«Wenn ich noch einmal die Wahl hätte, ich würde ihn nicht mehr anzeigen»
Nur acht Prozent der Frauen, die sexualisierte Gewalt erleben, erstatten Anzeige. Zu gross ist die Angst, dass ihnen nicht geglaubt wird. Eine Baslerin tat es trotzdem – und erlebte, wie die Angst berechtigt ist.
Das ist eine Bajour-Recherche in Kooperation mit Das Lamm. Das werbefreie, leser*innenfinanzierte Medium verzichtet auf eine Paywall und finanziert sich und seine Recherchen gänzlich aus Spenden.
__________
Disclaimer: Dieser Artikel enthält explizite Schilderungen sexualisierter Gewalt.
Letzten Samstag wurde eine Frau gemäss Basler Staatsanwaltschaft Opfer eines Sexualdelikts.
Was passiert, wenn Frauen solche Taten anzeigen? Wir haben am 4. Februar 2021 mit einer Baslerin gesprochen, die genau das gemacht hat und merken musste, dass die Situation nicht einfacher wird.
Aus aktuellem Anlass publizieren wir die Geschichte nochmal neu.
Anja* will nur noch raus. Sie befindet sich in einer Wohnung in Basel, draussen wacht die Stadt langsam auf. Es ist sechs Uhr morgens. Benommen nimmt sie ihr Handy und ihre Hose und läuft zur Tür. Der Mann, mit dem sie die letzte Nacht verbracht hat, stellt sich ihr in den Weg. Er nimmt ihr die Hose weg. Sagt, sie solle sich beruhigen, sie stehe lediglich unter Schock.
Anja rennt zur Tür hinaus, ohne Hose, barfuss die Treppe hinunter. Die Eingangstür ist verschlossen, Anja schreit um Hilfe. Eine Nachbarin hört sie und schliesst auf. Anja beginnt zu rennen, der Mann verfolgt sie, gibt aber nach ein paar Metern auf. Sie dreht sich erst wieder um, als sie bei einem grossen Platz ankommt. Dort setzt sie sich neben einen jungen Mann an die Tramhaltestellte.
Anja ist aufgebracht und benommen zugleich, von den Tabletten, die ihr der Mann angeboten hatte. Die sie schliesslich angenommen hat, ohne richtig zu wissen, warum. Ihre Stimme ist schrill. «Es tut mir so leid, es tut mir so leid. Ich bin gerade vergewaltigt worden.» Der junge Mann an der Haltestelle fragt schockiert, was er tun kann, ob er die Polizei rufen soll. Nein, sagt Anja, keine Polizei. Sie ruft ein Uber, dem Fahrer sagt sie dasselbe. Keine Polizei, kein Krankenhaus. «Bringen Sie mich zu einer Freundin.»
«Ich halte mich für tough, aber seit das passiert ist, bin ich an meine Grenzen gekommen.»Anja* (Name geändert), Opfer sexualisierter Gewalt
Eineinhalb Jahre später sitzt Anja in einem Park im Kleinbasel und knetet ihre Hände. Es ist Ende Januar und in einer Woche wird sie vor Gericht diese Aussagen gegen den Mann wiederholen müssen, der sie in dieser Nacht im Sommer 2019 vergewaltigt hat.**
Anja ist eine zierliche Frau, mit eindringlichen blauen Augen und aufrechter Haltung. «Ich halte mich für tough», sagt sie und man glaubt es ihr sofort, «aber seit das passiert ist, bin ich an meine Grenzen gekommen.» Eineinhalb Jahre sei sie jetzt in dieser Vergewaltigung gefangen. «Und ich komme nicht heraus.»
22 Prozent aller Frauen über 16 Jahren haben laut einer Studie des gfs Bern schon einmal ungewollte sexualisierte Handlungen erlebt. Nur eine von zehn geht nach so einem Erlebnis zur Polizei, gerade mal 8 Prozent erstattet Anzeige. Als Grund gaben die Frauen unter anderem Scham (64%) und Angst davor, dass einem nicht geglaubt wird (58%) an. Rund die Hälfte aller Betroffenen gab an, mit niemandem über das Erlebte zu sprechen, auch nicht mit Freund*innen oder Familie.
Anja versteht sehr gut, warum. Was sie in den vergangenen eineinhalb Jahren seit der Tat durchmachte, bringt sie heute zum Schluss: «Wenn ich noch einmal die Wahl hätte, ich würde ihn nicht mehr anzeigen.»
Vor der Flucht
Den Täter lernt Anja im Frühsommer 2019 im Internet kennen, sie haben gemeinsame Bekannte. Sie schreiben sich hin und her und treffen sich schliesslich, eine Freundin von Anja ist dabei. Später hat Anja mit dem Mann Geschlechtsverkehr, einvernehmlich.
Anja fährt danach nach Hause und kehrt nach ein paar Stunden zu ihm zurück, dieses Mal ohne Freundin. Sie und der Täter verbringen einen «angenehmen Abend», wie es später in der Anklageschrift heissen wird. Er bietet ihr Urbanyl an, ein Benzodiazepin, das gegen Angstzustände eingesetzt wird. «Was Mildes, zum Chillen», sagt er ihr. Anja willigt schliesslich ein. Am Ende des Abends hat sie zwei Tabletten und eine unbekannte Menge Kokain eingenommen. Der Täter konsumiert mehrmals Kokain, mehrere Tabletten Urbanyl und Marihuana.
Anja verbringt die Nacht mit ihm, am frühen Morgen stehen sie rauchend auf dem Balkon. Er fragt sie, ob sie auch sehe, wie es schneie und wie unten eine alte Frau stehe. Sie verneint. «Jetzt kippe ich, gäll?», sagt er und sie empfiehlt ihm, sich schlafen zu legen. Er bittet sie, sich zu ihm zu legen, was sie tut, mit nur einem T-Shirt bekleidet, ihr Rücken gegen ihn gewandt.
Dann dreht er sie plötzlich auf den Rücken. Im Laufe des frühen Morgens vergewaltigt er sie anal, droht ihr mit einem kaputten Trinkglas, beisst sie und verpasst ihr mehrere Ohrfeigen. Zu Beginn wehrt sich Anja noch, sie schreit, fleht ihn an, von ihr abzulassen. Dann wird sie apathisch. Als er fertig ist, ergreift sie die Flucht.
Im Unispital
Am Tag nach der Tat begibt sich Anja auf Zureden ihrer Schwester in die Frauenklinik des Basler Unispitals. Mit einer Flasche Wein in der Hand läuft sie zum Empfang und sagt: Ich bin anal vergewaltigt worden und will untersucht werden. Die nötigen Schritte werden eingeleitet, an viele Details kann Anja sich heute noch erinnern. Etwa, dass die diensthabende Ärztin gefragt habe, ob ihr nicht klar sei, dass die Tat mehr als 24 Stunden her sei, man im Falle einer Vergewaltigung jedoch in den ersten 24 Stunden vorbeikommen müsse. Während der ganzen Untersuchung hatte Anja den Eindruck, sie sei von ihr genervt.
Die Ärztin untersuchte Anja vaginal, so steht es später auch im Bericht. Von einer analen Untersuchung ist nicht die Rede. Als Anja Monate später dieses Detail auffällt, stellt sie die Ärztin zur Rede. Anja habe sich damals gegen eine anale Untersuchung gewehrt, antwortet die Ärztin, worauf sie diese unterlassen habe. «Das ist seltsam», sagt Anja heute, «ich war doch da, weil ich untersucht werden wollte.»
Zur Betreuung von Opfern sexualisierter Gewalt habe das Universitätsspital (USB) ein Konzept, heisst es auf Anfrage bei der Kommunikationsabteilung. Unter momentanen Umständen habe jedoch keine*r der Expert*innen Kapazitäten, dies zu erläutern. Das Konzept sei leider auch nicht einsehbar. Wir hatten um Antworten auf folgende Fragen gebeten:
- Wie geht das Personal vor, wenn eine Person auftaucht, die angibt, Opfer sexualisierter Gewalt geworden zu sein?
- Was sind die einzelnen Schritte, die eingeleitet werden? Gibt es eine Handlungsanweisung?
- Besteht eine Verpflichtung, das Opfer auf körperliche Verletzungen umfassend zu untersuchen?
- Wird das Opfer emotional betreut? Wenn ja, in welcher Form?
- Gibt es am USB speziell geschultes Personal für Opfer sexualisierter Gewalt?
Auch in Bezug auf Anjas Erfahrungen im Unispital haben wir die Pressesprecherin um eine Stellungnahme gebeten. Zu einzelnen Patient*innen sowie deren Behandlung nehme man keine Stellung, hiess es.
Nach der Untersuchung bittet Anja um ein Rezept für Beruhigungsmittel. Die Ärztin schickt sie zum Ambulatorium der Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK), wo die Fachpersonen ihr dringend raten, sich einweisen zu lassen. Doch Anja will nicht. Sie hat Kinder, die sie nicht allein lassen will. «Bitte geben Sie mir einfach was zur Beruhigung.» Schliesslich bekommt sie sechs Tabletten des Beruhigungsmittels Temesta verschrieben.
Zuhause nimmt sie alle Tabletten in kurzem Abstand nacheinander ein. «Ich dachte in dem Moment nicht nach. Ich wusste einfach: Jetzt muss ich mich unbedingt beruhigen.» An die zehn Tage, die danach folgten, hat Anja keine Erinnerung mehr. Sie habe wohl funktioniert, es gibt Fotos von ihr mit dem Sohn draussen, beim Haarefärben mit der Tochter, aber in ihrer Erinnerung ist da nur ein schwarzes Loch. Auch zum Täter ist sie offenbar in dieser Zeit zurückgekehrt.
Eine Episode von damals gibt Anja besonders zu denken. Spätnachts sei sie aus ihrer Wohnung entschlüpft, an ihren zwei schlafenden Schwestern vorbei, die auf sie aufpassten. Sie sei mit dem Fahrrad zum Täter gefahren, habe ihm zwei Joghurt in den Kühlschrank gestellt. Dann sei sie wieder gegangen. Der Täter habe die ganze Zeit geschlafen. Wenn sie daran zurückdenkt, schüttelt sie den Kopf. «Ich habe keine Ahnung, wieso ich das getan habe.»
Bei der Polizei
Zehn Tage nachdem sie die Tabletten eingenommen hatte, wacht sie auf und ist bei klarem Verstand. «Da merkte ich: Ich bin noch da.» Sie telefoniert herum, fragt bei Freundinnen nach einer geeigneten polizeilichen Person, die ihr jetzt eine Unterstützung sein kann. Bei der Wache warten zwei Mitarbeiter*innen der Sozialen Dienste und ein Polizist auf sie. Man nimmt sich Zeit für Anja, sie fühlt sich aufgehoben. Nach stundenlangem Notieren teilt man ihr mit, es werde jetzt Anzeige erstattet, ob sie das wolle oder nicht. Anja fühlt sich hintergangen. Sie ist hergekommen, um Unterstützung zu bekommen, Anzeige hat sie ausdrücklich nicht erstatten wollen, aus Angst vor den Konsequenzen.
Weil Anja von einer analen Vergewaltigung erzählt, wird als Straftat nicht Vergewaltigung, sondern sexuelle Nötigung verzeichnet (das zu ändern, ist unter anderem eine der Forderungen für die Revision des Schweizer Sexualstrafrechts, siehe Infobox). Für Fachpersonen ist das reine Formsache, beides wird juristisch gleich behandelt. Für Anja ist es eine tiefgreifende Unterscheidung. «Es klingt als hätte ich keine tatsächliche Vergewaltigung erfahren.»
Revision Sexualstrafrecht
Seit über einem Jahr wird in der Schweizer Politik über zwei Punkte im Sexualstrafrecht diskutiert:
- Damit eine sexuelle Handlung gegen das Gesetz verstösst, muss es laut aktuellem Schweizer Sexualstrafrecht zu Gewalt kommen. Ausserdem muss sich das Opfer aktiv wehren, es muss klar machen, dass es die sexuelle Handlung nicht will
- Die Bezeichnung «Vergewaltigung» setzt nach heutigem Recht voraus, dass ein Penis in eine Vagina eindringt - alles andere gilt als sexuelle Nötigung.
Im zweiten Punkt ist man sich einig: Der Bundesrat und die Rechtskommission hielten im Januar 2020 fest, dass der Gesetzestext geschlechtsneutral formuliert werden soll, dass also vaginale wie anale Handlungen als Vergewaltigung gelten können.
Der erste Punkt aber wird kontrovers diskutiert. 55 Verbände, Fachstellen und NGOs wie Amnesty International fordern unter dem Namen «Stopp sexuelle Gewalt», dass «alle sexuellen Handlungen ohne Einwilligung angemessen bestraft werden können».
Sie kritisieren am aktuellen Gesetzestext insbesondere, dass sexualisierte Gewalt nur dann strafrechtlich verfolgt wird, wenn die betroffene Person durch Gewalt oder Zwang dazu genötigt wurde und wenn sie sich aktiv dagegen zur Wehr setzte, nach dem Motto «Nur strampeln und schreien heisst nein». Ihre Forderung: Eine so genannte «Zustimmungslösung». Als einvernehmlicher Sex gilt es nur, wenn beide Parteien ihre Zustimmung aktiv signalisiert haben.
Gegnerinnen allerdings argumentieren: Für eine strafrechtliche Verfolgung muss nachgewiesen werden, dass der Täter sich über den Willen des Opfers hinweggesetzt hat. Das Fehlen einer aktiven Zustimmung zum Geschlechtsverkehr sei hingegen kein Grund zur Strafe. Die Fachanwältin für Strafrecht Tanja Knodel sagte in einem Interview mit der Republik: «Das Risiko, dass es mit den vorgeschlagenen Änderungen vermehrt zu Falschanzeigen kommt, erachte ich als hoch.»
Vergangenen Montag hat die Rechtskommission des Ständerates ihren Vorschlag in die Vernehmlassung gegeben. Unter anderem stellt sie darin einen neuen Grundtatbestand des «sexuellen Übergriffs» zur Debatte. Dieser kommt dann zum Zug, wenn der Täter das Opfer nicht nötigt und keine Abhängigkeit oder Notlage ausnützt. Dadurch solle der entgegenstehende Wille von sexuell mündigen Opfern geschützt werden.
Die Zustimmungslösung, wonach eine Person explizit dem Sex zustimmen muss, bevor es zum Geschlechtsverkehr kommt, fand in der Kommission keine Mehrheit. Sie schlägt aber vor, den Begriff der Vergewaltigung auf «beischlafsähnliche Handlungen» auszuweiten. Dies würde auch Oral- und Analverkehr einschliessen.
Amnesty International reagierte enttäuscht auf den Vorschlag. Er werde Opfern sexualisierter Gewalt nicht gerecht, schreibt die Organisation in einer Stellungnahme. Damit werde eine Art «unechte Vergewaltigung» geschaffen, bei der das Strafmass vom Verhalten des Opfers abhänge. «Wenn die Täterschaft kein Nötigungsmittel anwenden muss, weil sie einen Zustand der Überraschung oder des Schocks ausnutzte, der das Opfer daran hinderte, sich zu wehren, riskiert sie maximal drei Jahre Gefängnis. Bei einer Vergewaltigung hingegen drohten bis zu zehn Jahre Haft», schreibt Amnesty International weiter.
Agota Lavoyer kennt das Problem. «Gerade bei sexualisierter Gewalt wäre es förderlich, wenn juristische Begriffe jenen Bezeichnungen, die wir als Gesellschaft brauchen, entsprechen würden», sagt sie über Zoom. Lavoyer ist stellvertretende Leiterin und Beraterin bei Lantana, Fachstelle Opferhilfe bei sexualisierter Gewalt in Bern. Seit Jahren setzt sie sich für eine Sensibilisierung für Opfer sexualisierter Gewalt ein.
Die irreführende juristische Sprache führe häufig zu Missverständnissen, genauso wie fehlendes Einfühlungsvermögen seitens der Behörden. Sexuelle Nötigung sei ein Offizialdelikt, die Behörden seien also dazu verpflichtet, die Ermittlungen aufzunehmen. «Hätte man Anja vor Ort aber besser aufgeklärt, würde sie sich nicht so hintergangen fühlen.» Um das zu bewerkstelligen, brauche es eine stärkere Schulung derjenigen Fachpersonen, die mit Opfern sexualisierter Gewalt zu tun haben.
Agota Lavoyer ist stellvertretende Leiterin und Opferhilfe-Beraterin bei Lantana, der Fachstelle Opferhilfe für Frauen bei sexualisierter Gewalt.
Bei der Polizei Basel-Stadt sei man sich dieser Herausforderung bewusst, heisst es auf Anfrage. Das Korps werde im Rahmen von obligatorischen Schulungen und Themenausbildungen weitergebildet. Die Fachstelle Häusliche Gewalt im Justiz- und Sicherheitsdepartement sei laufend um eine Sensibilisierung aller Akteur*innen bemüht, ein opferzentriertes und traumainformiertes Vorgehen – gerade bei sexualisierter Gewalt – zu fördern.
Denn, so der Pressesprecher der Polizei: «Gerade bei sexualisierter Gewalt kommt es bei vielen Opfern zu Traumatisierungen, die sich ungünstig auf den Strafverfolgungsprozess auswirken können. Viele Opfer sind aufgrund der Traumatisierung nicht fähig, stringente Aussagen zu machen, wodurch ihre Glaubwürdigkeit angezweifelt wird.»
Am Ende gibt Anja den Behörden doch den Namen des Täters. Der Polizist nickt, der Mann sei ihnen bekannt. Anja fühlt sich unwohl, aber auch erleichtert. «Ich dachte, jetzt holen sie ihn.»
«Es gibt eine sehr starke Vorstellung davon, wie sich ein typisches Opfer zu verhalten hat.»Agota Lavoyer, Stv. Leiterin und Beraterin bei Lantana, Fachstelle Opferhilfe bei sexualisierter Gewalt
Ob man einen Beschuldigten inhaftiert, sagt der Pressesprecher der Polizei, sei von Fall zu Fall unterschiedlich. «Der Täter kann je nach Fall festgenommen bzw. ausgeschrieben werden, in Haft genommen werden, ein Rayonverbot erhalten oder mittels Gefährderansprache durch den Sozialdienst der Kantonspolizei Basel-Stadt kontaktiert werden.»
Anjas Täter holt man nicht. Er taucht noch ein paar Mal vor Anjas Wohnung auf, trifft sich mit Bekannten von ihr, man kennt sich. Einmal sieht er sie am Rhein und tänzelt vor ihr auf und ab «Da bin ich! Reg dich ab!». Anja begibt sich in Therapie.
Bei der Staatsanwaltschaft
Später wird sie von der Staatsanwaltschaft zur Einvernehmung eingeladen. Dort erlebt sie die, wie sie sagt, «demütigendste» Episode der letzten eineinhalb Jahre. Die Anhörende habe die Hände hinter dem Kopf verschränkt und ihr immer wieder misstrauische Fragen gestellt.
Wieso sie nach der Vergewaltigung halbnackt zu dem Mann an der Tramhaltestelle gerannt sei, das tue man doch nicht nach so einem Erlebnis. Wieso sie die Tabletten genommen habe.
Anja sagt, sie habe sich immer wieder für ihre Erfahrung rechtfertigen müssen. «Mir ist klar, dass man das hinterfragen muss, dass es eine Untersuchung ist», sagt sie heute. «Aber dieses Gefühl schuldig zu sein, hätte sie mir so nicht vermitteln müssen. Muss ich denn weinend in der Ecke liegen, damit man mir glaubt?»
Auf die Bitte nach Stellungnahme zu Anjas Geschichte antwortet die Pressestelle der Staatsanwaltschaft: «Bestehen Zweifel an Aussagen eines Opfers, so müssen diese, wie bei anderen Delikten, hinterfragt werden, denn eine mögliche Verurteilung der Täterschaft ist nur möglich, wenn entsprechende Beweise bzw. Indizien vorliegen.»
Doch die Beweisführung arbeite oft mit falschen Vorstellungen, sagt Agota Lavoyer von der Fachstelle Opferhilfe: «Es gibt eine sehr starke Vorstellung davon, wie sich ein typisches Opfer zu verhalten hat.»
«Eine mögliche Verurteilung der Täterschaft ist nur möglich, wenn entsprechende Beweise vorliegen.»Pressestelle Staatsanwaltschaft Basel-Stadt.
Es komme vor, dass ein Freispruch unter anderem mit dem Begriff des «kontraintuitiven Opferverhaltens» begründet wird, was impliziere, dass es ein intuitives Opferverhalten gibt. Also eine Art «Normalverhalten», das von einem Opfer zu erwarten ist. «Das ist einfach falsch.» Jedes Opfer sexualisierter Gewalt gehe auf individuelle Art mit dem Trauma um. Studien zum Thema zeigten ausserdem, dass tatsächliches Verhalten konträr zu dem stehe, was man gesellschaftlich unter typischem Opferverhalten versteht: «Häufig übernachtet das Opfer noch beim Täter, es rennt nicht sofort davon und sucht ihn später mehrmals wieder auf.»
Wie damals Anja.
Das gesellschaftliche Bild des Opfers sexualisierter Gewalt ist also doppelt falsch: Weder gibt es ein typisches Opferverhalten, noch ist das, was als typisches Verhalten gilt, tatsächlich häufig der Fall.
Ebenso irritierend findet Lavoyer die starke Fokussierung der Gesellschaft auf das Opfer. «Täter sind in unserer Gesellschaft immer noch unsichtbar. Sie kommen in fast keiner Diskussion vor. Viel lieber wird über das Opferverhalten als über das Täterverhalten geredet. Täter kommen nicht mal im Begriff ‹Gewalt gegen Frauen› vor», schrieb sie Mitte Januar in einem öffentlichen Facebookpost. Mädchen und Frauen werde immer noch das Gefühl gegeben, sie müssten sich verändern, damit Männergewalt gestoppt werden kann, schreibt sie weiter.
«Um Erfahrungen wie die von Anja zu verhindern, braucht es mehr Schulungen über sexualisierte Gewalt und über den Umgang mit traumatisierten Opfern für Fachpersonen, die mit Opfern arbeiten», sagt Lavoyer. Anjas Fall zeige auf, wie wichtig die Arbeit der Opferhilfe sei. «Es wäre wünschenswert, dass Anwältin, Polizistin und Staatsanwältin das Opfer aufklären und sensibel mit dem Thema umgehen. Aber wenn das nicht der Fall ist, ist es umso wichtiger, dass die Frauen von einer Opferhilfeberaterin begleitet werden.»
«Der zweite Februar ist für mich ein Schlussstrich. Dann werde ich hoffentlich endlich abschliessen können.»Anja* (Name geändert), Opfer sexualisierter Gewalt
Im Park hat es angefangen zu schneien. Anja hat Tee mitgebracht und einzelne Becher. Sie zündet sich eine Zigarette an. Mittlerweile sei sie wieder sich selbst, sagt sie. Corona habe geholfen, die erzwungene Isolation, das Tragen der Maske in der Öffentlichkeit. «Das gab mir einen gewissen Schutz.» Auch die Therapie und ihr starkes Umfeld seien eine grosse Unterstützung gewesen. Anja ist wieder mit ihrem früheren Partner zusammen und ihre beiden Schwestern werden sie an die Verhandlung begleiten. Mit in den Saal kommen sie nicht. «Das will ich ihnen nicht antun.»
In der Anklageschrift stehen auch noch andere Straftaten wie Besitz harter Pornografie und Sachbeschädigung. Anja und ihre Anwältin hoffen, damit genug in der Hand zu haben. Für Anja ist eine Sache aber fast noch wichtiger: «Der zweite Februar ist für mich ein Schlussstrich», sagt sie. «Dann werde ich hoffentlich endlich abschliessen können.»
Am Gericht
Vor dem Gericht stehen am Dienstagmorgen rumd 40 Menschen mit Schildern, auf denen «I believe her» steht – ich glaube ihr. Sie sind hier in Solidarität mit Anja, deren Schwester sich ein paar Wochen zuvor beim feministischen Streikkollektiv gemeldet und um Unterstützung gebeten hat. Am Abend wird es eine solidarische Demonstration auf dem Marktplatz geben, auch in Hinblick auf die Revision des Sexualstrafrechts (siehe Infobox oben).
Im Gericht steht Aussage gegen Aussage. Anjas Fall ist ein sogenanntes «4-Augen-Delikt», bei dem sich die Stafverfolger*innen nur auf die Aussagen der beiden Beteiligten stützen können. Entsprechend detailgenau wird über die Tat im Sommer 2019 gesprochen. Punkt für Punkt muss Anja noch einmal ihre Vergewaltigung schildern und sich für scheinbare Widersprüche in Verhalten und Erzählung rechtfertigen. Sie wird auch zu ihren sexuellen Vorlieben befragt, es geht darum wie «normaler Sex» auszusehen habe. Anja erklärt, dass es sich nicht mehr um Sex handelt, wenn eine der Involvierten leidet. Sondern um eine Vergewaltigung.
Solche Einvernahmen tue sich niemand aus Jux an, sagt Agota Lavoyer von der Fachstelle Opferhilfe bei sexualisierter Gewalt. «Im Gegenteil. Meine Erfahrung ist, dass die Frauen sehr lange hadern, eine Anzeige zu erstatten. Genau weil sie eben wissen, was damit auf sie zukommt und dass sie womöglich auch eine sekundäre Traumatisierung riskieren.» Dass Frauen aus Rache Männer falsch beschuldigten, sei ein verheerender Vergewaltigungsmythos, der sich hartnäckig halte. «Unzählige Studien beweisen, dass die Falschanzeigequote zwischen zwei und acht Prozent liegt und somit gleich tief wie bei anderen Delikten ist.»
Die Staatsanwaltschaft fordert vier Jahre und einen Landesverweis, die Verteidigung plädiert auf Freispruch. Der Geschlechtsverkehr sei einvernehmlich gewesen. Das behauptet auch der Täter in seiner Befragung. Seine Anwältin verweist auf vermeintliche Widersprüche in Anjas Erzählung und redet von «normalem Opferverhalten».
«Man darf nie vergessen: der Beschuldigte und sein*e Strafverteidiger*in haben eine ganz klare Verteidigungsstrategie», sagt Lavoyer. «Und zwar: Mit welchen Argumenten bringen wir das Gericht dazu, den Beschuldigten freizusprechen? Da kommen alle möglichen Argumente zum Zug, egal wie absurd, egal wie verletzend für das Opfer.» Bei Sexualdelikten, klassischerweise 4-Augen-Delikte, sei es am einfachsten, darauf zu plädieren, dass es einvernehmlich gewesen sei.
Die Verhandlung ist auf anderthalb Tage festgelegt, das Urteil wird am nächsten Tag um 11 Uhr verkündet. Am Abend zuvor treffen sich rund 300 Personen auf dem Marktplatz, um ihre Solidarität gegenüber Opfern sexualisierter Gewalt kundzutun und auf die Debatte um die Revision des Sexualstrafrechts (siehe Infobox oben) aufmerksam zu machen. Nebst verschiedenen Redebeiträgen gibt es eine Performance, in der die Situation einer Opferbefragung nachgespielt wird. Eine Frau sitzt in hautfarbener Kleidung auf einem Stuhl und wird zur Rechtfertigung gezwungen. Vieles von dem, was hier gezeigt wird, hat auch Anja so erlebt.
Um 11 Uhr am Mittwoch wird das Urteil verkündet: Der Mann wird verurteilt und wegen sexueller Nötigung und Übertretung des Betäubungsmittelgesetzes schuldig erklärt. Dazu kommt ein Schuldspruch wegen Sachbeschädigung, hinter dieser Anklage steht ein anderer Kläger. Die Gesamtstrafe: zwei Jahre und vier Monate.14 Monate sind auf Bewährung, das heisst 14 Monate muss der Täter zwingend ins Gefängnis, die restlichen 14 Monate ist er draussen, muss aber straffrei bleiben.
Anja musste insgesamt 17 Monate auf diesen Prozess warten.
Das Dreiergericht begründet das Urteil damit, dass der Täter keinen Bezug zu seinem Herkunftsland habe. Es sei sein erstes Gewaltdelikt gewesen und einmalig geblieben. Anjas Erzählung bezeichnet das Gericht als nachgewiesen, alle von der Verteidigung genannten vermeintlichen Widersprüche weist es ab.
Anja selbst ist am Tag des Urteils nicht anwesend. Sie hat am Tag zuvor all ihre Notizen und Erinnerungsstützen zum Fall verbrannt.
__________
* Name geändert
** Das Urteil wurde am 3. Februar gesprochen und ist noch nicht rechtskräftig.