Wie eine Bar im Basler St. Johann-Quartier der Schweiz ins Viertelfinale verhalf
Die Schweiz gewinnt an der Fussballeuropameisterschaft gegen Weltmeister Frankreich und steht im Viertelfinale. C’est la folie. Ein Stimmungsbericht zum Spiel aus Basler Kneipenoptik.
Wo warst du, als die Schweiz an der Europameisterschaft im Elfmeterschiessen gegen den Weltmeister Frankreich gewann?
Diese Frage werden werden wir uns stellen, wie wir uns ab und an nach anderen Ereignissen fragen, die sich ins kollektive Gedächtnis unserer Gemeinschaft eingegraben haben.
Es gab gute Orte, dieses Spiel erlebt zu haben. Jeder Ort mit Internetanschluss zum Beispiel, war ein guter Ort.
Dann gab es perfekte Orte für für eine Beobachtung dieses Spiels. Das Johanniter Café im Basler Trendquartier St. Johann, im Volksmund einfach «Johabar» genannt, war so ein perfekter Ort.
Einlaufen mit Freunden kurz nach acht, eine Stunde noch bis zum Spiel. Da war diese beliebte Arena bereits gut gefüllt. Man hatte ja beinahe vergessen, wie sich das anfühlt, eine volle Bar, Publikum, Menschen. Aber diese Bar war so voll, wie es die kürzlich gelockerten Corona-Massnahmen eben erlaubten. Gut so. Ein Bier am Tresen, wer aufsteht, trägt Maske. Kurzer Schwatz linksrechts, hinsetzen, Anpfiff.
Da massschneidert Haris Seferović, der Mann aus Sursee, in der 15 Minute per Kopf schon das 1:0 für die Schweiz in die linke untere Torecke.
Irrer Jubel allenthalben. In der Johabar ist die rotweisse Trikotdichte kleiner als anderswo und das Hymnensingen wird beflissen überprostet. Aber wenns zählt, wenn nämlich die Tore fallen, dann ist dieser zwölfte Mann, wie sich Fans gerne nennen, solidarisch zur Stelle und haut auf den Tisch dass die Wände wackeln. TOOOOOOOOR Seferoviiiiić.
Damit hat niemand gerechnet, auch wenn wir aus Goodwill oder Aberglaube natürlich auf mindestens einen Treffer der Schweiz getippt hatten. Aber der Gegner heute Abend ist nicht der FC Feierabend, den wir vom Montagabendkick auf der Tschudimatte kennen. Nein, das hier ist der FC f*cking Weltmeister und wer gegen Frankreich trifft, der hat Respekt verdient.
Seferović, der sich nach seinem Treffer gegen die Türken im letzten Gruppenspiel noch einen Wink an die Kritiker*innen zu Recht nicht hat verkneifen können, als er beim Torjubel die Finger an die Lippen legte – Seferović formt mit den Händen heute nur ein Herz in die Kamera. Lieblingsspieler!
Es folgt das lange Zittern bis zur Halbzeitpause. Raus aus der Bar, rauchen. In Augen unter hochgezogenen Augenbrauen schauen. Pausenunterhaltung in abgebrochenen Sätzen, mehr war in dem Moment nicht drin. Na du. Uff, oder. Abwarten. Stehen hoch, machens gut.
Auf dem Bildschirm drin werden schon die Seiten gewechselt. Das Spiel ging weiter.
55 Minuten gespielt. Da senste der französische Verteidiger Benjamin Pavard den Schweizer Flügel Steven Zuber auf der Elfmeterkante von den Beinen. Wie bei einem guten Tennismatch auf dem heiligen Rasen zu Wimbledon schmierte die Kreide der Strafraumumrandung den Tatort FOUL deutlich ins Gras. In der Johabar wussten alle sofort: Elfmeter! Der Video Assistant Referee in Bukarest entschied: Elfmeter. Linksfuss Rodriguez nahm Anlauf und in der Johabar hörte man hinten links eine Blase im Bierglas zerplatzen, so still war es in dem Augenblick.
Hugo Lloris hielt den Elfmeter.
Das wars.
Dachte sich diese solidarische Leidensgemeinschaft im 4056, als kurze Zeit später – es musste so kommen – der französische Berserker Karim Benzema dieses Scheissspiel innert zwei Minuten umdrehte. Vom 1:0, das ein 2:0 hätte sein können, zum 1:2 aus Schweizer Sicht. Jetzt wurden an den Tischen die Pullover und angeschwitzte T-Shirts über die Nasen gezogen und die ersten alkoholfreien Biere gingen über den Tresen. 57 Minuten Hoffnung waren heute drin. Immerhin. Morgen sei auch noch ein Tag, sagte man sich, jetzt bloss keinen Frustkater einfangen.
Minuten zerrannen, in denen dieses Schweizer Superteam nicht aufsteckte, weiterackerte, kämpfte. Nicht wie in anderen Spielen nach anfänglicher Kür die Zügel schleifen liess, nein, biss und rannte, als gäbe es hier noch was zu holen. Als ob.
Denn nach okayer Spielphase römerte der französische Gladiator Paul Pogba dem Schweizer Torwart Yann Sommer im fernen Bukarest ein 3:1 in die Maschen, das sich im 1470 Kilometer entfernten St. Johann anfühlt wie der finale Stich dieser EM-Kampagne.
Ein Tor, so perfekt wie der letzte Sonnenuntergang auf der Klassenfahrt vor den Sommerferien im Tessin. Damals wie heute: Ein guter Moment, um über verpasste Chancen nachzudenken.
Natürlich jaulte es da in der Johanniter Bar aus allen Ecken und Konsternation machte sich breit. Erinnerungen an legendäre Aufholjagden waren für das junge Publikum keine Vorhanden, an was sollte man sich klammern? Grosse Spiele mit «Wir-packen-das-noch»-Charakter? Fehlanzeige. Stattdessen Elendsgefühle. Trotzdem Applaus.
Da schiesst, es lief die 81 Minute, Seferović das Anschlusstor.
Gute Bars erkennt man am Coachingverhalten seiner Gäste. Und jetzt wurden am Tresen dieser sehr guten Bar im St. Johann die grossen Biere eingewechselt, als gäbe es dort Zuversicht im Litermass zu kaufen. Gutes Händchen, sagen unabhängige Expert*innen, denn in der Schlussminute (90.) schossen zirka achzig euphorisierte Santihanslemer und Goldfuss Mario Gavranović im Kollektiv das 3:3 für die Schweiz.
Potz Stollen und Schienbeinschoner, jetzt brannte im Quartier aber der Busch. Der Rest war dann aktive Geschichtsschreibung. Den Lattenknaller der Franzosen in der 91. Minute lachten wir panisch weg. Wo war das Klo und wem hatten wir schon lange nicht mehr gesagt, dass wir ihn*sie liebten. Alles musste raus.
Verlängerung. Captain Granit Xhaka sagt später im Interview bei SRF, die habe man gewinnen wollen. Hatte kein Bock auf Elfmeterschiessen. Hatte niemand, aber es kam. In der Johabar blieben während zirka sieben bangen Minuten kumulierte elf Meter Fingernägel auf der Strecke. Gavranović traf, Fabian Schär traf, Manuel Akanji traf, Ruben Vargas traf, Admir Mehmedi traf.
Und Yann Sommer lenkt den letzten entscheidenden Penalty des wirklich wunderbaren Fussballspielers Kylian Mbappé mit der linken Hand am Tor vorbei. Der Jubel muss aus diesem Hexenkessel bis an die französische Grenze gehallt haben, so laut wurde dieses legendäre Spielende begangen. Ungeahnte, vergessen gegangene, verloren geglaubte Freude. Für einen kurzen Augenblick war diese Bar in einem Basler Quartier der emotionale Mittelpunkt seiner Gäste und einiger Nachbar*innen, die sich noch lange an dieses Spiel erinnern werden.
Wo warst du, als die Schweiz an der Europameisterschaft im Elfmeterschiessen gegen den Weltmeister Frankreich gewann?
Die Frage wird bleiben. Und während sich draussen die ersten Autos zum Korso einfanden, keimte vor der Bar schon eine leise Hoffnung an die Zeit nach dem Spiel. Die Hoffnung darauf, dass dieses Spiel alle leergelaufenen Debatten um Zugehörigkeit und Identität einen Deckel aufsetzt und sich die vereinten Fussballfreund*innen aller Quartiere und Städte und Dörfer und Kantone für alle Zeiten an dieses eine Spiel erinnern, an dem eine überragende Schweizer Fussballmannschaft Geschichte schrieb.
Herzlich willkommen!