Slow Travel
In diesem Sommer werden wir wegen des Corona-Virus alle etwas gemächlicher unterwegs sein. Warum das auch ein Gewinn sein kann, zeigt die Kunst des langsamen Reisens.
04/25/20, 02:52 PM
Aktualisiert 04/26/20, 07:07 AM
Entschleunigung auf vier Rädern: Warum nicht mit dem nostalgischen Wohnei von Rosita.ch lost, statt mit dem Flugzeug? (Foto: Gerold Huber)
«Sie kauen an ihren Nägeln und schauen angestrengt auf die Namen der Stationen, die auf der Anzeige vorbeilaufen. Die Geschäftsreisenden verraten sich dadurch, dass sie plötzlich anfangen, wie wild zu telefonieren. Sie lassen sich dazu hinreissen, eine glanzvolle Schilderung von etwas abzugeben, das sich höchstwahrscheinlich als eine langweilige Geschäftsverhandlung in einem Gewerbegebiet in der Nähe eines provinziellen Flughafens erweisen wird. Kurz darauf erklingt das blecherne Rauschen eines Düsenjets. Es ist so laut, dass die nervösen Urlauber in einer Mischung aus Schrecken und Ehrfurcht vor sich hin starren. Die Leute fangen an, über den Sicherheitscheck zu murren. Sie greifen zum Handgepäck, um zum x-ten Mal festzustellen, dass der Pass da ist. Dann geht eine Welle der Bewegung durch die Menge, jeder greift nach seinen Taschen und Koffern. Beim Aussteigen werden die Passagiere kopflos wie Tiere, die das Herannahen eines Orkans spüren. Auf dem Bahnsteig kämpfen Koffer um die Vorherrschaft über den Fahrstuhl, doch dort wartet bereits eine Schlange mit Leuten aus dem letzten Zug. Endlich ist die letzte Tasche davongetragen. Die Türen piepen und schliessen sich, der Zug fährt an. Alle haben es auf den Bahnsteig geschafft. Alle ausser mir. Ich steige nie am Flughafen aus. Erst wenn ich ihn hinter mir gelassen habe, weiss ich, dass ich tatsächlich unterwegs bin.»
Der britische Reiseschriftsteller Dan Kieran hat seit über zwanzig Jahren kein Passagierflugzeug von innen gesehen. Dafür hat er seine ganz eigene Philosophie entwickelt, die auf sieben Regeln basiert. Eine davon heisst: Reise nicht nur, um anzukommen.
Dass er damit den Zeitgeist trifft, das zeigen nicht nur die Tausenden von Pilger*innen, die jedes Jahr den Jakobsweg entlang wandern. Um sich selbst zu finden, einen Übergang wie den Auszug der Kinder zu verarbeiten oder die eigenen Grenzen auszuloten, radeln andere mit dem Velo durch Europa. Oder nehmen ein langsames Gefährt wie eine Kutsche, steigen auf einen beladenen Maulesel oder, wie Kieran selbst, fahren mit einem alten Milchwagen durch das britische Königreich.
Abenteuer gibt es auch vor der eigenen Haustüre: Wann habt ihr das letzte Mal unter freiem Himmel geschlafen? (Foto: Sarah Zehnder)
Auch wir werden – aller Voraussicht nach – in diesem Sommer anders reisen. Der Bund ruft weiterhin dazu auf, auf Auslandreisen zu verzichten. Jeder Dritte hat schon eine Buchung storniert oder umgebucht, wie eine Studie der Hochschule Luzern zeigt. Vieles hänge derzeit in der Schwebe, erklärt Gesundheitsminister Alain Berset diese Woche bei einem Besuch im Kanton Graubünden. Oder anders gesagt: Er wollte sich nicht festlegen, ob wir 2020 noch ins Ausland reisen dürften. Experten rechnen damit, dass Überseereisen wohl frühestens wieder 2021 möglich sein werden.
Anders sehe es hingegen im Inland aus. «Wenn die Eindämmungsstrategie funktioniert, dann haben wir hier mehr Steuerungsmöglichkeiten,» sagt der Gesundheitsminister. Auch wenn noch nicht ganz klar ist, wann die Touristische-Infrastruktur wieder hochgefahren wird, es könnte diesen Sommer eng werden. Nicht nur auf den Campingplätzen.
Doch was wäre, wenn wir die Gelegenheit nutzen würden, um unsere Gewohnheiten ganz neu zu denken? Der Mensch reist, um sein Leben zu vervollständigen. Sich zu erholen. Muss man dafür wirklich immer schneller immer höher, immer weiter weg?
Nein, sagt Reiseschriftsteller Kieran. Man könne dafür auch zu Hause bleiben. Denn es gehe um die Haltung. Slow Travel sei keine Flucht. Viel eher schaue man in sich selbst hinein. Denke über sein Leben nach, wer man ist. Ob man die richtigen Sachen macht. Dies steht im Gegensatz zur gängigen Reisepraxis, bei der man sich meist einfach eine bestimmte Menge an Erlebnissen erkauft und Sehenswürdigkeiten und exotische Erlebnisse konsumiert.
Abgelenkt durch die Verpflichtungen des Alltags, nehmen wir uns selbst kaum mehr wahr, weil eigentlich immer die Zeit fehlt. Und ist sie dann doch einmal da, scheint sie einem zwischen den Fingern zu zerrinnen. Durch den technischen Fortschritt und die Digitalisierung ist die Beschleunigung zum Grundprinzip geworden. Einerseits entlasten uns Haushaltsgeräte, und das Flugzeug verkürzt die Reisezeit. Andererseits hinterlassen sie nicht das Gefühl, mehr Zeit zu haben, ganz im Gegenteil. Erinnern Sie sich noch an die grossen Ferien in der Kindheit? Damals waren diesen unvorstellbar lang.
Vor dem Einschlafen durch Montenegro reisen? Kein Problem. Virtuelle Zugreisen führen uns mit der Gebirgsbahn an die Adriaküste, unterwegs durchqueren sie insgesamt 102 Tunnel und 96 Brücken. Weitere Reisen finden sich hier.
Der Zeitsinn eines erwachsenen Menschens tickt immer schneller. Bis etwa zum Alter von sechzig Jahren, sagt die Forschung. Die gleichen Studien sagen aber auch, dass es ein Mittel gibt, die Zeit zu dehnen. Aufregende und neuartige Erlebnisse etwa. Wenn man etwas zum ersten Mal tut. Zeitforscher wie der Psychologe Marc Wittmann empfehlen deshalb, die eigenen Routinen zu brechen.
Es scheint uns oft, die Welt sei vermessen. Dabei lässt sich Bekanntes vor der Haustüre mit paar Tricks neu entdecken. Dazu passen die Mikroabenteuer. Ein Begriff, der stark vom Briten Alastair Humphreys geprägt wurde. Gemeint ist, unter den Sternen zu schlafen, über dem Feuer zu kochen, sich einen Fluss hinuntertreiben zu lassen oder einfach einer Autobahn oder Tramschiene entlangzulaufen.
Auch Humphreys war ein grosser Weltenbummler, ehe er begann, vom Glück zu berichten, dem Alltag im Alltag zu entfliehen. Auf sozialen Netzwerken wie Facebook oder Instagram gibt es Gruppen wie die Abenteuerfrauen, in denen sich Menschen verabreden und versteckte Orte sowie Erlebnisse teilen. Sie fahren nach der Arbeit mit Velo, Schlafsack, Cervelats und Kaffeekanne auf einen Berg oder in den Wald. Dort machen sie ein Feuer und schlafen draussen. Am Morgen geht es nach dem Frühstück wieder zurück in die Stadt und zur Arbeit.
Ein Verbund von Abenteuerfrauen inspirieren auf Instagram zu eigenen Abenteuern in der freien Natur.
Im Gegensatz zum nahen Ausland ist hierzulande dank dem sogenannten «Jedermanns-Recht» das Biwakieren, also das Schlafen unter freiem Himmel, in vielen Kantonen erlaubt. In der Regel sogar mit einem kleinen Zelt. Ausnahmen sind private Grundstücke und Naturschutzzonen. Dabei keine Spuren und keinen Abfall zu hinterlassen, ist mehr als eine Ehrensache. Gegen einen Obolus stellen aber auch viele Bauern eine Wiese und Toiletten zur Verfügung.
Wer nun gerne anfangen möchte, aber noch nicht weiss wie, dem sei folgendes empfohlen. Man nehme einen Rucksack. Packe etwas Proviant ein. Und laufe los. In irgendeine Richtung, bis zum Sonnenuntergang. Wenn Sie nicht mehr können, dann nehmen Sie ein Taxi zurück, oder lassen sich von einer Freundin oder einem Freund abholen. Das Wichtigste dabei: Behandle das eigene Zuhause mit der Geisteshaltung eines Reisenden.
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