Nicht mal «satt und sauber»

Im LIV, einer dem Kanton unterstellten Institution für Menschen mit Behinderung, sollen «absurd schlechte Arbeitsbedingungen» herrschen. Nun gehen Mitarbeitende mit den Vorwürfen an die Öffentlichkeit.

Behinderung
Die Mitarbeitenden vom LIV sagen. sie hätten nur noch Zeit für das Nötigste. Ausflüge an die frische Luft gäbe es kaum noch.

«Ich möchte meine Klient*innen menschenwürdig begleiten, doch wegen des Personalmangels kann ich sie manchmal nur noch einmal pro Woche duschen oder baden.» Das sagt David, der im richtigen Leben anders heisst, in diesem Beitrag aber anonym bleiben möchte. Die Zeit reiche nur noch für das Nötigste, nicht mal der minimale Pflegestandard von «satt und sauber» könne immer garantiert werden. «Das entspricht nicht meinem Anspruch an eine menschliche Begleitung.»

250 Mitarbeitende sind beim LIV angestellt. Die drei Buchstaben stehen für «Leben in Vielfalt». Die Basler Institution für Erwachsene mit Behinderung ist Wohnheim und Tagesstätte zugleich. David ist einer von vielen Mitarbeitenden, die sich über aus ihrer Sicht «absurd schlechte Arbeitsbedingungen» im LIV beklagen. Hört man sich bei Menschen aus dem Sozialbereich um, sind die Vorwürfe stadtweit schon längst bekannt. 

Die Aussagen sind bemerkenswert, auch weil die Mitarbeitenden vom Kanton angestellt sind. Vom Staat werden häufig vorbildliche Arbeitsbedingungen erwartet. 

«Ich möchte meine Klient*innen menschenwürdig begleiten, doch wegen des Personalmangels kann ich sie manchmal nur noch einmal pro Woche duschen oder baden.»
David*, LIV-Mitarbeitender

Eine andere Mitarbeiterin, wir nennen sie hier Sandra, erzählt: «Jedes Mal, wenn in meiner Freizeit das Handy klingelt, bekomme ich einen Magenkrampf.» Und: «In zwei von drei Fällen ist es dann auch das Geschäft, das mich bittet, einzuspringen, weil andere Mitarbeitende ausfallen.» Wegen Krankheit. Wegen Überlastung.

Die, die gesund sind, müssen sich quasi dauernd bereithalten. Geklagt wird über 72-Stunden-Schichten, Bandscheibenvorfälle wegen körperlicher Überlastung und Burnouts. Selbst Auszubildende werden laut Mitarbeitenden 7 Tage am Stück (statt der üblichen 5) eingesetzt.

«Es ist auch eine Frage der Sicherheit, wenn auf einer Station statt drei plötzlich nur noch eine Person arbeitet.»
Sandra*, LIV-Mitarbeitende

Das LIV betreibt in Basel sechs Standorte mit Wohngruppen und drei Tageszentren. An jenem Standort, an dem Sandra* arbeitet, ist der beklagte Personalmangel auch noch aus einem anderen Grund problematisch: Hier wohnen viele Menschen mit Verhaltensauffälligkeiten, nicht selten komme es zu Fremd-, Auto-, oder Sachaggressionen. «Es ist auch eine Frage der Sicherheit, wenn auf einer Station statt drei plötzlich nur noch eine Person arbeitet.»

Die Stimme der Klient*innen

Die geschilderten Probleme sind der Geschäftsleitung offenbar bekannt. Bereits in ihrem Geschäftsbericht 2021 schreibt Geschäftsführerin Martina Bötticher: Sie mache sich intensiv Gedanken darüber, was zur Verbesserung der Arbeitssituation getan werden könne: «Braucht es einen Hilferuf?»

Die Mitarbeitenden finden: «Ja!» Denn: Trotz mehrerer proaktiver Gespräche, in denen die Mitarbeitenden ihre Anliegen gegenüber der Geschäftsleitung darlegten, hat sich die Situation laut ihren Aussagen nicht verbessert. Weshalb sie nun an die Öffentlichkeit gehen.

Vor einem Jahr haben sich die LIV-Mitarbeitenden an den VPOD gewendet und begonnen, sich gewerkschaftlich zu organisieren. «Es war erstmal ein Auskotzen», wie Alexandra Aronsky, zuständig für den Sozialbereich und damit für das LIV, auf Anfrage sagt. Das Resultat des Austausches ist eine Petition, die heute Freitag dem Regierungsrat übergeben wird, begleitet von einer Protestaktion auf der Grossbasler Seite der Mittleren Brücke.

Fast 90 Prozent der 220 Mitarbeitenden der Institution haben die Petition unterschrieben. «Das ist viel», so Aronsky weiter. Sie spricht von einem «starken Zeichen», zumal auch noch viele der Mitarbeitenden krank geschrieben seien. 

Alexandra Aronsky
«Es war erstmal ein Auskotzen.» Alexandra Aronsky ist beim VPOD für den Sozialbereich und damit für das LIV zuständig. (Bild: zvg)

Gefordert wird nicht mehr Lohn, sondern 30 Prozent mehr direktes Betreuungspersonal, die (Wieder-)Einführung des Zeitzuschlags, die verbindliche Planung der Überstundenkompensation sowie eine generelle Senkung der Arbeitslast. Die Forderungen könnten angesichts des bestehenden Personalmangels im Sozialbereich schwer umsetzbar sein. Laut Aronsky seien anständige Arbeitsbedingungen die Voraussetzung, um mehr Personal zu finden. 

Dass nun eine Petition eingereicht wird, freue selbst die Geschäftsleitung des LIV, heisst es hinter vorgehaltener Hand. Beim Kanton zuständig ist das Wirtschaftsdepartement. Regierungsrat Kaspar Sutter (SP) hingegen soll andere Wege bevorzugt haben. Doch der Austausch mit dem Kanton, der über das Amt für Sozialbeiträge läuft, war offenbar wenig zielführend. Dazu Stellung nehmen wollen die Verantwortlichen indes nur bedingt.

Geschäftsführerin Martina Bötticher verweist für die Beantwortung von Medienanfragen an das WSU. Also an Regierungsrat Kaspar Sutter. Dieser schreibt auf Anfrage: «Die aktuelle Situation im LIV nehme ich sehr ernst. Der Austausch mit den betroffenen Mitarbeiter*innen ist mir sehr wichtig, weswegen ich mich am Freitag mit einer Delegation von Mitarbeiter*innen des LIV und des VPOD zu einem Austausch treffen werde.»

«Die aktuelle Situation im LIV nehme ich sehr ernst. Der Austausch mit den betroffenen Mitarbeiter*innen ist mir sehr wichtig.»
Regierungsrat Kaspar Sutter

Das beschriebene Problem ist offenbar kein kantonales. Auch andere Institutionen in anderen Kantonen beklagen Personalmangel. Das sei auch einer der Gründe, weshalb sich die LIV-Mitarbeitenden nun öffentlich zu Wort gemeldet haben. Sie möchten «die Stimme der Klient*innen» sein – und damit auch Mitarbeitende anderer Institutionen zum Handeln motivieren.

Ihnen gehe es in erster Linie um das Wohlbefinden der Klient*innen, sagen sie im Gespräch mit Bajour. Dafür spiele die Gesundheit der Mitarbeitenden aber auch eine Rolle. Die Mitarbeitenden könnten «nicht einfach nicht arbeiten» und auf ihre Freitage beharren–  und so Klient*innen unbetreut lassen. 

Auf politischer Ebene ist bereits einiges am Tun. Auf nationaler Ebene wird vom VPOD  die Anpassung des Arbeitsgesetzes gefordert; demnach soll es künftig auch für Heim-Mitarbeitende vorgeschriebene Regenerationszeiten geben.  

«Generell bin ich der Meinung, dass insbesondere Schichtdienst Leistende mehr Freizeit für Familie und Erholung benötigen und dazu gehören auch attraktive Arbeitsplätze.»
Felix Wehrli, SVP-Grossrat

Die Anpassung würde den LIV-Mitarbeitenden zwar nichts bringen, da sie als Kantonsangestellte dem öffentlich-rechtlichen Personalgesetz unterstellt sind. Doch auch im Grossen Rat sind derzeit mehrere Vorstösse in der Pipeline, die eine Reduktion der Arbeitszeit von Kantonsangestellten fordern. 

Konkret: eine 40-Stunden- beziehungsweise 38-Stunden-Woche. So möchte SVP-Grossrat Felix Wehrli prüfen, ob die sich durch die 40-Stunden-Woche ergebenden 12 arbeitsfreien Tage angebracht wären – allerdings vorerst nur für die Polizei. Auf Anfrage sagt er: «Generell bin ich der Meinung, dass insbesondere Schichtdienst Leistende mehr Freizeit für Familie und Erholung benötigen und dazu gehören auch attraktive Arbeitsplätze.»

SP-Grossrätin und Gewerkschafterin Toya Krummenacher setzt sich schon länger für eine 38-Stunden-Woche ein, welche allen Branchen zugute kommen soll. Sie verspricht zu klagen, sollte der Regierungsrat nur einzelnen Berufsgruppen das Privileg einer Arbeitszeitverkürzung zusprechen. Trotz der unterschiedlichen Schwerpunkte: Die beiden Parlamentarier*innen dürften ihre Vorstösse dennoch gegenseitig unterstützen. Bei den Bürgerlichen dürfte das aber zu Diskussionen führen. In Bezug auf die Arbeitszeitreduktion bei der Polizei gab etwa LDP-Grossrat Michael Hug in der bz zu bedenken: «Das hätte erhebliche Mehrkosten zur Folge». 

Den Mitarbeitenden ist derweil wichtig zu betonen, dass sie nicht das LIV grundsätzlich schlechtreden wollen. Sie fühlen sich durchaus wertgeschätzt und gefördert. Alle drei Interviewten sagen: «Wir identifizieren uns mit dem LIV.» 

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Das ist Valerie (sie/ihr):

Nach einem ersten journalistischen Praktikum bei Onlinereports hat Valerie verschiedene Stationen bei der Neuen Zürcher Zeitung durchlaufen, zuletzt als Redaktorin im Bundeshaus in Bern. Es folgten drei Jahre der Selbständigkeit in Berlin, bevor es Valerie zurück nach Basel und direkt zu Bajour zog, wo sie nun im Politikressort tätig ist.

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