Wohnungen denen, die keine haben

Leute von der Strasse holen, indem man ihnen eine Wohnung gibt – könnte es so einfach sein? Über die Erfolgsgeschichte des Konzepts «Housing First» und seine Grenzen.

Aussicht auf die Stadt mit der Mittleren Bruecke vom Roche Buerohochhaus Bau 2 aus gesehen, in Basel, am Freitag, 11. Juni 2021. (KEYSTONE/Georgios Kefalas)
2018 hat die Basler Stimmbevölkerung das «Recht auf Wohnen» angenommen. (Bild: KEYSTONE/Georgios Kefalas)
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Der Ansatz ist so simpel wie sein Name: «Housing First». Menschen, die kein Zuhause haben, sollen zuallererst einen Mietvertrag für eine Wohnung erhalten. Und dies, zumindest in der Theorie, ohne Auflagen und Bedingungen. Im Zentrum stehen die Betroffenen, deren Bedürfnisse und deren Wohlbefinden. Den neuen Mieter:innen wird regelmässig Beratung angeboten; wobei sie selbst bestimmen, ob und wie viel Unterstützung sie in Anspruch nehmen wollen. Das Konzept aus der Obdachlosenhilfe liegt in der Schweiz im Trend.

Daria Morelli* hatte in ihrem Leben schon mehrmals keine Wohnung. «Anstrengend» sei das Leben auf der Gasse, erzählt die Fünfzigjährige im Juli in einem Café beim Basler Bahnhof. Ein paar ihrer Habseligkeiten hatte sie jeweils hier am Bahnhof in einem Schliessfach deponiert, der Rest war auf verschiedene Orte in der Stadt verteilt. «Du musst immer überlegen: Wann und wo schläfst du, bei wem könntest du vielleicht noch klingeln, wo sind deine Sachen?» Manchmal übernachtete sie in der Notschlafstelle, das kostet Geld, manchmal draussen, was mit Gefahren verbunden ist. Sie erzählt von einer versuchten Vergewaltigung, von Schlägen. «Es macht Angst, keine Wohnung zu haben», sagt Morelli.

Seit anderthalb Jahren hat sie jetzt wieder einen festen Wohnsitz – dank des Pilotprojekts «Housing First». Umgesetzt wird es im Auftrag des Kantons Basel-Stadt von der Heilsarmee, die seit Projektbeginn 2020 dreissig Personen eine Wohnung vermitteln konnte. Jederzeit nach Hause können, duschen, wann sie möchte, einen Ort haben, an den sie ihre Kinder einladen kann. Die eigenen vier Wände böten nicht nur Sicherheit, sagt die gelernte Floristin, die in Heimen aufgewachsen ist, sondern auch Selbstbestimmung. «Man kann entscheiden, wer zu einem kommt und wer nicht.»

Zögerliche Vermieter:innen

Das kann nicht funktionieren, dachte sich Thomas Frommherz, als er zum ersten Mal von «Housing First» hörte. «Aber sobald man sich eingehender damit beschäftigt, ist es eigentlich logisch, denn das Leben auf der Strasse ist purer Stress!» Der Leiter des Projekts bei der Heilsarmee arbeitete zuvor als Sozialpädagoge im Basler Männerwohnhaus. Dort verfolge man den «klassischen Weg», wie Frommherz es nennt, auch bekannt als «Stufenmodell»: Schritt für Schritt wird in begleiteten Institutionen Wohnkompetenz aufgebaut, bevor irgendwann eine Wohnung zur Untermiete und dann vielleicht ein eigener Mietvertrag folgen. Es ist ein langer, hürdenreicher Weg, der längst nicht für alle eine Option ist, etwa weil oft Regeln wie eine Abstinenzpflicht damit einhergehen. Warum also das Ganze nicht einfach umdrehen?

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Basel-Stadt ist nicht der einzige Kanton, der ein «Housing First»-Projekt verfolgt. In Solothurn, im Tessin sowie in der Waadt existieren bereits vergleichbare Angebote, während in anderen Kantonen entsprechende politische Vorstösse eingereicht wurden. Auch im Kanton Graubünden startet in diesem Monat ein «Housing First»-Pilotprojekt. Derzeit sei man mitten im Aufbauprozess, sagt Ilona Bosch vom Verein Oase, der vom Kanton mit der Umsetzung beauftragt wurde. «Die Wohnungssuche gestaltet sich aber schwieriger, als ich gedacht hätte», so die Sozialpädagogin. Erste Wohnungen habe der Verein gefunden. In Chur herrsche aber eine ausgeprägte Wohnungsnot, weshalb überhaupt nur wenige Angebote auf dem Markt seien. Gleichzeitig sei es herausfordernd, Vermieter:innen zu finden, die bereit seien, mit bisher obdachlosen Personen Verträge abzuschliessen.

Die Stigmatisierung war auch für Daria Morelli ein Problem, als sie alleine nach einer Wohnung suchte. «Ich ziehe mich immer normal an, wenn ich an eine Besichtigung gehe, aber irgendwie sieht man mir meine Vergangenheit wohl an», sagt die blonde Frau und schaut auf ihre braun gebrannten Arme, auf denen sich einige helle, strichförmige Narben abzeichnen. Die stammten nicht von Drogenkonsum, sondern von Unfällen, erklärt sie ungefragt. «Aber wenn du erzählst, dass du mal Drogen genommen hast oder kaputt warst, dann bist du sowieso weg vom Fenster.»

Keine Lösung struktureller Probleme

Während «Housing First» in der Schweiz erst seit kurzem erprobt wird, gibt es aus anderen Ländern schon mehr Erfahrungswerte. Als Vorzeigebeispiel gilt Finnland. Seit über fünfzehn Jahren ist der Ansatz dort Teil einer nationalen Strategie, die Langzeitobdachlosigkeit beseitigen will. Mit grossem Erfolg: Wurden bei der Einführung von «Housing First» 2008 noch 8260 Obdachlose gezählt, waren es 2023 noch rund 3400. Geht es nach der Regierung, soll bis 2027 niemand mehr auf der Strasse übernachten müssen. «Die Zahlen aus Finnland sind beeindruckend», sagt Jörg Dittmann von der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW, «insbesondere in einer Zeit, in der die Obdachlosenzahlen in anderen Ländern steigen.»

Für die Schweiz erschienen 2022 erstmals zwei Studien, die ein umfassendes, auch quantitatives Bild von Obdachlosigkeit auf nationaler Ebene vermitteln. Dittmann hat beide mitpubliziert. Bis zu 2740 Personen haben laut seinen Hochrechnungen, die auf Befragungen und Zählungen in verschiedenen Schweizer Städten beruhen, kein Zuhause. «Dazu kommen Menschen, die in prekären Wohnformen wie etwa dem ‹Sofasurfing› leben», sagt Dittmann. Im internationalen Vergleich habe die Schweiz damit eine eher tiefe Quote, was auch an bestehenden Angeboten und Institutionen wie der Sozialhilfe liege. Warum hat vor ihm und seinen Kolleg:innen nie jemand konkrete Zahlen zu Obdachlosigkeit in der Schweiz erhoben? Das liege zum einen daran, dass die Erhebung kompliziert sei, meint Dittmann. Ausserdem zeige sich hier wohl auch eine bestimmte Haltung gegenüber dem Thema Obdachlosigkeit. «Es wird immer noch oft als etwas Individuelles, Selbstverschuldetes statt als strukturelles Phänomen wahrgenommen.»

Zu den strukturellen Problemen gehört etwa die prekäre Situation auf dem Wohnungsmarkt in vielen Städten, wie sie auch Basel und Chur kennen. Wenn Organisationen wie die Heilsarmee gemeinsam mit Einzelpersonen mit kleinem Einkommen um die wenigen bezahlbaren Wohnungen buhlen, kann eine Art Konkurrenzsituation entstehen. In Finnland stellen darum Stiftungen eigenen Wohnraum für «Housing First» zur Verfügung, der entweder gekauft oder eigens dafür gebaut wird.

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In Dittmanns Studie wird ein weiteres Problem ersichtlich, das bisher in der Öffentlichkeit nicht viel Beachtung findet: Rund sechzig Prozent der Menschen ohne Obdach sind Sans-Papiers. «Das ist eigentlich eine migrationspolitische Problematik, für die es noch keine richtigen Lösungen gibt», sagt der Soziologe. Die Folgen einer unzulänglichen Migrations- und Asylpolitik werden hier also auf die Gasse verlagert. Hinzu komme, dass Sans-Papiers eine besonders vulnerable Gruppe unter den Obdachlosen seien, erklärt Dittmann. Denn sie sind von vielen Unterstützungsangeboten ausgeschlossen – so etwa auch vom «Housing First»-Angebot in Basel. Das liegt unter anderem daran, dass Menschen ohne Papiere in der Regel keine Mietverträge abschliessen können, und an der Meldefrist: «Wer bei uns mitmachen will, muss seit mindestens zwei Jahren im Kanton Basel-Stadt angemeldet sein», sagt Thomas Frommherz. Die Vorgabe kommt vom Kanton, der damit «die Ansiedlung von Armut» in der Stadt verhindern wolle, wie es bei der zuständigen Sozialhilfestelle heisst. Es ist eine der wenigen Bedingungen, um bei «Housing First» in Basel mitmachen zu dürfen. Das Angebot richtet sich aber in erster Linie an Personen, die nicht nur obdachlos, sondern zudem von einer psychischen Erkrankung wie etwa einer Sucht betroffen sind.

«Housing First Plus»

Mit dem bisherigen Verlauf des Basler Projekts ist Thomas Frommherz sehr zufrieden: Von den dreissig vermittelten Personen wurde nur fünfen in der Zwischenzeit gekündigt, und für die meisten von diesen konnten andere Lösungen gefunden werden. Bisher habe es erst in einem Fall wirklich nicht geklappt: Nach der Kündigung eines Mieters musste dessen Wohnung totalsaniert werden. Ansonsten laufe es aber so gut, dass es der Heilsarmee gelungen sei, zu verschiedenen Vermieter:innen und Verwaltungen ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Die meisten Schwierigkeiten habe man mit den Nachbar:innen, sagt Frommherz: «Wenn in einem Haus irgendetwas schiefläuft, sind immer unsere Leute schuld.»

Daria Morelli sieht es ähnlich. Eine Nachbarin, die sie nicht mochte, habe sich schon grundlos bei der Verwaltung über sie beschwert. «Da ist man total hilflos.» Tatsächlich brauche es oft nicht nur ein Coaching für die «Housing First»-Teilnehmenden, sondern auch für Vermieterinnen und Nachbarn, findet Frommherz. «‹Housing First› wirkt», sagt er, «trotz einiger Schwierigkeiten.»

Das sieht wohl auch die Basler Politik so. Die Laufzeit des Projekts wurde seit Beginn bereits zwei Mal verlängert, die aktuelle Phase läuft Ende Jahr aus. Die Kantonsregierung plant nun bereits ein ergänzendes Projekt mit dem Namen «Housing First Plus». Hier sollen in einem Haus Wohnungen für Obdachlose entstehen, in dem rund um die Uhr ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin vor Ort ist. Ähnliche Angebote gibt es in verschiedenen Schweizer Städten seit langem. Dass sich Basel-Stadt derzeit in dieser Sache so engagiert zeigt, hat auch mit der Annahme der Initiative «Recht auf Wohnen» der Basler Stimmbevölkerung im Jahr 2018 zu tun. Diese verpflichtet den Kanton, sich dafür einzusetzen, dass allen Stadtbasler:innen Wohnraum zur Verfügung steht, der ihrem Bedarf und ihren finanziellen Möglichkeiten entspricht.

«Housing First» bedeutet nicht «Housing Only»: Die begleitende Unterstützung ist für die Teilnehmenden zwar nicht verpflichtend, aber für viele wichtig. Daria Morelli sieht die für sie zuständige Person des «Housing First»-Projekts auf eigenen Wunsch einmal pro Woche. Sie ist froh über die Hilfe, die sie erhält, etwa beim Zahlen von Rechnungen. Und aktuell wieder einmal bei der Suche nach einer neuen Bleibe. «Die Wohnung, die ich jetzt habe, ist eine ziemliche Bruchbude.» Sie sei nicht nur in einem schlechten baulichen Zustand, es sei auch schon zweimal eingebrochen worden. Morelli hofft, bald eine Wohnung zu finden, die sich wie ein richtiges Zuhause anfühlt. «Und ein Traum wäre es, ein kleines Gärtchen zu haben.»

WOZ Peering

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