige Schweizerhochdeutsch, dass sie im Klischee stecken bleibt. Aenne Schwarz, die in Basel zuletzt im «Sommernachtstraum» und auf dem Bildschirm im Tatort «Schau mich an» zu sehen war, spielt die Hauptrolle.
Die Sprengung der starr binären Auffassung von Geschlecht ist eine grundlegende Veränderung der gesamten Weltsicht.
Ihr gelingt es, das Coming- out des Studenten Mieczyslaw als Geschichte ihres Körpers zu zeigen. Am Anfang ist ihr Leib schlottrig und fahrig, mit der Zeit gewinnt er Form und Halt. Eine grosse Leistung. Echo findet sie in Gro Swantje Kohlhof, die als malende Studentin Thilo still und sehnsüchtig, aber mit wachem Geist ihr Leben aushaucht.
Mehr als Amusement
Ich als Theaterkritiker bekenne, dass ich nicht alles verstanden habe. Manche Stellen der Aufführung haben mich überfordert, aber ich empfinde darob keinen Grimm, sondern im Gegenteil das Bedürfnis, nachzufragen und mehr zu erfahren. Das liegt daran, dass hier das Theater nicht nur Amusement bietet, sondern sich einer grossen Zeitfrage widmet. Anschaulich wird: Die Sprengung der starr binären Auffassung von Geschlecht ist eine grundlegende Veränderung der gesamten Weltsicht, daher ja auch die heftige Opposition dagegen.