«Liebe Eltern, vertraut auf euer Bauchgefühl»

Die Meldungen häufen sich, wonach das UKBB den Ansturm an Patient*innen nicht mehr bewältigen kann. Einerseits fehlt es an Kinderärzt*innen, andererseits rennen Eltern auch einfach viel zu schnell auf die Notfallstation.

Kind Spital Krank Fieber
Was wenn der*die Kinderärzt*in keine Zeit fürs kranke Kind hat? (Bild: Kelly Sikkema / Unsplash)

Es hört sich an wie ein verzweifelter Hilferuf: «Momentan stellen sich überdurchschnittlich viele Patienten auf der Notfallstation vor», schreibt das Kinderspital beider Basel auf seiner Website in rot unterlegter Farbe. Es könne zu mehrstündigen Wartezeiten kommen. Und dann die Bitte: «Falls es sich nicht um einen dringenden Notfall handelt, welcher umgehend im Spital gesehen werden muss, bitten wir Sie, Ihren Kinderarzt oder Hausarzt aufzusuchen oder sich über unsere Helpline beraten zu lassen.» 

Das UKBB ist mit dem Problem nicht alleine. Auch die Fachgesellschaft Pädiatrie Schweiz warnt in einer Medienmitteilung Ende September: «In einigen Kliniken haben die Kindernotfälle in der ersten Jahreshälfte 2022 im Vergleich zu 2021 oder den Vorpandemiejahren um mehr als 50 Prozent zugenommen. Die Kindernotfallstationen geraten immer häufiger an ihre Belastungsgrenzen.»

«Ich fürchte, dass wir im Winter an den Anschlag kommen werden.»
Katja Berlinger, Geschäftsführerin von Swiss Medi Kids

Neu sind die Klagen der Kinderspitäler indes nicht. Bereits vergangenen Dezember titelte 20 Minuten: «Basler Kinderspital sucht wegen drohender Überlastung neues Personal.» Die Gründe für die Überlastung sind vielschichtig: Erstens ist da das Coronavirus. Dieses hat dazu geführt, dass viel Pflegepersonal kurzfristig ausgefallen ist - oder aber gleich längerfristig neue Perspektiven gesucht hat. Mit dem Virus zusammen hängt auch die Tatsache, dass Kinder nach einer Zeit, in der sie viel isoliert und kaum Kontakt zu anderen hatten, nun überdurchschnittlich viele Infektionskrankheiten aufweisen.

Zudem, so berichtete 20 Minuten vergangenen April, hätten die Geflüchteten aus der Ukraine die Kinderspitäler in Zürich und Basel an den Anschlag gebracht. Viele von ihnen hatten Mühe, ein*e Kinderärzt*in zu finden und sind mit ihren Kindern bei Krankheiten deshalb im Krankenhaus vorstellig geworden.

Neue Dimension des Problems

Das Ausmass des Problems scheint nun jedoch eine noch nie dagewesene Dimension erreicht zu haben. In einem Beitrag der Tamedia-Zeitungen von diesem Mittwoch sagt Katja Berlinger, Geschäftsführerin von Swiss Medi Kids, einem Kinder-Permanence-Netzwerk: «Ich fürchte, dass wir im Winter an den Anschlag kommen werden.» Auch das Echo der Zeit berichtete, Kinderärzt*innen und Spitäler stossen an ihre Grenzen.

Bajour fragt sich nun: Liegt die Überlastung im Basler UKBB womöglich auch daran, dass es in den Praxen zu wenig Kinderärzt*innen gibt, beziehungsweise diese zu wenig Kapazitäten haben und sich Familien deshalb übermässig oft an das Kinderspital wenden?

«Es müssen mehr Kinder- und Jugendärzt*innen ausgebildet werden, um den Bedarf zu decken.»
Marc Sidler, Präsident von Kinderärzte Schweiz

Während das Gesundheitsdepartement Basel-Stadt diesen Notstand nicht pauschal bestätigen möchte, meint Marc Sidler, Präsident von Kinderärzte Schweiz, dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzt*innen in der Praxis: «Das Angebot in der Praxis deckt die Nachfrage nicht mehr.» Vor allem in ländlichen Regionen gebe es zu wenig Kinderärzt*innen, so beispielsweise im Oberbaselbiet.

Aber auch in der Stadt arbeiteten Kinderärzt*innen oft länger als 65 Jahre, weil sie keine Nachfolge fänden. Dies habe auch gesellschaftliche Gründe: Heute bestehe zunehmend der Wunsch nach Teilzeitarbeit in der Kinderarztpraxis, dies habe auch – aber nicht ausschliesslich – mit der «Feminisierung in der Medizin» zu tun. Vor allem Medizinerinnen wollten Teilzeit arbeiten. Somit brauche es oft zwei bis drei Kinderärzt*innen, um eine Praxis, welche bisher von einer Fachperson geführt wurde, weiterzubetreiben.

In der Pflicht sieht Sidler demnach die Politik und die Behörden: «Es müssen mehr Kinder- und Jugendärzt*innen ausgebildet werden, um den Bedarf zu decken.»

Das Basler Gesundheitsdepartement zeigt sich in dieser Hinsicht proaktiv. Mediensprecherin Anne Tschudin schreibt: «Weil Ärzt*innen in der Grundversorgung, also Haus- und Kindermedizin, fehlen, haben wir begonnen, Gegensteuer zu geben, indem wir die Neuzulassung von spezialisierten Arztpraxen restriktiver handhaben.» So werde versucht, mehr Ärzt*innen in die Disziplinen der Grundversorgung zu bringen. Und: «Wir sind weiter offen für Überlegungen, den Zugang in der Kindermedizin zu flexibilisieren.» 

 «Fieber ist etwas Gutes!»

Es braucht wohl aber auch eine Aufklärung der Eltern. Darüber scheinen sich zumindest die Basler Kinderärzt*innen einig zu sein. Der Tenor ist eindeutig: «Eltern rennen zu schnell zum*zur Kinderärzt*in.» Dies sagt eine medizinische Angestellte einer der grössten Basler Kinderarztpraxen. Kaum jemand versuche heute noch, hohes Fieber mit Hausmitteln zuhause wegzubringen. Dabei sagt sie: «Fieber ist etwas Gutes!» Der Körper müsse lernen, selbständig ein Abwehrsystem aufzubauen.

Und auch die mittlerweile pensionierte Linda Voëlin, die mit weiteren Kolleg*innen die erste Basler Gemeinschaftspraxis für Pädiatrie im St. Johann aufgebaut hat, sagt: «Viele rennen selbst wegen einer banalen Erkältung ins Kispi», wie sie das Kinderspital liebevoll nennt. 

«Man verlangt sofort eine*n Fachärzt*in», kritisiert auch Sidler, der selbst in Binningen praktiziert. «Möglicherweise hat die Coronapandemie den Eindruck hinterlassen, dass es einfach einen Test braucht, ob man ‹gesund› oder ‹krank› ist.» Man verlasse sich nicht mehr auf den klinischen Eindruck. Er sagt: «Liebe Eltern, vertraut auf euren elterlichen Instinkt und auf euer Bauchgefühl!»

«Eltern rennen zu schnell zum Kinderarzt.»
medizinische Angestellte einer der grössten Basler Kinderarztpraxen

Die Eltern seien heute stärker unter einem gesellschaftlichen Druck als früher – Kinder dürften kaum mehr krank sein und Eltern bekämen Schwierigkeiten, wenn sie wegen eines kranken Kindes am Arbeitsplatz fehlten. Trotz Beratung und Termin in der Arztpraxis (allenfalls erst im Tagesverlauf) wollten viele Eltern ihr Kind sofort untersucht haben und suchten stattdessen die Notfallstation im UKBB auf, wo es folglich zu sehr langen Wartezeiten komme, meint Sidler.

Zudem fehle den Familien, unter anderem mit Migrationshintergrund, aber auch in (Klein-)Familienstrukturen, teilweise das soziale Umfeld wie etwa die Grosseltern, welche die Eltern unterstützen können mit der Betreuung kranker Kinder und ihrem Wissen aus «Oma’s Apotheke». So besteht die Hoffnung, dass ein Kind durch eine Konsultation in der Kinderarztpraxis schneller gesund wird. Doch Sidler sagt mit einem Augenzwinkern: «Eine Erkältung dauert sieben Tage zu Hause und eine Woche, wenn ich zu*r Ärztin gehe.»

«Die Hausmittelapotheke bei uns ist gross»

Wir haben unsere Gärngschee-Familien gefragt, wie schnell sie selbst ihr krankes Kind ins Kinderspital bringen. So findet beispielsweise Isabelle Joss, ihr Kinderarzt im Dorfe habe keine Kapazitäten mehr gehabt, um sie anzunehmen: «Was bleibt einem da anderes übrig, als ins UKBB zu rennen?», fragt sie. Jessy Jay findet: «Nicht für jedes Wehwehchen braucht es einen Arztbesuch.» Doch wenn nötig, gehe sie zum Kinderarzt. 

Viele der Kommentierenden setzen aber durchaus auf bewährte Hausmittel. So meint Sarina Carisch: «Die Hausmittelapotheke bei uns ist gross.» Und Miriam Münch behandelt ihre Familie als Apothekerin berufsbedingt «zuerst mal selber».

Wahrscheinlich ist das der Punkt: Wer auf ein medizinisches Grundwissen zurückgreifen kann, hat es bestimmt leichter. Als Eltern lernt man sein Kind mit jedem Tag besser kennen. Gerade bei Säuglingen ist die Angst selbst bei einem kleinen Schnupfen schnell einmal gross, vielleicht zu gross. Eine Mutter meint, sie sei mit ihrer Tochter anfangs selbst wegen eines eingewachsenen Zehennagels oder eines Zeckenbisses auf den Notfall gefahren, nun, da die Tochter älter ist, würde sie das nicht mehr tun. Vertrauen und Bauchgefühl wächst mit jedem zusätzlichen Zentimeter.

Sidler von Kinderärzte Schweiz bringt es dennoch auf den Punkt: «Was für einen persönlich ein Notfall ist, entscheidet am Ende doch jede*r selbst.»

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Das ist Valerie (sie/ihr):

Nach einem ersten journalistischen Praktikum bei Onlinereports hat Valerie verschiedene Stationen bei der Neuen Zürcher Zeitung durchlaufen, zuletzt als Redaktorin im Bundeshaus in Bern. Es folgten drei Jahre der Selbständigkeit in Berlin, bevor es Valerie zurück nach Basel und direkt zu Bajour zog, wo sie nun im Politikressort tätig ist.

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