«Protestierende und Unis können sich finden»

Schweizer Universitäten könnten einen konstruktiven Beitrag leisten angesichts des Krieges in Gaza, sagt Roland Dittli von der Friedensstiftung Swisspeace.

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Swisspeace will Vorschläge präsentieren, wie Schweizer Universitäten stärker aktiv werden könnten angesichts des Krieges in Gaza. (Quelle: Danielle Liniger)
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Zweimal besetzten Pro-Palästina-Aktivist*innen im Mai Räume der Uni Bern. Beide Protestaktionen beendete die Polizei.

Die Protestierenden forderten, dass die Uni alle Beziehungen zu israelischen Universitäten abbricht. Und dass sie sich zum Krieg in Gaza positioniert. Die Uni akzeptierte die Aktionen nicht, wies alle Forderungen zurück und bezichtigte die Aktivist*innen, «teilweise antisemitische Parolen» benutzt zu haben.

Als Rektor Christian Leumann am 13. Mai vor die Besetzer*innen trat, sagte er, er sei nicht gekommen, um zu diskutieren. Es folgte eine halbstündige Diskussion. Leumann wurde von Zwischenrufen unterbrochen und ausgebuht. Bei der zweiten Besetzung Ende Mai erschien er nicht mehr vor den versammelten Aktivist*innen. Nachdem diese ein Ultimatum hatten verstreichen lassen, kam direkt die Polizei.

Ähnliche Szenarien spielten sich in den vergangenen Wochen an fast allen Schweizer Universitäten ab, nachdem sich die Protestbewegung von US-amerikanischen Unis auf Europa und in die Schweiz ausgeweitet hat.

In Basel versuchte Laurent Goetschel zwischen Uni und Protestierenden zu vermitteln. Goetschel ist Professor für Politikwissenschaft und Direktor der Friedensstiftung Swisspeace, ein mit der Uni Basel assoziiertes Institut.

Swisspeace betreibt Forschung und unterhält zahlreiche Kooperationen mit Universitäten in Konfliktregionen. Auch in Gaza. Nun plant das Institut, Ideen und Empfehlungen zu formulieren, wie Schweizer Universitäten stärker aktiv werden könnten angesichts des Krieges in Gaza. Roland Dittli, Palästina-Verantwortlicher bei Swisspeace, erklärt im Gespräch mit der «Hauptstadt», wie das konkret aussehen könnte.

Roland Dittli, mit Besetzungen an Schweizer Unis fordern Aktivist*innen einen akademischen Boykott gegenüber israelischen Universitäten. Ist das sinnvoll?

Jede Zusammenarbeit mit israelischen Universitäten abzubrechen, finde ich keine sinnvolle Forderung. Boykott heisst, man hört auf zu reden. Aber akademische Institutionen, auch in Israel, sind nicht monolithisch. Sie sind sehr divers. Sie können auch wichtige Partner sein, um friedenspolitische Ziele in diesem Konflikt zu verfolgen. Swisspeace verfolgt den Ansatz, mit möglichst vielen Universitäten zusammenzuarbeiten, auch in Krisenregionen. Ein genereller Boykott steht diesem Ansatz entgegen.

Bei Swisspeace geht es um Friedensforschung. Die Protestbewegung kritisiert Wissenschaft, die zum Beispiel mit der Rüstungsindustrie verbunden ist. Stösst die Forderung nicht auch eine wichtige Debatte an?

Doch, das tut sie. Es ist angebracht, dass Schweizer Unis ihre Verbindungen zu israelischen und allen anderen Institutionen untersuchen, transparent machen und aufzeigen, mit wem sie zusammenarbeiten und für welche Projekte. In ihrer Pauschalität finde ich die Forderung nach einem akademischen Boykott israelischer Universitäten aber nicht zielführend.

Zur Person

Roland Dittli (52) arbeitet seit 2008 für Swisspeace. Er ist Co-Leiter des «Peacebuilding Analysis and Impact Program», das sich mit der Wirksamkeit von internationaler Zusammenarbeit in Konfliktländern befasst. Zudem ist er verantwortlich für Kooperationen mit palästinensischen Hochschulen und Organisationen. Roland Dittli hat an der Universität Bern Geschichte studiert und lebt in Bern.

An der Universität Bern stiessen die Besetzungen bei der Unileitung auf Ablehnung. Hätten sich die Schweizer Universitäten kompromissbereiter zeigen sollen?

Die Universitäten hätten den Dialog stärker suchen können. Es greift zu kurz, die Besetzungen pauschal als destruktiv zu verurteilen. Mein Ziel ist es aber nicht, die Universitäten und die Besetzer*innen zu kritisieren. Ich finde es schade, dass die Debatte sich so stark auf die scheinbar gegensätzlichen Positionen versteift hat.

Sind die Positionen denn nicht gegensätzlich?

Es gibt Bereiche, wo sich Protestierende und Unis finden können. Schweizer Universitäten können Beiträge leisten, die angesichts des Krieges in Gaza den Betroffenen helfen. Es existiert eine Schnittmenge von konstruktiven Massnahmen, hinter der sowohl Aktivist*innen als auch Unis stehen können.

Was sind das für Massnahmen, die Schweizer Universitäten ergreifen könnten?

Sie könnten akademische Institutionen in Gaza in dieser noch nie dagewesenen Krise unterstützen. Zum Beispiel sich für Akademiker*innen einsetzen, die vom Krieg betroffen sind. Und mittelfristige Kooperationen aufgleisen.

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Es existiere eine Schnittmenge von konstruktiven Massnahmen, hinter der sowohl Aktivist*innen als auch Unis stehen können, sagt Roland Dittli. (Quelle: Danielle Liniger)

Wie steht es um die Universitäten in Gaza?

Das Ausmass der Zerstörung ist unglaublich. Zwölf von vierzehn Universitäten in Gaza sind zerbombt oder stark beschädigt. Uni-Gebäude, Hörsäle, Labore, Archive und Bibliotheken sind zerstört. Mitarbeitende und Studierende wurden getötet oder mehrfach vertrieben. Aber es ist wichtig festzuhalten, dass die Universitäten trotzdem noch immer existieren und Unterstützung brauchen. Dazu gab es gerade einen offenen Brief und Aufruf der Universitäten und Akademiker*innen vor Ort. Doch sie haben Angst, dass die Unis wirklich in ihrer Existenz gefährdet sind und ihren Auftrag nicht mehr erfüllen können.

Weshalb könnten die Unis ganz untergehen?

Dazu muss man wissen, dass Unis in Palästina keine Unterstützung der öffentlichen Hand erhalten. Sie finanzieren sich fast ausschliesslich über Studiengebühren. Und niemand in Gaza hat noch finanzielle Ressourcen übrig. Uni-Angestellte erhalten seit November keinen Lohn mehr. Sie stehen wie der Rest der Bevölkerung Schlange bei Essensausgaben. Aber auch langfristig ist das wirtschaftliche Überleben der Institutionen gefährdet. Denn es gibt keine funktionierende Wirtschaft mehr in Gaza. Selbst wenn der Krieg irgendwann aufhört – wann werden fast 100'000 Studierende wieder in der Lage sein, Studiengebühren zu bezahlen? Die Universitäten haben grosse Zukunftsangst.

Und was von den Universitäten funktioniert aktuell noch?

In zerbombten Gebäuden ist nicht alles zerstört. Die Server, auf denen sich die gesamten Daten der Universitäten befinden, existieren zum Teil noch. Doch bis jetzt konnten sie nicht gesichert werden. Wenn auch sie verloren gehen, ist die Existenz der Universitäten noch stärker in Gefahr. Die Unis und ihre Angestellten sind ausserdem nach wie vor in Kontakt miteinander und koordinieren sich. Sie haben Notfallkomitees gegründet, um ihre Angestellten zu unterstützen. Sie stellen auch so gut als möglich Bestätigungen von Abschlüssen für geflüchtete Student*innen aus, die alles verloren haben, damit diese sich an anderen Instituten einschreiben können.

Wie können Schweizer Unis in dieser Situation konkret helfen?

Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Beginnen wir bei den Servern. Sie zu retten ist eine komplizierte Aufgabe, die vor Ort koordiniert werden muss. Dazu braucht es Geld, um Daten nachhaltig zu sichern, aber auch einen gewissen öffentlichen Druck. Akademische Institutionen im Ausland könnten dazu aufrufen, diese digitalen Ressourcen zu retten und damit die Universitäten in Gaza vor dem Kollaps zu bewahren.

Welche weiteren Möglichkeiten haben Unis, um aktiv zu werden?

Das Netzwerk «Scholars at Risk» hilft Akademiker*innen in Krisenregionen, ihre Tätigkeiten fortsetzen zu können, indem sie etwa an ausländischen Universitäten an Kursen oder Lehre und Forschung teilnehmen können. Schweizer Unis beteiligen sich daran bisher noch nicht sehr aktiv. Sie könnten auch Studierende oder Forschende, die aus Gaza geflüchtet sind – etwa nach Kairo – über internationale Vernetzung stärker unterstützen, damit sie ihre akademische Laufbahn weiterführen können. Und in Zukunft könnten Schweizer Unis mit akademischer Zusammenarbeit Universitäten in Gaza stärken.

Was verstehen Sie unter akademischer Zusammenarbeit?

Der Krieg ist hoffentlich irgendwann vorbei. Dann muss Gaza wieder aufgebaut werden: Infrastruktur, das Gesundheitssystem, politische Institutionen, Verkehr. Für all diese Bereiche besteht an Schweizer Universitäten eine enorme Expertise. Ebenso in Gaza. Das lokale Fachwissen ist zentral. Deshalb könnten Kooperationen zwischen Schweizer und palästinensischen Forschungsinstituten den Wiederaufbau unterstützen. Zusätzlich würde das den lokalen akademischen Institutionen helfen, ihre Angestellten zu bezahlen und ihre Forschung wieder aufzunehmen.

Wie könnte so eine Kooperation aussehen?

Unis in der Schweiz könnten den Wiederaufbau in Gaza konkret in ihr Programm aufnehmen und dazu eine Partnerschaft mit einer Universität in Gaza eingehen. ETH-Studierende könnten sich zum Beispiel in einem Seminar mit der Frage beschäftigen: Wie sieht ein nachhaltiger, ressourcenschonender, gesellschaftlich abgestützter Wiederaufbau aus der Sicht von auszubildenden Ingenieur*innen aus, unter Einbezug des bestehenden Wissens an lokalen Unis? Solche Kooperationen könnten in vielen Fachbereichen entstehen und jetzt bereits aufgegleist werden. Auch eine Dreiecks-Zusammenarbeit zwischen Internationalen Organisationen oder Geldgebern wie der DEZA mit Schweizer und palästinensischen Unis fände ich spannend.

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«Das Ausmass der Zerstörung in Gaza ist unglaublich», sagt Roland Dittli. (Quelle: Danielle Liniger)

Die Protestbewegung fordert auch, dass Universitäten zum Krieg in Gaza Stellung beziehen und das Vorgehen Israels als Genozid bezeichnen. Wie stehen Sie zu dieser Forderung?

Sich so zu internationalen Konflikten zu äussern, sehe ich nicht als Rolle der Universitäten. Der Dachverband der Schweizer Universitäten hat das nach der russischen Invasion in der Ukraine getan. Das wird ihm nun ein wenig zum Verhängnis, weil es eine Erwartungshaltung generiert hat. Aber dann müssten die Unis konsequenterweise auch zu anderen Kriegen, etwa im Sudan oder in Myanmar, Stellung nehmen. Das ist nicht ihre Aufgabe. Öffentlich positionieren könnten sich Universitäten aber zur beispiellosen Zerstörung akademischer Institutionen durch den Krieg in Gaza. Das ist ihre Einflusssphäre.

Sehen Sie auch die Protestbewegung in der Verantwortung, sich stärker – oder anders – für palästinensische Akademiker*innen einzusetzen?

Ja. An den Besetzungen wurden solche Forderungen teilweise bereits gestellt. Darüber hinaus können sich Aktivist*innen – viele sind Studierende – genauso fragen: Welche Ressourcen haben wir, die für die Menschen vor Ort nützlich sind?

Woran denken Sie?

Uni-Angestellte in Gaza erhalten seit Monaten keinen Lohn. Student*innen sind ohne Ressourcen gestrandet in Kairo. Schweizer Universitäten werden kein Geld an palästinensische Institutionen spenden können. Aber ich kann mir vorstellen, dass an den Schweizer Unis viele Mitarbeitende und Studierende solidarisch sind mit den Betroffenen. Die Protestbewegung könnte zum Beispiel eine Spendenaktion koordinieren. Gelder könnten über die entstandenen Notfallstrukturen der Unis in Gaza verteilt werden. Das würde neben der dringend benötigten Hilfe auch bereits Kontakte knüpfen, auf denen später aufgebaut werden kann.

Wie will Swisspeace diese Vorschläge den Universitäten und den Aktivist*innen unterbreiten?

Wir suchen noch nach einer geeigneten Form. Das könnten zum Beispiel Veranstaltungen sein, die Optionen aufzeigen, was jetzt hilfreich wäre für die Universitäten in Gaza. Dazu haben wir unsere Zusammenarbeit mit einer Koordinatorin der Islamic University of Gaza intensiviert. Wir sind vor Ort vernetzt und können Kontakte herstellen.

Die Protestbewegung richtet sich an die israelische Regierung als Kriegspartei. Sie kämpft dafür, dass Israel den Krieg beendet. Swisspeace schlägt vor, stattdessen die zivilen Opfer in Gaza zu unterstützen. Als Aktivistin würde ich Ihnen das wohl vorwerfen.

Ich verstehe die Betroffenheit der Protestierenden. Aber ich glaube, das von ihnen gewählte Mittel ist in der aktuellen Situation nicht zielführend. Ich wünsche mir, dass sich der Dialog verändert. Dass Universitäten und Protestierende sagen: Okay, beim Boykott werden wir uns nicht finden. Aber es gibt eine Schnittmenge, wo wir uns finden können. Denn kein Ort auf der Welt ist je ein besserer geworden, wenn seine Universitäten zerstört wurden. Deshalb sollten wir kreativ darüber nachdenken, welche Ressourcen wir haben, die heute und morgen nützlich sind für die Menschen an den Universitäten vor Ort.

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