«Wir müssen die Hoffnung wieder aufbauen»

Die Pandemie zieht sich hin. Im Interview erklärt der Direktor der Psychiatrie Baselland, dass die Lage für viele Menschen erdrückender ist als im Frühling, weshalb eine Maskendispensation keine faule Ausrede ist, und was Menschen tun sollten, wenn sie merken, dass sie am Anschlag sind.

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Alles wird gut? Für manche Menschen ist das momentan schwer zu glauben. (Bild: Matt Flores on Unsplash)

Schon im Frühjahr haben Sie in der Psychiatrie Baselland eine Corona-Hotline eingerichtet. Im Sommer haben Sie sie eingestellt, aber jetzt wieder aktiviert. Warum?

Matthias Jäger: Seit etwa drei Wochen, parallel zu den steigenden Fallzahlen, haben wir wieder mehr Anfragen in allen Bereichen. Das trifft auch auf die niedergelassenen Psychiater*innen und Psychotherapeut*innen zu, mit denen wir in engem Kontakt stehen. Manche merken keine grosse Veränderung, aber andere sagen, sie bekommen im Moment zwei bis fünf Anfragen für einen neuen Therapiebeginn pro Tag.

Hat Sie das überrascht?

Wir hatten eigentlich schon im Frühjahr damit gerechnet, dass die Nachfrage stark steigen würde. Damals waren wir eigentlich eher erstaunt, dass das nicht der Fall war und die Zahl psychiatrischer Behandlungen mehr oder weniger konstant blieb. Jetzt, wo sich die Pandemie so in die Länge zieht, sind wir nicht überrascht, dass die Nachfrage nochmal zunimmt.

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Psychiatrie-Direktor und Chefarzt Matthias Jäger war von der erhöhten Nachfrage nach psychiatrischer Hilfe nicht überrascht.

Was bereitet den Anrufer*innen aktuell die grössten Sorgen?

Die Themen, die die Menschen momentan beschäftigen, sind sehr ähnlich zu denen vom Anfang der Pandemie. Allerdings sind sie nochmal zugespitzt, weil es sich sehr lange hinzieht und die zweite Welle nochmal heftiger ausfällt als die erste. Die Erwartung, dass Corona bald überstanden ist, ist jetzt weggebrochen und damit kommt vermehrt Hoffnungslosigkeit und Verunsicherung.

Mit welchen psychischen Problemen haben die Menschen ganz konkret zu kämpfen?

Es tauchen Ängste auf vor Infektionen, vor Arbeitsplatzverlust, existentielle Ängste, vor allem bei Selbstständigen, es gibt finanzielle Sorgen. Zudem haben Menschen, die zum Beispiel traumatische Erfahrungen in der Vergangenheit gemacht haben, besonders häufig Mühe mit dem Maskentragen in der Öffentlichkeit. Diese Menschen müssen wir, so gut es geht, begleiten, damit sie ihre Ängste bewältigen können. Es geht dann etwa um ein ärztliches Attest, um von der Maskenpflicht zu befreien. Dadurch kann es aber auch zu Stigmatisierungen oder sogar Anfeindungen in der Öffentlichkeit kommen. Wir hören auch von Problemen am Arbeitsplatz durch die Maskenpflicht oder dadurch, dass Homeoffice nicht möglich ist oder nicht gewährt wird. Dadurch kommt es vermehrt zu Krankschreibungen.

«Die Widerstandsfähigkeit mancher Menschen hat nachgelassen.»

Wer ruft derzeit vor allem bei Ihnen an?

Patientinnen und Patienten, deren Behandlung eigentlich abgeschlossen war, melden sich wieder vermehrt und haben erneut Bedarf für Gespräche und therapeutische Unterstützung. Viele sind stärker verunsichert, haben mehr Ängste, trauen sich zum Teil viel weniger aus dem Haus oder fühlen sich in der Öffentlichkeit unsicher mit den Massnahmen. Zusätzlich macht es ihnen Mühe, dass Ausgleichsmöglichkeiten wie Sport stark eingeschränkt sind. Die gleichen Themen tauchen auch bei Personen auf, die bisher noch keine psychiatrische Behandlung hatten. Diese Menschen merken jetzt, dass sie an den Anschlag kommen und ihre Widerstandsfähigkeit durch die Länge und die Massivität des Pandemieverlaufs nachgelassen hat.

Wie viele Anrufe bekommen Sie am Tag?

Wir kriegen im Prinzip fortlaufend Telefonate über den Tag, die aber Fragen jeglicher Art beinhalten. Leute, die gezielt über die Corona-Hotline anrufen, machen eher einen geringen Teil aus. Wir haben die meisten Anfragen über die regulären Telefonnummern. Bei den Hotline-Anfragen geht es oft auch um ganz pragmatische Dinge: Was darf ich noch? Was darf ich nicht mehr? Dann verweisen wir an die üblichen Informationsquellen, etwa an die Hotline vom Kanton und Bund.

«Wenn man sich psychisch sehr belastet fühlt, ist es immer ratsam, frühzeitig Hilfe in Anspruch zu nehmen.»

Was unterscheidet Ihre Arbeit heute von der ersten Welle im Frühjahr?

In den Therapien ist es gerade so, dass Menschen mit Depressionen die Hoffnung verloren geht, genauso wie das Interesse und der Antrieb, sich im Alltag einzubringen und zu engagieren. Ein grosser Bestandteil von Therapien ist es, wieder Hoffnungen aufzubauen und Perspektiven zu geben. Genau das ist für die Fachpersonen momentan allerdings schwierig, da wir mit grossen Unsicherheiten zurechtkommen müssen, ohne dass man diesen eine hoffnungsvolle Perspektive entgegenhalten kann. Das zu akzeptieren ist sehr anspruchsvoll für die betroffenen Personen.

Was raten Sie Menschen, die nicht sicher sind, ob Sie anrufen sollen?

Wenn man sich psychisch sehr belastet fühlt und sich nicht mehr zu helfen weiss, ist es immer ratsam, frühzeitig Hilfe in Anspruch zu nehmen. Denn dann kann man sehr häufig einen neuen Weg und Bewältigungsstrategien finden. Wer unsicher ist, kann sich auch anonym melden. Die Angabe der persönlichen Daten ist freiwillig. Unser Angebot soll niederschwellig sein.

Bajour für alle.

Mit wem spricht man, wenn man die Corona-Hotline anruft?

Die Hotline wird in der Regel von einem Psychiater oder einer Psychiaterin bedient, die berät oder an andere Stellen verweist. Ausserhalb der regulären Betriebszeiten nimmt die Zentrale Aufnahme die Telefonate entgegen. Die Zentrale Aufnahme ist rund um die Uhr erreichbar und nimmt Anmeldungen für Abklärungen und Behandlungen aller Art entgegen.

Die Hotline ist nur wochentags von 9 bis 16 Uhr erreichbar. Was machen Hilfesuchende ausserhalb dieser Zeiten?

Wer in Not ist und psychisch sehr stark belastet, kann jederzeit über die allgemeine Nummer der Zentralen Aufnahme (061 553 56 56) bei uns anrufen – 24 Stunden, 7 Tage die Woche. Es ist immer ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin im Dienst, der*die das Telefon entgegen nimmt.

Wie viel Zeit nehmen die Telefonberatungen in Anspruch?

Die Gespräche dauern zwischen 2 und 20 Minuten. Das kommt auf die Fragestellung an. Die Menschen fragen sich zum Beispiel: Wie gehe ich damit um, dass ich meine sozialen Kontakte nicht mehr pflegen kann und so viel zu Hause bin? Manche fangen an zu grübeln und entwickeln Symptome, die auf eine psychische Problematik hinweisen, auf eine Depression oder eine Angststörung. Im Gespräch finden wir heraus, ob es eine massive Belastung ist, dann wird ein Abklärungsgespräch in der Klinik vereinbart. Wenn es um Fragen geht, wie man psychisch gesund bleiben kann, ist es mit einer Beratung am Telefon oftmals schon getan.

Mussten Sie das Hotline-Team durch die erhöhte Anfrage vergrössern?

Für psychiatrische Abklärungsgespräche werden wir ab dieser Woche noch zusätzliche Kapazitäten bei der Zentralen Aufnahme haben, aber das Telefonteam wird nicht speziell aufgestockt.

Die Corona-Hotline ist unter 061 553 54 54 für Menschen mit psychischen Belastungen täglich von 9 bis 16 Uhr erreichbar. Auch ausserhalb der Betriebszeiten wird Hilfesuchenden über die Zentrale Aufnahmen weitergeholfen.

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