«Wirtschaft ist mehr als nur Markt»
Unbezahlte Arbeit hat einen schlechten Ruf. Zu unrecht. Um besser zu leben, brauchen wir mehr davon.
Wirtschaft ist mehr als nur Markt. Weit mehr als die Hälfte unser produktiven Bemühungen leisten wir auch heute noch als unbezahlte Arbeit. Diese hat gegenüber der bezahlten erhebliche Vorteile, die aber weder von der Wirtschaftstheorie erkannt, noch von der Wirtschaftspolitik genutzt werden. Dabei könnten wir mit einer Umlagerung von bezahlter zu unbezahlter Arbeit unsere Lebensqualität entscheidend steigern.
Warum das so ist, haben Fred Frohofer und ich in unseren Buch «Eine Ökonomie der kurzen Wege» erläutert.
Das ist die grundlegende Idee in Kürze: Wenn alle ihre Pizza selber backen, statt sie beim Pizza-Kurier zu bestellen, dann muss niemand Werbung machen, Rechnungen stellen, Personal rekrutieren, die Wege sind kürzer. Zwar dauert die Arbeit des Backens länger, aber vermutlich macht sie mehr Spass als die des Fliessband-Pizzaiolos oder -Kuriers.
Ähnliches gilt auch, wenn wir unsere Kinder selber hüten, Kleider selber nähen, selber Gemüse anpflanzen, gemeinsam Singen oder Jassen, statt ins Kino zu gehen. Das heisst nicht, dass wir wie einst wieder alles selber machen sollten. Um Autos zu bauen oder Impfstoffe zu entwickeln, brauchen wir die Marktwirtschaft mit ihren spezialisierten Fachleuten und Unternehmen. Aber die Beispiele rufen uns in Erinnerung, dass es neben dem Markt immer schon einen zweiten Mechanismus gab und gibt, mit dem wir unsere produktiven Tätigkeiten koordinieren. Nennen wir ihn die Bedarfswirtschaft.
«Die Bedarfswirtschaft ist schlank. Wir sind genetisch für diese Art von Austausch programmiert.»
Die Bedarfswirtschaft reagiert direkt auf die (eigenen) Bedürfnisse der wirtschaftenden Personen, der Familie, Sippe, oder Nachbarschaft. Sie braucht weder Werbung, noch Bewerbungen (man wird quasi in die «Firma» geboren), keine Arbeitsmarktbürokratie und keinen Sozialstaat. Die Bedarfswirtschaft ist schlank. Wir sind genetisch für diese Art von Austausch programmiert. Einen Schwachpunkt hat die Bedarfswirtschaft dennoch: Sie bleibt im eigenen engen sozialen Netz gefangen.
Die Marktwirtschaft sprengt diese Fessel. Dank der Erfindung des Geldes können wir auch für Wildfremde produzieren und Handel treiben. Das erlaubt es, mit wenig Aufwand grosse Mengen herzustellen und die Stückkosten massiv zu senken. Aber je globaler die Marktwirtschaft ist, desto komplexer sind die Abläufe und länger die Wege. Vor lauter monetärer Nachfrage geraten die eigentlichen Bedürfnisse aus dem Blickfeld. Der Markt droht zum Selbst- und Irrläufer zu werden.
Um ihn wieder zu erden, müssen wir Markt- und Bedarfswirtschaft richtig dosieren. Dazu müssen wir erst einmal erkennen, wie sich die beiden ergänzen und konkurrenzieren. Sie beanspruchen beide unser beschränktes Zeitbudget. Indem der Arbeitsmarkt von den Menschen zu viel (zeitliche) Flexibilität und Mobilität verlangt, schwächt und zerstört er die «Betriebsstätten» der Bedarfswirtschaft – die Familien und Nachbarschaften. Die reinen Markt-Ökonom*innen können diesen Nachteil nicht sehen. Für sie zählt nur, was einen Preis hat.
«Wenn wir die ‹Rahmenbedingungen› der Bedarfswirtschaft verbessern und sie ihre Stärken voll ausspielen lassen, dann können wir die bezahlte Arbeit auf etwa 20 Wochenstunden reduzieren.»
Der weite Blickwinkel der «Ökonomie der kurzen Wege» vermeidet diesen groben Fehler und eröffnet völlig neue Perspektiven. Diese zeigen wir in unserem Buch konkret auf: Wenn wir die «Rahmenbedingungen» der Bedarfswirtschaft verbessern und sie ihre Stärken voll ausspielen lassen, dann können wir die bezahlte Arbeit auf etwa 20 Wochenstunden (pro Erwachsenen) reduzieren und das Problem der Arbeitslosigkeit weitgehend lösen und die Umwelt massiv entlasten.
Das ist nicht die, sondern bloss eine mögliche Zukunft. Diese kann man allerdings nur sehen, wenn man die Scheuklappen der reinen marktwirtschaftlichen Lehre ablegt.
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Fred Frohofer, Werner Vontobel, Eine Ökonomie der kurzen Wege, Von der Marktwirtschaft zur Bedarfswirtschaft, Rotpunktverlag.
Werner Vontobel ist gebürtiger Basler und einer der bekanntesten Wirtschaftsjournalisten der Schweiz. Auf Bajour bringt er sich regelmässig zu volkswirtschaftlichen Themen, konjunkturpolitischen Grundsatzdebatten und ökonomischen Sinnfragen ein.