Nergis erhebt ihre Stimme
Zehn Jahre nach ihrer Flucht in die Schweiz, kämpft die Kurdin Nergis darum, dass Syrien ihr Papiere aushändigt. Doch ihr Heimatland sagt: Deine Familie gibt es nicht. Jetzt erhofft sie sich Hilfe aus dem Bundeshaus.
Nergis knetet ihre Hände. «Jetzt sind wir schon da», sagt sie mit leiser Stimme. «Dir kann nichts passieren», sagt ihre Freundin Natascha, die neben ihr im Zug sitzt. Draussen ziehen die ersten Häuser von Bern vorbei. In einer Stunde wird Nergis das Bundeshaus betreten, Parlamentarierinnen die Hand schütteln und ihre Geschichte erzählen.
Als syrische Kurdin ist es für Nergis unvorstellbar, dass sie in einem Regierungsgebäude frei ihre Meinung sagen darf und dafür nicht mit Repression rechnen muss. «Ich dachte, wenn ich ein solches Haus betrete, dann sterbe ich.» Heute wird sich dieses Gefühl ändern. Nergis lehnt den Kopf an Nataschas Schulter, nimmt ihre Hand und drückt sie ganz fest.
Nergis ist 41 Jahre alt und vor zehn Jahren in die Schweiz geflüchtet. Damals, 2015, sprach man von einer Flüchtlingskrise in Europa. Rund 1,4 Millionen Menschen ersuchten Asyl in einem europäischen Land – doppelt so viele wie im Jahr davor. In Syrien war Krieg ausgebrochen, Nergis flüchtete mit ihrem Mann und Kindern zuerst in die Türkei, nach Griechenland und dann in die Schweiz, weil sie hier schon Verwandte hatten.
Zwei Wochen nach ihrer Ankunft in der Schweiz machte Nergis eine Erfahrung, die sie prägen wird. «Auf dem Spielplatz kam ein Kind zu mir und hielt die Hand hin, als ich meinem Sohn einen Keks geben wollte.» Nergis teilte die Kekse mit dem unbekannten Kind. «Dann kam die Mutter. Sie warf den Keks in meine Richtung und schrie mich an. Es war ganz schlimm.» Neben ihr schüttelt Natascha betroffen den Kopf. «Danach habe ich drei Monate das Haus nicht mehr verlassen», sagt Nergis und blickt nach unten.
Erst später habe sie gelernt, dass es auch Leute gibt, die sie in der Schweiz willkommen heissen und sich für sie einsetzen. So wie Natascha, die begann, sie bei Arztbesuchen zu begleiten – Nergis leidet seit ihrer Kindheit an einer Gehbehinderung infolge einer medizinischen Fehlbehandlung. Seit ein paar Jahren geht sie an Krücken, den Weg vom Bahnhof bis zum Bundeshaus legt sie langsam zurück, sie hat Schmerzen. Noch grösser ist aber ihre Nervosität. Und noch grösser ihre Notlage. Denn Nergis hat keine Papiere.
Während der Flucht seien fast alle ihre amtlichen Dokumente verloren gegangen, sagt sie. Ein paar wenige Kopien sind noch da, zum Beispiel von zwei Geburtsurkunden ihrer Kinder oder des syrischen Identitätsausweises ihres Ehemannes. Aber diese reichen nicht aus, um in der Schweiz einen geregelten Aufenthaltsstatus zu erhalten. Die Familie braucht offizielle Dokumente, die belegen, dass Nergis und ihr Mann syrische Staatsbürger*innen sind. Diese zu beschaffen, scheint derzeit unmöglich: Auf diversen Wegen hat Nergis’ Familie mit Unterstützung von Schweizer Freund*innen wie Natascha versucht, via syrisches Konsulat an diese Papiere zu kommen. Doch die Antwort war vernichtend: Die kurdische Familie existiere im syrischen System nicht.
Das hat zur Folge, dass Nergis und ihr Mann seit zehn Jahren mit F-Ausweis in der Schweiz sind. Sie haben keinen Pass und dürfen das Land nicht verlassen. Und dies ohne Aussicht auf Veränderung. Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten EDA kann Geflüchteten Dokumente ausstellen, die es zum Beispiel erlauben, kranke Angehörige im Ausland zu besuchen oder zu Beerdigungen zu reisen. Aber ohne Papiere aus Syrien geht das nicht. Seit Nergis in der Schweiz ist, hat sie bereits mehrere Verwandte verloren, ohne sich verabschieden zu können. Zudem ist ihre jüngere Schwester sehr krank. Nergis wäre gerne für sie da.
Hier hat Nergis sich integriert: Sie hat Deutsch gelernt, Freundschaften geschlossen, ihre mittlerweile vier Kinder gehen zur Schule, zwei von ihnen haben eine B-Bewilligung erhalten, ihr ebenfalls körperlich beeinträchtigter Ehemann arbeitet in einem Arbeitsintegrationsprojekt. Weil sie ihren Lebensunterhalt nicht selbstständig bestreiten können, werden sie von der Sozialhilfe unterstützt. Diese bezahlt ihnen bald eine grössere Wohnung. Die Kinder wachsen. Nergis aber steckt fest.
Deshalb reist sie an diesem Donnerstag im November nach Bern, nicht nur zusammen mit Natascha, sondern mit einer 20-köpfigen Frauengruppe aus der Region Basel.
Sie alle gehören zu einem Frauentreff für Migrantinnen, der aus dem Netzwerk «Mitenand» in der Matthäuskirche entstanden ist. Auch wenn der Glaube – sie gehören unterschiedlichen Religionsgemeinschaften an – für viele der Frauen wichtig ist, verbindet sie noch etwas anderes: ihre Migrations- oder Fluchtgeschichte und viele ähnliche Erfahrungen in der Schweiz. Sie sind aus Syrien, Eritrea, dem Iran, Marokko oder der Türkei hierher gekommen und erleben, dass ihre Diplome aus dem Ausland nicht anerkannt werden, dass ihr Kopftuch ein Hindernis in der Jobsuche ist, sie keine Wohnung finden. Manche von ihnen haben Gewalt in ihren Beziehungen erlebt und nur schwer Hilfe gefunden.
«Weil beim Frauentreff immer wieder ähnliche Themen aufgetaucht sind, ist der Wunsch entstanden, aktiv zu werden», erklärt Daniela Sapkota, die den Treff leitet. Mit finanzieller Unterstützung einer Stiftung initiierte sie ein Projekt, um das politische Engagement der Frauen zu stärken. Sie beschäftigten sich mit der Schweizer Demokratie und ihren Möglichkeiten, auch ohne Stimmrecht aktiv zu werden. Über Kontakte fädelten sie eine Führung im Bundeshaus und ein Treffen mit zwei Nationalrätinnen ein, die ihre Anliegen entgegennehmen. Sie formulierten ihre Anliegen in einem vierseitigen Dokument und übten das Vortragen.
Und jetzt stehen sie da: Vor dem Besucher*innen-Eingang des Bundeshauses. Sie kramen aufgeregt und nervös ihre Ausweise hervor, ohne die sie das Gebäude nicht betreten können. Vor der Sicherheitskontrolle fragt Nergis Natascha mit verunsicherter Stimme, ob sie ihre Krücken mit rein nehmen darf. Als dann die Berner GLP-Nationalrätin Kathrin Bertschy auftaucht und der Reihe nach allen Frauen die Hand schüttelt und sie herzlich willkommen heisst, kann es Nergis kaum fassen. Sie wird später sagen: «Ich dachte, sobald wir drin sind, ändert sie ihr Gesicht.» Eine andere Frau erklärt: «In unseren Ländern sind Politiker nicht wie normale Menschen.»
Drinnen sind es aber vor allem die Gesichter der Migrantinnen, die sich ändern: Die Nervosität nimmt langsam ab und das Staunen zu. Als Bertschy, die den grössten Frauendachverband der Schweiz Alliance F, co-leitet, die Gruppe durch die Wandelhalle führt, zeigt die Türkin Melek zu den Deckenmalereien und sagt: «Es sieht hier ein bisschen aus wie in einer Kirche.» Sie möchte vor dem Zimmer der Ratspräsidentin fotografiert werden. «Da bin ich und über mir steht Präsidentin», lacht sie. «Stell dir vor, dieses Foto kommt in die Zeitung.»
Für das Treffen hat Kathrin Bertschy die Basler Grünen-Nationalrätin Sibel Arslan ins Boot geholt. Nun sitzen die beiden mit der Frauengruppe in einem Sitzungszimmer und hören zu, als diese nacheinander auf die Tischmikrofone drücken, um ihre Anliegen anhand von persönlichen Geschichten zu schildern. Die Politikerinnen antworten ihnen mit Verständnis, erklären politische Prozesse und zeigen auf, wo sie etwas für die Frauen tun können, zum Beispiel bei einzelnen politischen Geschäften nachfragen, wo sie stehen. Sie machen ihnen auch Mut, ohne Mitbestimmungsrecht aktiv werden zu können, indem sie sich mit Entscheidungsträger*innen austauschen, in Organisationen Mitglied werden oder sich in ihren Communitys für Frauen- und Selbstbestimmungsrechte stark machen.
Als Nergis an der Reihe ist, ist ihr die Nervosität ins Gesicht geschrieben. Sie sitzt vorne im Saal neben Bertschy und blickt vor sich auf den Tisch. Doch als sie spricht, schaut sie die beiden Politikerinnen direkt an und erzählt frei: Von der Diskriminierung durch ihr Herkunftsland. Vom Tod ihres Schwiegervaters, zu dessen Beerdigung sie und ihre Familie nicht reisen durften. Von der Angst, ihre Mutter nicht mehr sehen zu können, von der Hoffnung, dass die Politikerinnen etwas tun können, damit sie an ihre Papiere gelangt.
Und tatsächlich gibt es eine Möglichkeit, wenn alle anderen Wege über die Behörden schon versucht wurden: Eine Nationalrätin kann sich auf diplomatischem Weg via EDA erkundigen, wo es hapert. Eine Garantie, dass das die Situation von Nergis löst, gibt es nicht. Denn das Problem ist bekannt und Arslan umschreibt es so: «Kurden existieren – und Kurden existieren nicht.» Bertschy verspricht, sich mit den nötigen Unterlagen an die zuständige Behörde zu wenden. Zum Abschied sagt Sibel Arslan: «Habt Mut, keine Angst. Bleibt tough und versucht, auch andere zu unterstützen.»
Die Frauen applaudieren. Und Nergis lächelt.
«Du warst heute sehr mutig.» Daniela Sapkota klopft Nergis beim anschliessenden Mittagessen auf die Schultern und blickt in den Raum: «Alle hier waren heute mutig.» Der Tag habe sie sehr berührt, erklärt Nergis. «Die Politikerinnen sind wie wir. Sie sind menschlich.» Arslan ist Kurdin. Bertschy hat ein Kind, das sie nach dem Treffen abholen musste. Es verblüfft sie, dass die beiden ihnen solche Dinge erzählt haben. «Mein Herz hat so schnell geschlagen heute Morgen.» Jetzt ist sie erleichtert, auch wenn sie sich wieder auf Warten einstellen muss. «Ich warte, seit ich geboren worden bin», sagt sie. «Aber ich hoffe, es geht jetzt nicht mehr so lange.»