Jagd nach Sinn durch Basel

Sechs junge Menschen sind auf Pirsch durch die Stadt Basel – und das Publikum verfolgt sie live auf der Leinwand. Die Produktion «Ode an die gewaltbereite Jugend» ist eine technische Meisterleistung, findet Rezensent Felix Schneider. Insgesamt fehlt es ihm allerdings an Rhythmus und Zuspitzung.

Theater Basel, Ode an die gewaltbereite Jugend, Schauspiel, Foto Lucia Hunziker für Theater Basel, 04/05.06.2025; Inszenierung: Sebastian Nübling, Bühne: Dominic Huber, Kostüme: Ursula Leuenberger, Sounddesign: Jackie Poloni, Videodesign: Robin Nidecker, Videotechnik: Calvin Lubowski, Lichtdesign: Vassilios Chassapakis, Dramaturgie: Inga Schonlau, Dramaturgische Mitarbeit: Laura Leupi, Julie Ilunga, Marie Löcker, Ann Mayer, Julian Anatol Schneider, Lukas Stäuble, Antoinette Ullrich.
Zwei Clowns und vier Clowninnen zu Beginn ihres Basel-Trips an der Heuwaage. (Bild: Lucia Hunziker)

Die Tempel traditioneller Hochkultur zu verlassen und in die urbanen Lebenswelten einzutauchen ist kein neues, aber ein immer noch aktuelles, politisch motiviertes Bedürfnis, auch bei Theaterschaffenden. Auf die Frage, wie der Ausbruch aus den Stadttheatern zu bewerkstelligen sei, gibt es eine sehr praktische Antwort: das Live-Kino. Ein Geschehen irgendwo in der Stadt (oder noch weiter weg) wird direkt auf eine Leinwand in den Zuschauerraum übertragen. Das Theaterpublikum verfolgt also in Echtzeit, was andernorts geschieht. So paart sich der Ausbruch aus dem Kulturtempel mit dem Live-Moment, der Theater ausmacht.

Das englisch-deutsche Performance-Kollektiv Gob Squad hat diese Methode geradezu zu seiner Spezialität gemacht, zuletzt mit dem Abend «Is Anybody Home?» von 2022 für die Berliner Volksbühne am Rosa Luxemburg Platz. In dieser Produktion dringen Spieler*innen mit ihrer Live-Kamera in eine private Wohnung ein. Was sie dort erleben, wird im Theater gezeigt, wo auch der Bewohner oder die Bewohnerin der Wohnung anwesend ist und mit den Eindringlingen interagieren kann. 

Ein Live-Film ist auch die grossartige Produktion «Dämonen» von Boris Nikitin und  Sebastian Nübling, die seit drei Jahren im Programm des Basler Theater ist, derzeit wieder aufgenommen wird und diesem Rezensenten das grösste Theatererlebnis der letzten Jahre hier in Basel beschert hat. Schon in dieser Aufführung streiften junge Menschen durch Basel und vermittelten autobiographisch gefärbte Erlebnisse und Gedanken. Die «Ode an die gewaltbereite Jugend» ist nun die Folgeproduktion, von Regisseur Sebastian Nübling allein verantwortet. In der Schweiz kann der Ausbruch aus dem Stadttheater gleichzeitig der Ausbruch aus der Hochsprache sein: Nübling, in Lörrach geboren, und seine Crew dichten ihre «Ode» in Dialekt.

Im Galopp durch die Stadt

Die riesig breite Leinwand im Basler Schauspielhaus ist in sechs Teile gesplittet. Jeder Teil gehört einem oder einer der sechs Clowns und Clowninnen, die im Kostüm mit Pappnase nächtens durch Basel ziehen. Alle sind mit Handys ausgestattet, dazu kommen noch Kameras, die Aufnahmen aus grösserer Distanz ermöglichen. Die Koordination, Mischung und Übertragung dieser vielen optischen und akustischen Quellen ist eine technische Meisterleistung. Für Unvorhergesehenes bleibt da allerdings wenig Raum. Schon die englischen Untertitel verweisen darauf, dass die Texte der Spielenden zwar aus Improvisationen entstanden sein mögen, aber fixiert und gestaltet sind.

Interaktion mit der Stadt und ihren Passant*innen ist nur in vordefinierten Ausnahmefällen möglich. Als einmal zwei Hunde die Clowns anbellen, und das Publikum erwartungsvoll lacht, wird schnell ausgeblendet, damit die vorgefertigte Show weitergehen kann. Als eine Clownin einem Passanten im Bahnhof die schräge Frage stellt, wo sie denn wohl hinmüsse, um zu ihrem Rendez-vous zu kommen, da antwortet der Gefragte geistesgegenwärtig, sie möge sich bei der SBB-Auskunft erkundigen. Natürlich hofft das Publikum, sie tue das auch – wird aber enttäuscht. 

Die Koordination, Mischung und Übertragung dieser vielen optischen und akustischen Quellen ist eine technische Meisterleistung.

Aus vier Teilen besteht der Abend. Teil eins: Oh wie schön, wie wunderbar, wie super ist Basilea! Während die Spielenden in irrem Tempo durch die Stadt jagen, wird ihr Lob der wohlgeordneten Kleinstadt mit der Zeit immer ironischer und bitterer. 

Teil zwei: Erfahrungen mit der Stadt. Die jungen Menschen fühlen sich hier, wo jede*r jede*n kennt, eingesperrt und ihrer Entwicklungs- oder Veränderungsmöglichkeiten beraubt. Für «Autonomie», so heisst es, gebe es in diesem Edel-Gefängnis keinen Raum. Zweifelhaftes Glück gibt es in Basels Innenstadt nur im Konsum: Eine Clownin, verkörpert von Ann Mayer, liebt H&M, es ist der einzige Ort, wo sie als Kind mit ihrer Mutter nie «gestresst» war. Heute kauft sie dort ihre Party-Klamotten.

Theater Basel, Ode an die gewaltbereite Jugend, Schauspiel, Foto Lucia Hunziker für Theater Basel, 04/05.06.2025; Inszenierung: Sebastian Nübling, Bühne: Dominic Huber, Kostüme: Ursula Leuenberger, Sounddesign: Jackie Poloni, Videodesign: Robin Nidecker, Videotechnik: Calvin Lubowski, Lichtdesign: Vassilios Chassapakis, Dramaturgie: Inga Schonlau, Dramaturgische Mitarbeit: Laura Leupi, Julie Ilunga, Marie Löcker, Ann Mayer, Julian Anatol Schneider, Lukas Stäuble, Antoinette Ullrich.
Eine, die nicht mehr mag – gespielt von Antoinette Ullrich. (Bild: Lucia Hunziker)

Teil drei ist in schwarz-weiss gedreht. Müdigkeit, Schlaffheit, Resignation machen sich breit. Der Mangel an Alternativen und an Sinn wird beklagt. Eine, die nicht mehr mag (gespielt von Antoinette Ullrich) legt sich auf einer Geröllhalde in Basels Umgebung auf den Boden, als ziehe sie sich in ihr Grab zurück. 

Teil 4: Alles dreht weiter, aber ohne Ziel und Sinn. Steine bleiben in der Hand, das Rathaus im Hintergrund bleibt unbeschädigt. Gewaltbereit ist diese Jugend nur insofern, als sie bereit ist für das Erdulden oder Ertragen von Gewalt.

Zwei Stunden lang sechs verschiedene, gleichzeitig gezeigte Filme zu verfolgen, ist an sich schon anstrengend. Es wird zur Überforderung, wenn sich fast nie optisch etwas über mehrere Bildschirme entwickelt.

Trotz oder gerade wegen des technischen Aufwands wirkt der Abend insgesamt ermüdend und anstrengend. Trotz schöner Momente fehlt es ganz grundsätzlich an Rhythmus. Nichts entwickelt sich, nichts spitzt sich zu, nirgends treffen Gegensätze aufeinander. Die Aufführung bleibt eine Addition von Mosaiksteinchen. Dumpfe, gleichförmige Sound-Rhythmen beschweren auch noch viele der viel zu langen und zu hektischen Kamerafahrten durch die Stadt, die mit der Zeit an Tourismuswerbung erinnern.

Es gibt viel zu wenig Ruhepunkte wie etwa die Bilder vom Himmel über Basel oder von den Katakomben an der Heuwaage. Zwei Stunden lang sechs verschiedene, gleichzeitig gezeigte Filme zu verfolgen, ist an sich schon anstrengend. Es wird zur Überforderung, wenn sich fast nie optisch etwas über mehrere Bildschirme entwickelt.

Auch hier gibt es Ausnahmen: Eine Kletterpartie bleibt im Gedächtnis wegen ihrer Zweideutigkeit – man weiss nicht genau: Ist es gefährlich oder nur ein Bluff? Die Texte, von den Mitwirkenden verfasst, sind von höchst unterschiedlicher Qualität. Marie Löcker zum Beispiel gewinnt die Zuhörenden, wenn sie von ihrer Verwirrung erzählt, weil sie zwar eine Abmachung habe, aber nicht wisse wo. Das hat Originalität und eine interessante Rätselhaftigkeit. Oder: Ann Mayers Lob des Konsum-Glücks bleibt ambivalent bis zum Schluss.

Theater Basel, Ode an die gewaltbereite Jugend, Schauspiel, Foto Lucia Hunziker für Theater Basel, 04/05.06.2025; Inszenierung: Sebastian Nübling, Bühne: Dominic Huber, Kostüme: Ursula Leuenberger, Sounddesign: Jackie Poloni, Videodesign: Robin Nidecker, Videotechnik: Calvin Lubowski, Lichtdesign: Vassilios Chassapakis, Dramaturgie: Inga Schonlau, Dramaturgische Mitarbeit: Laura Leupi, Julie Ilunga, Marie Löcker, Ann Mayer, Julian Anatol Schneider, Lukas Stäuble, Antoinette Ullrich.
Selfies vor Basler Kulisse. (Bild: Lucia Hunziker)

Andere Texte dagegen bieten weder starke Bilder noch doppelten Boden. Die mehrfachen Erwähnungen von Flüchtlingsschicksalen wirken wie Pflichtübungen, da sie sprachlich von den üblichen Formulierungen der Asylszene nicht abweichen. Viel zu selten sind Erzählungen mit etwas längerem Atem, wie etwa die von den illegalen Partys in den Birsig-Katakomben. Gar nie wird widersprochen oder diskutiert, sodass Plastizität entstünde. Auch gibt es an diesem Abend fast nur zwei Sprech-Töne: hektisch laut oder erschöpft und ausser Atem. Das reicht nicht. 

Die «Ode an die gewaltbereite Jugend» ist Teil eines beeindruckenden Projekts des Theater Basel zum Thema Gewalt mit Workshops, Abendveranstaltungen und einer Kunstausstellung im Foyer. Im Rahmen dieses Zyklus wird auch «Dämonen» wieder aufgenommen – eine Gelegenheit, die man sich nicht entgehen lassen sollte.

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