«Welcher Mann will zugeben, dass er von seiner Frau geschlagen wird?»
Die Opferhilfe beider Basel will verhärtete Opfer-Täter-Bilder aufbrechen und spricht mit der Sensibilisierungskampagne «Gewalt kennt kein Geschlecht» explizit Männer an.
Wenn die Polizei spätabends wegen häuslicher Gewalt gerufen wird, handelt es sich bei dem Opfer meistens um eine Frau und bei dem Täter um einen Mann. Nach der polizeilichen Wegweisung – also der Verweisung der Täterschaft aus der Wohnung – wird die Opferhilfe informiert und meldet sich bei der Frau. Das ist ein gängiger Weg, über den Opfer von häuslicher Gewalt an die Opferhilfe beider Basel gelangen, aber es ist längst nicht der einzige und es sind auch nicht immer Frauen, die Opfer, und Männer, die Täter werden.
«Jeden Tag wendet sich mittlerweile durchschnittlich ein Mann an die Opferhilfe», berichtet Geschäftsleiter Beat John. Die Männer finden über Freunde, Bekannte oder das Spital zur Opferhilfe. Bei den Frauen ist die Zahl nach wie vor viel höher. Hier sind es fünf neue Gewaltfälle pro Tag.
In der Schweiz sind 56 Prozent aller Betroffenen von Straftaten Männer. Gleichzeitig sind nur 30 Prozent der Hilfesuchenden bei den Opferberatungsstellen männlich. Wird von häuslicher Gewalt gesprochen, denken wir meistens an weibliche Opfer und männliche Täter. Die klassischen Opfer-Täter-Stereotypen haben sich in unser Unterbewusstsein eingebrannt und sind schwer wieder loszuwerden. Bei Männern, die von häuslicher oder sexualisierter Gewalt betroffen sind, kann sich dadurch eine schier unüberwindbare Mauer aus Scham und Angst auftürmen.
«Wer sich schämt, Opfer geworden zu sein, wird kaum Hilfe anfordern»Beat John, Geschäftsleiter Opferhilfe beider Basel
Um diese Mauer zu überwinden, braucht es Mut und sensible Anlaufstellen. Deshalb hat die Opferhilfe beider Basel eine Kampagne mit dem Slogan «Gewalt kennt kein Geschlecht» lanciert. «Es gibt auch ein Zuviel an Scham. Dies ist der Fall, wenn jemand von Schamgefühlen überflutet wird. Wer sich schämt, Opfer geworden zu sein, wird kaum Hilfe anfordern», so John. Die Kampagne soll alle Geschlechter ansprechen und explizit auch Männer, denn: «Auch sie sind verletzlich und haben Anspruch auf Hilfe. Sich dies einzugestehen, fällt vielen Männern bis heute schwer. Viele Straftaten werden nicht gemeldet, die Dunkelziffer ist entsprechend gross.»
Das grösste Tabu
In den vergangenen Jahren sei richtigerweise viel unternommen worden, um auf die Gefahr von häuslicher und sexualisierter Gewalt gegen Frauen aufmerksam zu machen, so John. Nun sei es wichtig, dass man nicht in der Annahme verharre, Männer könnten nur Täter sein und niemals Opfer, sagt er.
Seit der Revision des Sexualsstrafrechts ist der Tatbestand der Vergewaltigung in der Schweiz erstmals geschlechtsneutral definiert – nun können also auch rechtlich Männer Opfer einer Vergewaltigung sein. Trotzdem fällt es vielen schwer, sich Hilfe zu holen, wenn ihnen Gewalt widerfährt, berichtet John. «Welcher Mann will schon zugeben, von seiner Frau geschlagen oder misshandelt worden zu sein?» sagt er. Sexualisierte Gewalt sei dementsprechend auch das grösste Tabu bei männlichen Gewaltopfern. «Die meisten Männer, die sich deshalb an uns wenden, leben in gleichgeschlechtlichen Beziehungen. Wir wissen aber, dass es gewaltvollen Machtmissbrauch in allen Beziehungsformen geben kann», so John.
Die allgemeinen Sensibilisierungsmassnahmen bezüglich häuslicher und sexualisierter Gewalt der letzten Jahre hätten Wirkung gezeigt, so John. In den letzten zwei Jahren gab es eine deutliche Steigerung. Die Opfermeldungen sind in der Region um 16 Prozent gestiegen und das gleichmässig auf Männer und Frauen verteilt. Seit dem Sommer seien die Zahlen nochmals gestiegen. Ob das auf die Kampagne zurückzuführen sei, könne man zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht einschätzen. Deutlich zu beobachten sei aber, dass sich Männer aus allen gesellschaftlichen Schichten und Nationen melden.
Bruch mit den Rollenvorstellungen
Bei der Opferhilfe gibt es ein spezifisches Männer-Team, das die männlichen Opfer beim Erstgespräch berät. Der Gang zu einer Opferberatungsstelle, sei für viele Männer ein Bruch mit den eigenen strikten Rollenvorstellungen. Was sie in dieser Situation brauchen, sei Unterstützung. So könnten festgefahrene Vorstellungen umgedeutet und das Annehmen von Hilfe als Zeichen der Stärke und Autonomie erfahren werden.
John berichtet, dass die Beratungen bei den Männern meistens kürzer dauern als bei weiblichen Opfern häuslicher Gewalt. «Frauen, die misshandelt und unterdrückt werden, leben oft in einem Abhängigkeitsverhältnis und verlieren alles, wenn sie sich von dem Täter trennen. Deshalb geht es in den Beratungen dann auch darum, eine Schutzunterkunft zu finden, eine Arbeitsstelle und eine neue Wohnung zu organisieren.» Bei Männern sei das häufig anders, sie sind weiterhin ihrer Arbeit nachgegangen und übernachten vorübergehend bei Freunden, deshalb sind diese Themen dann nicht relevant.
Die Sensibilisierungskampagne zeige absichtlich keine Gewalt – «weil wir täglich schon genügend Gewaltbilder zu sehen bekommen» – und auch keine Personen –«weil wir mit den Darstellungen immer auch jemanden ausgrenzen würden, der dann nicht angesprochen wird» – so Beat John.