Zu viele Hürden im Parcours
Diese Woche diskutiert der Ständerat über die Ausweitung des Bürgerrechts. Ein Blick in die Statistik zeigt, wie dringend diese ist: Die Zahl der Einbürgerungen sinkt derzeit sehr stark.
Dieser Artikel ist zuerst am 10. Juni 2021 in Die Wochenzeitung WOZ erschienen. Die WOZ gehört wie Bajour zu den verlagsunabhängigen Medien der Schweiz. Hier kannst du die WOZ abonnieren und hier unterstützen.
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Fast genau ein Jahrzehnt ist es her, dass sich der Bundesrat im Frühling 2011 zur Totalrevision des Bürgerrechts anschickte. Diese erhöhte zum einen die Anforderungen für eine Einbürgerung, zum anderen wurde die Wartefrist verkürzt. Das neue Gesetz, das die Verfahren zwischen den Kantonen harmonisieren sollte, trat 2018 in Kraft.
Zeitgleich wurde auch eine erleichterte Einbürgerung für die dritte Generation eingeführt, die von SP-Nationalrätin Ada Marra angeregt worden war. Die Stimmberechtigten hatten diese Vereinfachung mit sechzig Prozent deutlich angenommen. Blickt man heute auf die Zahlen, dann hatten die neuen Regeln eine starke Wirkung: insgesamt in eine negative Richtung.
2017 wurden in der Schweiz rund 46'000 Personen eingebürgert, im letzten Jahr waren es gemäss dem Staatssekretariat für Migration nur noch 35'000. Das neue Bürgerrechtsgesetz hatte also einen dramatischen Rückgang der Einbürgerungen um über zwanzig Prozent zur Folge. Die erleichterte Einbürgerung für die dritte Generation wirkte diesem Einbruch nur wenig entgegen: Deren Zahl hat sich in den beiden letzten Jahren bei rund 800 Einbürgerungen eingependelt. Wie ist diese Entwicklung zu erklären?
Fatale Verknüpfung
Die Rechtswissenschaftlerin Barbara von Rütte forscht am Europainstitut der Universität Basel zur Frage der Staatsangehörigkeit als Menschenrecht. «Der Einbruch lässt sich sowohl mit den formalen wie mit den inhaltlichen Verschärfungen im neuen Bürgerrechtsgesetz erklären», sagt sie.
Barbara von Rütte arbeitet als PostDoc am Europainstitut der Uni Basel. Die Forschungsschwerpunkte der Rechtswissenschaftlerin umfassen unter anderem das Bürgerrecht und das internationale Staatsangehörigkeitsrecht, das schweizerische und internationale Migrationsrecht und den internationalen Menschenrechtsschutz.
Zwar wurde die erforderliche Wohnsitzdauer bis zur Einbürgerung von zwölf auf zehn Jahre gesenkt. Gleichzeitig ist dafür in jedem Fall eine Niederlassungsbewilligung mit C-Ausweis nötig. «Bis zur Einbürgerung muss jemand also den ganzen Ausweisparcours absolviert haben.» Die Jahre, die Geflüchtete mit einer vorläufigen Aufnahme hier verbrachten, werden dabei nur zur Hälfte berücksichtigt.
Hinzu kommen verschärfte Kriterien beim sogenannten Integrationsgrad, etwa bei den Sprachkenntnissen. Besonders fatal wirken sich dabei die Bestimmungen bezüglich der Sozialhilfe aus. Die Vorgabe des Bundes lautet, dass jemand bis zu einer Einbürgerung drei Jahre keine Sozialhilfe bezogen haben darf oder diese zurückbezahlt hat. Gewisse Kantone wie der Kanton Bern verlangen dies sogar für die letzten zehn Jahre.
«Vor dem neuen Bürgerrechtsgesetz kannten zahlreiche Kantone gar keine Verknüpfung der Einbürgerung mit der Sozialhilfe. Es fand also eine Nivellierung nach oben statt.» Von Rütte spricht von einem «Kampf gegen die Armen», der sich auch im Ausländerrecht zeige: So bezogen während der Coronapandemie viele Working Poor keine Sozialhilfe, aus Angst, die Niederlassungsbewilligung zu verlieren
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Dass die erleichterte Einbürgerung für die dritte Generation nur eine beschränkte Wirkung entfaltete, führt von Rütte ebenfalls auf die strengen formalen Anforderungen zurück. Neben der Einwanderung eines Grosselternteils muss nachgewiesen werden, dass ein Elternteil hier fünf Jahre zur Schule gegangen ist. Häufig fehlen dazu die Belege.
«Wer hat schon einfach die Schulzeugnisse der Eltern zur Hand?», fragt von Rütte. Wie eine Untersuchung der Eidgenössischen Migrationskommission zeigt, kamen zudem viele der Eltern erst als Nachzieher*innen von Saisonniers und Saisonnieren in die Schweiz, sind also nicht hier zur Schule gegangen.
Bedenklicher Kurswechsel
Der starke Einbruch bei der Zahl der Einbürgerungen ist brisant, weil der Ständerat diesen Mittwoch erstmals wieder über eine Ausweitung des Bürgerrechts diskutiert. Ein Vorstoss der Genfer Grünen Lisa Mazzone fordert die erleichterte Einbürgerung auch für die zweite Generation, der St. Galler SP-Vertreter Paul Rechsteiner plädiert gleich für die Einführung des Ius soli: Alle hier geborenen Ausländer*innen würden demnach den Schweizer Pass erhalten.
Der Bundesrat, angeführt von FDP-Justizministerin Karin Keller-Sutter, lehnt die Vorstösse ab. Den Einbruch bei den Einbürgerungen erklärt er sich in seiner Begründung mit «gewissen jährlichen Schwankungen».
«Die Statistik über die letzten Jahrzehnte zeigt, dass hinter jeder Schwankung ein politischer Eingriff steht.»Barbara von Rütte, Rechtswissenschaftlerin
Von Rütte widerspricht dieser schwammigen Interpretation: «Die Statistik über die letzten Jahrzehnte zeigt, dass hinter jeder Schwankung ein politischer Eingriff steht.» So etwa stiegen die Zahlen 2006 an, als die sogenannten Einkaufsgebühren für das Bürgerrecht wegfielen und nur noch kostendeckende Gebühren verlangt werden durften.
Eine Zunahme gab es auch vor der Einführung des neuen Bürgerrechts 2018, als kantonale und städtische Regierungen wegen der Verschärfungen mit einem Brief alle zu einer Einbürgerung aufriefen, die damals die Kriterien erfüllten. Entsprechend würden die Zahlen auch bei einer erleichterten Einbürgerung der zweiten Generation steigen, sagt von Rütte, «sofern man ihr nicht wieder formale Hindernisse in den Weg stellt».
Dass der Bundesrat die Einbürgerung für die zweite Generation nicht erleichtern wolle, widerspreche im Übrigen diametral seiner bisherigen Argumentation. Bei verschiedenen früheren Anläufen hat er die erleichterte Einbürgerung noch unterstützt. «Der Bundesrat gibt damit die Haltung auf, dass Secondos und Secondas hier zu Hause sind. Das ist ein bedenklicher Kurswechsel.»