Die unbestechliche Mama na Kinga
Judith Raupp berichtet aus dem Kongo. Im Vergleich dazu wirkt ihre Heimat Lörrach «kuschelig». Ausser, wenn hiesige Medien ihre Artikel so abändern, dass sie ins Afrika-Klischee passen. Ihr Film «Hauptpreis Liebe» will das Gegenteil.
Zu Beginn dieser Geschichte ein Disclaimer. Mehr als ein halbes Jahr lang habe ich mit Judith an dem Film «Hauptpreis Liebe» gearbeitet, wir haben Stunden und Tage über Szenen, Kameraführung, einzelne Sätze und die Aussprache des Namens «Valentin» diskutiert – kennen uns also besser, als das normalerweise bei Porträts der Fall ist.
Darum fällt es mir auch gar nicht so leicht, einen Anfang zu finden. Soll ich mit dem Abend beginnen, als Judith mir erzählte, dass in ihrer Nachbarschaft geschossen wird und das erste Mal das Wort «Krieg» fiel?
Mit unserem Treffen in Zürich einige Wochen zuvor, als ich – ohne damit zu rechnen – von einer ziemlich harten Kindheit im Lörrach der 1960er und 1970er-Jahre erfahren habe?
Oder von den vielen Mails, in denen Judith stets so viele unglaubliche Erlebnisse und Ideen beschreibt, dass man als immermüder westlicher Mensch schon mal auf den Gedanken kommen kann, dass das Leben hier sich vielleicht nicht nur langweilig anfühlt – sondern sogar langweilig ist?
Ich glaube, ich fange mit den Ideen an. Eine davon erreichte im Frühjahr 2021 Elephant Stories, eine Agentur von selbständigen Storytellern, die ich einige Woche zuvor gegründet hatte. Judith Raupp schrieb darin vom Brautpreis. Das ist ein Brauch, der kongolesische Paare dazu bringt, ihre Beziehungen einem völlig eigenen Zeitplan zu unterwerfen.
Denn schon bald nach dem Kennenlernen – vermutlich etwa zu dem Zeitpunkt, an dem hier viele Paare beginnen, fast jede Nacht zusammen zu verbringen – beginnen die kongolesischen Paare zu sparen. Das Ziel ist überall das gleiche: Man will sich nah sein, vielleicht ein gemeinsames Leben führen. Doch im Kongo sind die Kirchen so mächtig, dass vor einer gemeinsamen Nacht die Hochzeit stehen muss – und die Tradition im Kongo will es so, dass vor dieser Hochzeit ein Brautpreis entrichtet werden muss. Und der ist erheblich.
Bei einem Monatslohn von einigen hundert Franken (Valentin, den wir porträtiert haben, verdient etwa 150 Franken im Monat) können leicht einige Jahre vergehen, bis man die erforderliche Summe – meist um die 2000 Franken, oft auch mehr – beisammen hat.
Judith ist Schreiberin. Seit ihren ersten Basketball-Berichten für das Oberbadische Volksblatt, über Stationen bei der Basler Zeitung, bei Cash und als Schweiz-Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung, hat sie tausende Berichte, Analysen, Reportagen und Interviews verfasst.
Als sie vom Brauch des Brautpreises hörte, war ihre erste Idee ein Text, der die Tradition anschaulich und lebendig beschreiben würde, mit einem Beispiel-Paar, Expert*innen und lokalen Quellen, die das Ganze einordnen.
Wir bei Elephant Stories fanden das interessant – wollten aber mehr. Wir wollten ein Paar kennenlernen, und zwar so richtig. Verstehen, was es wirklich mit einer Beziehung macht, wenn man so lange auf ein gemeinsames Ziel hinsparen muss. Heimlich, denn so wie es Judith beschrieb, ist es in Goma, wo sie und unser Paar leben, durchaus gefährlich, wenn die Leute wissen, dass man einige tausend Franken daheim hat.
Und so überzeugten wir Judith, ihren ersten Film zu drehen. Ich bin heute noch beeindruckt, wie schnell sie sich darauf eingelassen hat.
Judith lebt seit mehr als zehn Jahren mit ihrem Partner im Kongo – eine spontane Entscheidung, für die sie eine der begehrten Festanstellungen bei der Süddeutschen Zeitung kündigte. Man habe sie damals für «völlig bescheuert» gehalten, erinnert sie sich. Mit der gleichen Spontanität sagte sie jetzt auch zu. Sie suchte sich einen Kameramann (als Journalist*innen-Ausbilderin kennt Judith in Goma viele gute Leute) und legte los.
Schon bald erreichten uns die ersten Bilder von Valentin und Melanie, die verliebt mit einer Katze spielten, von ihren Heiratsplänen berichteten, miteinander Motorrad fuhren. Wir waren beeindruckt. Es passierte viel auf diesen Bildern, es gab so viel Material – es war von Anfang an klar, die Auswahl würde nicht einfach werden.
Judith filmte die Hochzeit der beiden, besuchte sie einige Monate später daheim. Dabei geriet sie, wie das im Kongo oft so ist, immer wieder in Schwierigkeiten. Valentin weigerte sich immer häufiger, zu drehen, hatte das Gefühl hinters Licht geführt zu werden (Kann es wirklich sein, dass sich Westler*innen so sehr für eine Alltäglichkeit wie den Brautpreis interessieren? Und warum wurde er immer wieder mit einer grossen, teuren Kamera gefilmt, aber erhielt nie Geld für seine Interviews?).
Als Journalistin und Ausbilderin im Ostkongo ist sich Judith diese Fragen gewöhnt. Um die Finanzierung von unabhängigem Journalismus und um die Pressefreiheit ist es schlecht bestellt. Wer, etwa in einer NGO, gelernt hat, zu schreiben, zu filmen oder zu schneiden, lässt sich häufig von einzelnen Interessengruppen für Berichte bezahlen. Anders geht es nicht.
Judith dagegen versucht im Kongo die gleichen Standards hochzuhalten wie in Basel oder München: Sie bezahlt ihre Protagonist*innen nicht – auch, weil dann die Gefahr entsteht, dass die Geschichte erzählt wird, mit der sich am meisten verdienen lässt.
Da dies ein ehrlicher Text werden soll, möchte ich auch erwähnen, dass es nicht einfach ist, für ein solches Projekt bezahlt zu werden. Obwohl dieser Film nun mit Bajour bereits die zweite Abnehmer*in (nach dem Spiegel) gefunden hat, übersteigen die Kosten bei weitem die Einnahmen.
Das liegt auch daran, dass es Themen aus Afrika fast immer schwer haben. Nicht nur in Redaktionen, sondern auch bei Stiftungen ist oft ein anderer Fokus gefragt. Ein Thema aus dem Kongo kann nur dann bestehen, wenn es einen direkten Bezug zur Schweiz, zu unserem Konsumverhalten aufmacht.
Manchmal werden Berichte verändert, dass sie ins Afrika-Klischee passen
Judith erlebt diese Vorbehalte fast jeden Tag. Seit zehn Jahren berichtet sie als freie Journalistin für deutsche und schweizerische Medien aus dem Kongo. Manchmal kommt es sogar vor, dass ihre Berichte so verändert werden, dass sie ins Afrika-Klischee passen und den Leser*innen das bestätigen, was sie ohnehin schon zu wissen glauben. Mit «Hauptpreis Liebe» haben wir etwas Anderes versucht – und dafür viel Feedback erhalten, das uns ermutigt: Es ist möglich, diese Geschichten anders zu erzählen.
Dass dieser Film nun auf Bajour gezeigt wird (dieses Mal auch mit den original schweizerischen Sprecher*innen), freut uns besonders. Für Judith, die 1964 in Lörrach geboren ist, war Basel immer die grosse Freiheit, aufregend, verheissungsvoll. Ausserdem sagt sie: «Grenzen haben mich immer gestört. Wenn man von Lörrach nach Weil mit dem Fahrrad wollte, und irgend ein Zöllner wieder einen bürokratischen Vorwand gefunden hatte, weshalb man nicht durch Riehen radeln dürfe, musste man über den Tüllinger strampeln. Mit jedem Treten ist mir die Aversion gegen Zoll, Grenzen und Abschottung quasi in die Glieder gefahren.»
Dass sie später so abenteuerlustig in eine andere Kultur eintauchen sollte, hat für Judith auch mit Basel zu tun. «Es war für mich in der Kindheit und Jugend das Tor zur Welt, eine faszinierende Gelegenheit, in meiner kleinen Welt in Lörrach eine Ahnung zu bekommen, wie gross die Welt wirklich ist, und dass man sich angesichts seines kleinen Lebens beeilen muss, möglichst viel mitzubekommen.»
Nach zehn Jahren im Ostkongo sieht Judith, die inzwischen 57 ist und vielen Nachbarn als «Mama na Kinga» (die Mama mit dem Velo) bekannt ist, Basel ein bisschen anders. Sie hat in den vergangenen Jahren erlebt, wie der gewaltige Nyiragongo-Vulkan ausgebrochen ist und alle Hals über Kopf fliehen mussten, hat von Schiessereien, Kidnappings, Vergewaltigungen ganz in ihrer Nähe erfahren, ihren Pass sieben Monate lang nicht wieder bekommen, ist für einfache medizinische Eingriffe viele hundert Kilometer weit gereist. Mittlerweile löst die Stadt die einst das «Tor zu Welt» war, in ihr ein «warmes, kuschliges Gefühl» aus.
Ob es Judith inmitten all dieser Probleme nicht wieder nach Hause zieht? Es klingt nicht danach. Sie erzählt von tiefen Freundschaften, einem abwechslungsreichen Alltag als Journalistin und Fact-Checkerin – und vermisst nicht einmal die Berge. Im Masisi-Gebirge, nicht weit von ihr, gebe es Kühen, Almen und feine Bergkäse – zumindest wenn die Sicherheitslage es erlaube, dorthin zu reisen.
Wenn sie sich am Schluss noch etwas wünschen könnte, Judith würde ihre beste Freundin (die Maman, «so heissen alle Frauen») mit nach Basel nehmen und ihnen den Morgenstreich und das Rheinschwimmen zeigen. «Ich bin sehr gespannt, was sie sagen würde.»
Charlotte Theile ist freie Autorin und Gründerin von Elephant Stories. Wie Judith Raupp war sie auch einige Jahre Schweiz-Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung. Auch sie hat eine spezielle Verbindung zu Basel: Ihr Vater ist hier aufgewachsen.