Zwang unter der Geburt: Eine Realität für jede vierte Gebärende in der Schweiz

Eine Berner Studie untersuchte die Geburtserlebnisse von 6'000 Schweizerinnen. Die Resultate weisen auf ein nötiges Umdenken hin, was die Betreuung und das Informieren von Gebärenden betrifft.

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Gewalt unter der Geburt* ist ein Tabu – entsprechend spärlich fällt die Forschung dazu aus. Jetzt bringt eine Studie der Berner Fachhochschule Licht in die Gebärsäle der Schweiz. Über 6’000 Frauen, die im Jahr 2018 oder 2019 in der Schweiz ein Kind zur Welt gebracht haben, wurden dabei zu ihren Geburtserlebnissen befragt. 90,6% gebaren im Spital, 5,6% im Geburtshaus und 3,8 im Spital.

Die Teilnehmerinnen beantworteten Fragen zu verschiedenen Aspekten der Schwangerschaft und Geburt, der fachlichen Betreuung und möglichen medizinischen Behandlungen. Eine zentrale Frage war dabei, wie häufig unter der Geburt Behandlungen gegen den Willen der Frau vorgenommen werden oder wie häufig Frauen unter Druck gesetzt werden, Behandlungen zuzustimmen.

Die Ergebnisse:

1. Wunsch und Art der Entbindung


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90% der Frauen wünschten sich eine vaginale Geburt, bei knapp 70% wurde dies erfüllt. Etwas über 30% hatten einen Kaiserschnitt. Ungefähr 2% aller Entbindungen waren sogenannte Wunschkaiserschnitte, das heisst, es gab keine medizinische Indikation. Als Grund für einen Wunschkaiserschnitt gaben die Frauen meist verschiedene Ängste an: Angst um die Sicherheit des Kindes (50%), vor Schmerzen oder Komplikationen (38%) oder vor Verletzungen im Genitalbereich (36%).

2. Entscheidungen während der Geburt


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Die Mehrheit der Frauen (87%) bevorzugte eine gemeinsame Entscheidungsfindung. Knapp die Hälfte fand, dass die Frau allein entscheiden soll, wenn sie davor ausreichend informiert wurde. Vergleichsweise wenige lassen bevorzugt die Fachperson entscheiden. Insgesamt bewerteten die Frauen die Betreuung durch die Fachpersonen mehrheitlich positiv: Entscheidungen wurden häufig gemeinsam gefällt und die Fachpersonen waren offen gegenüber individuellen Wünschen und Bedürfnissen.

3. Zwang unter der Geburt


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Erstmals für die Schweiz wurde die Verbreitung von informellem Zwang unter der Geburt erhoben. Über ein Viertel der Frauen (27%) erlebten unter der Geburt informellen Zwang. Sie fühlten sich einseitig informiert, unter Druck gesetzt, eingeschüchtert oder waren mit einer Behandlungsentscheidung nicht einverstanden. Neben informellem Zwang erlebten manche Frauen auch andere unangenehme Situationen unter der Geburt: 10% der Frauen berichteten, dass sich Fachpersonen ihnen gegenüber beleidigend oder abwertend äusserten. 2 von 5 Frauen (39%) gaben an, dass ihre Bewegungsfreiheit unter der Geburt eingeschränkt war. Jede sechste Frau (17%) empfand das CTG (Herzton- und Wehenschreiber) als störend.

4. Vaginale Untersuchungen


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Das Verhalten von Fachpersonen bei den vaginalen Untersuchungen beurteilten die meisten Frauen insgesamt positiv. Trotzdem wünschte sich mehr als jede zehnte Frau eine geringere Anzahl Untersuchungen.

5. Geburtszufriedenheit


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Mehr als zwei Drittel der Frauen (71%) bewerteten ihr Geburtserlebnis als überwiegend positiv. Bei einer nicht-instrumentellen vaginalen Entbindung (ohne Saugglocke oder Geburtszange) oder einem geplanten Kaiserschnitt waren es sogar vier von fünf Frauen, die ihre Geburt insgesamt positiv bewerteten. Auf der anderen Seite hatten Frauen, deren Kind per Notkaiserschnitt zur Welt gebracht werden musste, wesentlich seltener ein positives Geburtserlebnis (36%), genauso wie Frauen, die informellen Zwang erlebten (48%).

Schlussfolgerungen


In den Schlussfolgerungen zur Studie schreiben die Studienleiter:

«(...) Für ein selbstbestimmtes Geburtserlebnis ist es zentral, dass sich Frauen Gedanken zu ihren Wünschen und Vorstellungen rund um die Geburt machen und diese den Fachpersonen offen kommunizieren. Dazu gehört auch, sich rechtzeitig zu informieren, ob die Erfüllung besonders wichtiger Wünsche am geplanten Geburtsort überhaupt möglich ist.   Jede Frau hat das Recht, Behandlungsvorschläge abzulehnen. Ihr Einverständnis zu einer Behandlung sollten Frauen erst dann geben, wenn sie die Gründe dafür verstehen und nachvollziehen können. Jegliche Form von informellem Zwang verstösst gegen grundrechtlich verankerte Persönlichkeitsrechte. Frauen, die unter der Geburt informellen Zwang erleben, sollten dies den Fachpersonen rückmelden.

Fachpersonen sollten sich bewusst sein, dass schon vermeintlich unbedeutende Handlungen für Frauen einschneidend sein können. Um negativen Folgen von informellem Zwang vorzubeugen, ist in solchen Fällen eine Nachbetreuung essenziell. Fachpersonen sollten ausserdem bedenken, dass Frauen ihre Geburt häufig erst Monate später verarbeiten können und sich nicht davon täuschen lassen, wenn unmittelbar nach der Geburt noch kein Bedürfnis besteht. Auf gesellschaftlicher Ebene ist eine Debatte zum Thema Geburt notwendig, um die medizinische Notwendigkeit sowie die Vor- und Nachteile von Behandlungen unter der Geburt transparent zu machen.
»

* Der Begriff «Gewalt» ist in der Geburtshilfe sehr umstritten. Die Leiter dieser Studie entschieden sich für den Begriff «Informellen Zwang». Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) definiert Zwang im medizinischen Kontext als jede Massnahme, die gegen den selbstbestimmten Willen oder den Widerstand von Patient*innen durchgeführt wird. Im Gegensatz zu formellem Zwang gibt es bei informellem Zwang keine rechtliche Grundlage für die Einschränkung der Selbstbestimmung von Patient*innen.

Im Rahmen der Recherche «Wer vögeln kann, kann auch gebären» hatte die Autorin auch Kontakt mit Studienleiter Stephan Oelhafen. Seine Einsichten flossen in den Text mit hinein – diese Studie erschien jedoch nach Veröffentlichung des Artikels.

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