Freiheit, Gleichheit, (Un)fruchtbarkeit: Andrin will das Samenleiterventil
Die Antibabypille ist auf dem Rückzug, seit Jahrzehnten wird über alternative Verhütungsmethoden für Männer geredet. Der Revolution fehlt das Geld, das Personal wäre vorhanden. Porträt eines sanften Rebellen.
Andrin sieht nicht aus wie ein Punk mit seinen weichen blonden Haaren und dem Dreitagebart. Aber gemessen an seinen Plänen ist das, was er vorhat, nicht weniger als eine Kulturrevolution in Sachen Sex.
Andrin will sich ein Samenleiterventil einsetzen lassen, weil er, wie er sagt, «ein Zeichen setzen will, dass die Verhütung nicht nur Sache der Frau ist». Das ist das eine. Ein anderes Wort, das Andrin oft benutzt, wenn er über Verhütung und Sex nachdenkt, ist «Unzufriedenheit».
Andrin ist 26 Jahre alt, zirca einsneunzig gross, blonde Haare, an einem Nachmittag im März trägt er ein blaues Hemd in Jeansoptik. Setzt sich an den Tisch im Bajour-Büro an der Clarastrasse und wir versuchen erst einmal zu verstehen, wie einer wie dieser Andrin zum Verfechter sexueller Gleichberechtigung geworden ist.
Andrin kommt vom Dorf. Er ist also nicht, wie man annehmen könnte, mit einer grossstädtischen Entgrenzung der eigenen Sexualität aufgewachsen, die sich aus wilden hedonistischen Erfahrungen in dunklen Berliner Clubs zusammensetzt. Im südbadischen Herten, wo Andrin herkommt, war das Berghain sehr weit weg. Im Garten hoppelten Hasen umher und während der Dorffasnacht wurden die Leute «ein bisschen konservativ», erzählt er.
Er ist der zweitälteste Sohn unter sieben Geschwistern. Die Eltern lassen sich scheiden als er pubertiert, mit 13 geht er von der Schule, eine Hauswirtschaftslehre schmeisst er anderthalb Jahre später wieder hin. «Bin einfach rausgelaufen.» Dann folgen Jahre jugendlicher Herumtreiberei, keine Verantwortung, kein Ziel, kein Kompass. «Mit 18 habe ich mich zusammengerauft und bin nochmal für ein Jahr zu Hause eingezogen, das war die beste Entscheidung.» Er lässt sich zum Fachmann Betreuung ausbilden und arbeitet mit behinderten Jugendlichen. Das tut er bis heute.
Andrin führt heute eine kleine Firma für «soziale Kunst und Gartengestaltung» und lebt in Basel. Dort besucht ihn im Sommer 2019 der reichweitenstarke deutsche Jugendsender «Das Ding» – um mit ihm über seinen Wunsch eines Kippschalters im Hodensack zu sprechen. Durch das kleine Video wird auch Bajour auf Andrin aufmerksam.
«Ich war schon relativ früh unzufrieden mit den Verhütungsmethoden für Männer», erzählt Andrin. Kondome hätten sein Lustempfinden geschmälert, «aber was anderes gibt’s ja nicht», sagt er und fährt fort: «Das ist doch erstaunlich.» Auf YouTube ist er dann per Zufall auf eine Reportage über den Erfinder des Samenleiterventils, Clemens Bimek, gestossen. Bimek sagt, er verhüte seit 20 Jahren erfolgreich mit seiner Erfindung, die er sich selber hat einsetzen lassen.
Als es am Ende der Videoreportage auf YouTube hiess, es würden Probanden für die klinische Studie zum Samenleiterventil gesucht, da tippte Andrin nach kurzem Überlegen seine Kontaktdaten in ein Formular und wurde kurz darauf von Bimek persönlich angerufen.
Er freue sich, sagte der Erfinder, ihm mitteilen zu können dass Andrin einer von 6000 Interessenten sei. Das war vor einem Jahr. Seither ist nicht viel passiert.
Man kann sich das Samenleiterventil vorstellen wie eine kleine Schleuse zwischen Hoden und Penis. Diese Schleuse von der Grösse eines Gummibärchens wird im Hodensack am Samenleiter angebracht und lässt sich per Umlegen eines Schalters kontrollieren. Liegt der Schalter körperabwärts, werden die fruchtbaren Spermienzellen durch das Ventil blockiert und in den Körper abgeleitet – der Mann ist dann unfruchtbar.
Anders als bei einer Vasektomie, also dem Durchtrennen der Samenleiter, kann diese Unfruchtbarkeit ohne operativen Eingriff wieder rückgängig gemacht werden. Dazu wird ein Sicherheitsstift gelöst, dann der Kippschalter im Hodensack ertastet und umgelegt. Die fruchtbaren Zellen mischen sich dann wieder unter das Ejakulat und das Sperma wird wieder fruchtbar. Wichtig: Die Unfruchtbarkeit tritt nicht unmittelbar nach Umlegen des Schalters ein, sondern die Samenflüssigkeit kann noch für 30, 40 Ejakulationen fruchtbare Samenzellen enthalten.
Für Frauen gibt es eine ganze Reihe von Verhütungsmitteln, die eine Schwangerschaft auf hormoneller, mechanischer oder alternativer Ebene verhindern. Die Antibabypille galt seit ihrer Zulassung in den 1960er-Jahren als goldener Schlüssel zur sexuellen Befreiung von Menschen mit weiblichen Geschlechtsorganen, die endlich selber entscheiden konnten, ob sie schwanger werden wollten oder nicht.
Die Forschung an der Pille war allerdings kein Selbstläufer. Konservative, Patriarchen und die Kirche hatten daran kein Interesse und so brauchte es feministische Mäzeninnen wie die US-Millionärin Katharine Dexter McCormick, die der Entwicklung mit Millionenbeträgen auf die Sprünge halfen.
Aber die Revolution hatte neben dem finanziellen auch einen gesundheitlichen Preis. Die stets laute Kritik an den Nebenwirkungen, Stimmungsschwankungen, Depressionen, Libidoverlust, Skandale um das Thromboembolierisiko führte in den letzten Jahren zumindest in westlichen Gesellschaften und der Schweiz zu einem schleichenden Niedergang der Pille. Die letzte, breit angelegte Studie des Bundesamts für Statistik zeigt: Während bei den 25- bis 34-Jährige 1992 62 Prozent mit der Pille verhüteten, waren es 2017 noch 39 Prozent.
Dafür hat das Kondom wieder an Popularität zugelegt. Es ist nämlich nicht so, dass sich junge Männer gar nicht um die Verhütung kümmern, zumindest ist das die Erkenntnis aus einer Umfrage der Organisation Sexuelle Gesundheit Schweiz. 65 Prozent aller jungen Männer zwischen 16 und 20 Jahren gaben an, sich über Verhütung zu informieren, immerhin 57 Prozent beteiligten sich nach eigenen Aussagen an den Kosten.
Was ausserdem an Popularität zugelegt hat, ist unter Männern offenbar der Wunsch nach alternativen Verhütungsmethoden.
Kastrationsangst und Lippenbekenntnisse
Andrin sagt, mit dem Kondom sei der Sex irgendwie weniger intensiv. Ausserdem stört ihn den Abfall, den die Kondome verursachten. Das Samenleiterventil funktioniert mechanisch – kein Abfall, keine Hormone, allerdings müsste der Mann sich dafür einem Eingriff am Hodensack unterziehen und da wird’s jetzt ganz brenzlig, weiss Andrin, «da haben viele Typen die allergrösste Angst davor».
Andrin weiss das, weil er natürlich die Kommentare auch gelesen hat, die von männlichen Usern in den Foren und auf YouTube hinterlassen werden. Das mit der neuen Verhütungsmethode sei eine nice Sache heisst es da, aber sich am Penis rummachen lassen? Niemals!
▶️ Wir haben Andrin mit ein paar der tollkühnsten YouTube-Kommentare zu seinem Vorhaben konfrontiert. Seine Reaktionen darauf siehst du im Video weiter unten.
Anruf beim Geschlechterforscher Fabian Hennig. Der hat in Basel seine Dissertation über Männlichkeitsbilder und die Forschungsgeschichte der Verhütung vorbereitet und promoviert heute am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin in Mainz. Er sagt: Dass die Forschung auf dem Gebiet der Verhütungsmittel für den Mann so rückständig sei, habe viele Gründe. Aber einer davon sei, man müsse das so sagen, eine Angst vor Eingriffen am Geschlecht, ja, das gehe in Richtung Kastrationsangst.
Das klinge jetzt natürlich nicht so fortschrittlich, sagt Hennig, aber er könne in den zahlreichen Studien und Machbarkeitsstudien nun mal keine Evidenz erkennen, dass es den Männern wirklich ein Anliegen sei, die Entwicklung von alternativen Verhütungsmethoden einzufordern. «Der Satz, ‹wenn es eine Antibabypille für den Mann gibt, dann würde ich die nehmen›, kommt uns schnell über die Lippen, solange diese Pille nicht existiert», sagt Hennig.
Die Forschung an der Antibabypille wird vor allem Männer zugeschrieben, aber es waren Frauenrechtlerinnen wie Margaret Sanger oder die oben genannte Geldgeberin Katherine Dexter McCormick, die der Forschung ideellen und finanziellen Vorschub leisteten. Die Forschung für alternative Verhütungsmethoden für Männer wäre dringend auf solche Vorreiter*innen angewiesen. Zahlreiche Versuche, die Forschung über «die Pille für den Mann» voranzutreiben, versanden nicht zuletzt deshalb, weil niemand bereit ist, Geld zu investieren.
Auch die Entwicklung des Samenleiterventils scheiterte bislang an dieser Hürde. Clemens Bimek, ein gelernter Bauarbeiter, der heute in Aargau lebt, braucht eine Million Franken, um die klinische Prüfung des Samenleiterventils anzuleiern. Aber trotz zahlreicher Medienberichte fehlt bislang das Geld. Auf seiner Homepage bittet der Erfinder um Geduld. Und Spenden.
Oder ist die Idee vielleicht gar nicht so gut, wie sie klingt? Um die Seriosität der Erfindung zu prüfen, fragen wir einen Experten. Der Urologe des Universitätsspitals Basel, Ulrich Wetterauer, hält das Samenleiterventil für eine «pfiffige Idee», die grundsätzlich plausibel klingt. Für eine Zulassung seien aber ausführliche Studien mit Probanden im dreistelligen Bereich vonnöten. Wetterauer glaubt, die Erfindung wird es schwer haben, Risikokapital für die Entwicklung aufzutreiben. Die Erfolgsquote für die erfolgreiche Umkehr einer Vasektomie hinsichtlich der Durchgängigkeit liege mittlerweile bei 90 Prozent, womit die Medizin mit diesem Eingriff eine bewährte Alternative zum Kondom anbieten könne.
Zusammengefasst: Ideen für eine Reformation der Verhütungsfrage sind zwar vorhanden. «Aber es sieht so aus, als flögen reiche Jungs mit ihrem vielen Geld lieber zum Mars oder schickten Satelliten ins All, anstatt in alternative Verhütungsmethoden zu investieren.» Sagt der Geschlechterforscher Hennig zum Abschluss unseres Gespräch, halb im Scherz.
Männer, da ist noch Luft nach oben
Zurück ins Bajour-Büro, wo wir Andrin, dem Probanden in spe, gegen Ende dieser Begegnung noch ein paar grundsätzliche Fragen über den Tisch reichen. Ob er glaube, dass er sowas wie die Speerspitze einer neuen, kritischen Männlichkeit sei, wollen wir wissen. Ob der neue Feminismus ideell bald voll durchschlagen und Männer wie ihn mit brennenden Fackeln auf die Hügel der Pharmakonzerncampusse treiben werde, damit diese endlich die Forschung ankurbeln?
Ob wir hier, mit seinem Wunsch nach einem Kippschalter zwischen den Beinen, auch einen tiefgreifenden Kulturwandel am Werk sehen?
Andrin wiegt den Kopf, winkt ab, sagt, er wolle sich da nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Er würde sich auch nicht als Feminist bezeichnen, er will einfach Ruhe. Nicht gleich ganz Ruhe, wie nach einer Vasektomie, aber einfach die Gewissheit, beim Sex ohne Kondom keine Kinder zeugen zu können.
Dann, das Interview hat den offiziellen Teil schon hinter sich, kommen wir doch noch auf das Schweigen und den Umgang unter Männern mit «diesen Themen» zu sprechen. Uns fällt auf, dass das Internet voll ist von Blogs und Instagram-Accounts, die Aufklärungsarbeit über die Anatomie der Vulva leisten, die Verhütungsmethoden wie den Nuvaring oder Kupferspirale, Diaphragma oder die Verhütung mit dem Thermometer gegeneinander abwägen. Insta-Lives finden statt, Hashtags trenden und verglühen – kurz, das Infotainment in Sachen Aufklärung für diverse Geschlechter ist sehr ordentlich.
Cis-Typen sitzen derweil zu Hause auf dem Sofa, kraulen sich dort entspannt an den Eiern und wenn Elon Musk das Foto einer Rakete ins Internet hochlädt, schreiben wir:
Hehe, Pimmel.
Männers, wie sollen wir’s sagen: Da ist noch Luft nach oben.
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«Erstmal Nachts am Hoden rumklicken lol» – Wir haben Andrin gebeten, auf ein paar Youtube-Kommentare zu seinem Vorhaben zu reagieren:
__________ PS: Apropos Luft nach oben und für alle, die das wissen müssen: Beim Benutzen des Kondoms soll man darauf achten, dass vor dem Abstreifen auf das erigierte Glied in der Kammer an der Spitze keine Luft drin ist. Das Kondom kann sonst platzen. Diese Website erklärt, wie man die passende Kondomgrösse herausfindet.
PPS: Wir sind sehr interessiert an Hinweisen auf Social Media Accounts, die Aufklärungsarbeit über männliche Verhütung, Gesundheitsfragen und Anatomie des biologisch männlichen Geschlechts leisten. Wir teilen diese Hinweise dann gerne mit der Bajour-Community. Nachrichten gerne an [email protected]
PPPS: Wenn du den Text bis hierher gelesen hast, dann haben wir etwas richtig gemacht und das freut uns! Für unsere Reportagen und Porträts legen wir Wert ausführliche Recherche. Du kannst unser Reporter*innen-Team unterstützen und Geschichten wie möglich machen. Danke ❤️.