24-Stunden-Woche – wie soll das gehen?

Eine Verkürzung der Arbeitszeit würde nicht nur das Wohlbefinden der Beschäftigten steigern, sondern wäre auch gut fürs Klima. Eine Diskussion darüber kommt in der Schweiz gerade in Fahrt.

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Dieser Artikel ist am 28.04.2022 zuerst bei der WOZ erschienen. Die Wochenzeitung gehört wie Bajour zu den verlagsunabhängigen Medien der Schweiz.

Arbeit, Freizeit, Gesellschaft
Derzeit ist ein internationaler Trend Richtung Arbeitszeitsenkung zu beobachten, der auch von der Politik ausgeht. (Bild: Timon Studler / Unsplash)

Am 9. April versammelte sich im ganzen Land ein auf den ersten Blick überraschendes Bündnis von Klimastreikenden, Gewerkschafter:innen und Frauenbewegten zum «Strike for Future». Ihre Forderung: eine massive Reduktion der Erwerbsarbeitszeit. Auch wenn es nicht zum erhofften Grossaufmarsch kam, sei es dennoch «ein wichtiger Anfang» gewesen, sagt Tiziano De Luca vom Klimastreik.

Für den Klimastreik ist eine «radikale Arbeitszeitverkürzung» bei vollem Lohnausgleich für tiefe und mittlere Einkommen aus mehreren Gründen zentral: Sie ist Voraussetzung für die Abkehr von einer «klimaschädlichen Überproduktion» hin zu einem Wirtschaftssystem, in dem nur so viel produziert wird, wie die Menschen auch wirklich brauchen. Wer mehr Freizeit hat, so die Hoffnung, konsumiert weniger. Man kauft zum Beispiel keine klimaschädlichen Fertigprodukte, sondern nimmt sich Zeit zum Kochen. Zudem fallen bei der notwendigen ökologischen Umgestaltung der Wirtschaft viele Arbeitsplätze weg; auch um Arbeitslosigkeit zu verhindern, brauche es also eine Arbeitszeitreduktion.

Radikal oder pragmatisch?

Für den Klimastreik ist die Forderung nach einer Arbeitszeitreduktion aber auch ein Mittel, um die strategische Partnerschaft mit der Frauenbewegung und den Gewerkschaften zu stärken. Denn für den angestrebten gesellschaftlichen Wandel braucht die Bewegung starke Bündnispartner:innen. Die Frauenbewegung fordert eine massive Arbeitszeitreduktion, weil damit unbezahlte Arbeit, die immer noch mehrheitlich von Frauen geleistet wird, gerechter verteilt werden könnte. Für die Gewerkschaften wiederum ist die Arbeitszeitreduktion seit jeher eine zentrale Forderung (vgl. «Der Achtstundentag als Befriedungsmassnahme»).

«Beim Kampf um die Arbeitszeit waren wir in den letzten Jahren in der Defensive», sagt Vania Alleva, Präsidentin der Unia. So habe sich die Gewerkschaft mit über zwanzig Referenden gegen die Ausweitung der Ladenöffnungszeiten gewehrt. Denn länger geöffnete Läden bedeuten für das Verkaufspersonal: noch mehr Flexibilität, noch mehr dann arbeiten, wenn andere frei haben. Auch sei die Unia bei Verhandlungen um neue Gesamtarbeitsverträge immer wieder mit Forderungen nach der Aufweichung fester Arbeitszeiten konfrontiert gewesen. «Nun wollen wir in die Offensive und planen Arbeitszeitkampagnen in den einzelnen Branchen», sagt Alleva. «Es geht dabei auch darum, dass die grossen Produktivitätsgewinne der letzten Jahre an die Beschäftigten weitergegeben werden.»

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Zwischen den Vorstellungen des Klimastreiks und der realen Politik der Gewerkschaften gibt es allerdings riesige Unterschiede: Während der Aktionsplan des Klimastreiks von einer radikalen Verkürzung auf eine 24-Stunden-Woche ausgeht, stehen bei den Gewerkschaften, auch aufgrund ihrer eher schwachen Verankerung in vielen Branchen, pragmatische Überlegungen im Vordergrund. Es wäre schon ein Fortschritt, wenn es künftig für alle Beschäftigten möglich wird, Teilzeit zu arbeiten. Eine reale Arbeitszeitreduktion um ein, zwei Stunden pro Woche bei vollem Lohnausgleich würde als grosser Erfolg gefeiert.

Zufriedener, gesünder, treuer

Derzeit ist jedoch ein internationaler Trend Richtung Arbeitszeitsenkung zu beobachten, der auch von der Politik ausgeht: In Kalifornien ist ein Gesetzesentwurf im Parlament hängig, der die Verkürzung der Arbeitszeit in grossen Unternehmen von 40 auf 32 Stunden vorsieht. In Schottland wird 2023 ein Versuch starten, bei dem die Beschäftigten ihre Arbeitszeit ohne Lohnabstriche um zwanzig Prozent reduzieren dürfen. Der Staat unterstützt den Versuch mit Geld und erhofft sich eine zufriedenere und gesündere Bevölkerung, was zu tieferen Gesundheitskosten führen soll. In Belgien dürfen künftig alle auf eine Viertagewoche reduzieren, allerdings ohne Senkung der Wochenstundenzahl.

Auch bei einzelnen Unternehmen ist ein Umdenken im Gang. Die Coronapandemie hat vielen Beschäftigten die Möglichkeit für mehr persönliche Flexibilität eröffnet, eine bessere Balance zwischen Arbeit und Freizeit. Unternehmen müssen demgegenüber feststellen, dass sie im Kampf um Talente attraktiver werden müssen. So experimentieren inzwischen viele Grossbetriebe mit neuen Arbeitszeitmodellen. Im Vordergrund stehen also nicht ökologische Überlegungen, sondern eine zufriedenere Belegschaft, die dem Unternehmen dann treu bleibt.

Sebastian Neubert ist Forscher am Zentrum für Entwicklung und Umwelt der Universität Bern. Er beschäftigt sich mit Arbeitszeitreduktion als «Transformationsstrategie für eine ökologischere, gerechtere und zufriedenere Gesellschaft». Auch er stellt ein gesteigertes Interesse am Thema fest. Neuerdings würde seine Forschungsstelle auch mit Unternehmen kooperieren, die ihre Arbeitszeiten reduzieren möchten. Doch sind die derzeitigen Ansätze angesichts der Klimakrise ausreichend?

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«Aus Klimaschutzgründen ist die Stossrichtung des Klima-Aktionsplans mit der 24-Stunden-Woche richtig», sagt Neubert. Die Forderung klinge zwar utopisch, doch es habe auch jahrelang keine Debatte mehr über eine massive Kürzung der Arbeitszeit gegeben. Neubert sieht aber auch bereits bei einer Viertagewoche spürbare Effekte: Die Menschen würden weniger pendeln, der Energieverbrauch an den Arbeitsplätzen könnte entsprechend heruntergefahren werden. Allerdings brauche es begleitende Massnahmen des Staates, damit Menschen ihre zusätzliche Freizeit nicht für klimaschädliche Aktivitäten wie etwa Flugreisen nutzen würden: Treibhausgasintensive Güter und Dienstleistungen müssten viel stärker besteuert werden.

Branchen mit Imageproblem

Ein positiver Effekt würde sich auch dann einstellen, wenn mit der Arbeitszeitreduktion auch der Lohn sinke, sagt Neubert: «Menschen mit weniger Einkommen verantworten weniger klimaschädliche Emissionen.» Doch die Betroffenen, vor allem jene mit tiefen Einkommen, würden das wohl kaum hinnehmen. Neubert und seine Forschungskolleg:innen propagieren deshalb ein differenziertes Modell: voller Lohnausgleich für jene, die bislang weniger als den Medianlohn verdienen, dann abgestuft einen nur noch teilweisen Lohnausgleich für Einkommen leicht über dem Medianlohn. Jene mit den höchsten Einkommen sollten demgegenüber keinen Ausgleich erhalten. Schliesslich sind es diejenigen mit den höchsten Löhnen, die prozentual für den grössten Treibhausgasausstoss verantwortlich sind.

Dass hierzulande der Staat neue Arbeitszeiten festlegt, ist derzeit kaum vorstellbar. Es den einzelnen Unternehmen und Branchen zu überlassen, birgt jedoch die Gefahr, dass sich in den Sektoren mit sowieso schon schlechten Arbeitsbedingungen wie dem Gastgewerbe oder der Pflege wenig bewegt. Vania Alleva von der Unia relativiert allerdings: «Diese Branchen haben jetzt schon ein Imageproblem. Viele Beschäftigte haben sich in der Coronakrise umorientiert, und nun fehlt den Unternehmen das nötige Personal. Ich bin überzeugt, dass es mit der Reduktion der Arbeitszeit allen besser geht und auch die Betriebe davon profitieren.» Neubert sieht auch Möglichkeiten, dass der Staat finanziell mithilft: In Frankreich etwa würden Betriebe steuerlich entlastet, die die Arbeitszeiten reduzieren und dafür mehr Beschäftigte einstellen.

Obwohl es aus Klimaschutzgründen notwendig wäre, ist derzeit nicht abzusehen, dass die Arbeitszeit rasch und im grossen Stil reduziert wird. Dennoch ist die Auseinandersetzung wichtig: «Über die Diskussion der Arbeitszeitverkürzung kommt man zur Frage, wie eine lebenswerte Zukunft aussieht», sagt Tiziano De Luca vom Klimastreik. Dieser Debatte sollten sich alle stellen.

Historischer Kampf

Der Achtstundentag als Befriedungsmassnahme

Er werde in der Welt- und Kulturgeschichte «epochenmachend» werden, der 1. Mai 1890. Das kündigte eine Festschrift an, die in einer Auflage von 60 000 Exemplaren gedruckt wurde, um die Leser:innen auf den ersten institutionalisierten Kampftag der Arbeiterbewegung vorzubereiten. Die Sozialistische Internationale, auch Zweite Internationale genannt, hatte zuvor entschieden, fortan jedes Jahr am 1. Mai zum Kampf für den Achtstundentag aufzurufen – und damit für eine radikale Arbeitszeitverkürzung.

Die Formel ist eingängig: Das Proletariat soll acht Stunden lang arbeiten, acht Stunden lang schlafen und sich acht Stunden lang erholen dürfen. Pro Woche ergibt das 48 Arbeitsstunden. Von einem freien Samstag war damals noch nicht die Rede.

«Hinter der Forderung nach einer Verkürzung konnten sich sowohl revolutionäre als auch reformistische Kräfte versammeln», sagt der Basler Arbeitshistoriker Bernard Degen. Die Zweite Internationale hatte den Achtstundentag als Gegenstand des 1. Mai einstimmig beschlossen. Die Idee, durch das gemeinsame Ziel einer Arbeitszeitverkürzung linke Strömungen zu verbinden, wie es zurzeit geschieht, ist also nicht neu.

Der Achtstundentag sei in der Schweiz bis 1919 die offizielle Forderung des Kampftags am 1. Mai geblieben, sagt Degen. Dann wurde er eingeführt. Auf einen Schlag reduzierte sich die gesetzlich maximal erlaubte Arbeitszeit von 59 Wochenstunden um 11 Stunden. «Zack – einfach weg», so der Historiker. Dem Erfolg war der Landesstreik 1918 vorangegangen, dem der Bundesrat mit 95 000 Soldaten begegnet war. Auch vor dem Hintergrund der Russischen Revolution 1917 hätten die Politiker und Unternehmer damals Angst vor Umwälzungen gehabt, sagt Degen: «Die Einführung des Achtstundentags war eine Befriedungsmassnahme.» Der einst utopische und revolutionäre Kampf war damit gewonnen.

Die neue Regelung war allerdings Teil des Fabrikgesetzes – und galt deshalb bloss für die Arbeit in Fabriken. «Das Gewerbe und viele weitere Berufe waren davon bis zur Einführung des Arbeitsgesetzes 1964 ausgenommen», so der Historiker. Und auch heute kennt das Arbeitsgesetz weiterhin Ausnahmen, etwa die Arbeit in privaten Haushaltungen. Das betrifft unter anderem viele 24-Stunden-Betreuer:innen, für die der Achtstundentag noch immer nicht gilt.

Trotzdem war die radikale Arbeitszeitverkürzung von 1919 ein historischer linker Erfolg. Und auch aus Sicht der Politik und der Unternehmer hat sich die Einführung des Achtstundentags im Sinne der Befriedung damit als klug herausgestellt. Ähnliche radikale Forderungen seien in der Schweiz seither nie mehr von einer breiten Arbeiter:innenbewegung getragen worden, so Degen.

Die praktische Forderung der Festschrift, die 1890 zum allerersten 1. Mai aufrief, wurde also erfüllt. Die ihm zugrunde liegende Idee ist aber bis heute utopisch geblieben: «Ein gesellschaftlicher Zustand, in welchem ein jeder den vollen Ertrag seiner Arbeit geniesst, in welchem Friede, Freiheit und allgemeiner Wohlstand herrscht.»  

Lukas Tobler

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