«Das interessiert keine Sau»
Seit diesem Montag ist der Novartis Campus frei zugänglich. Ob das Quartier den neuen Freiraum nutzen wird, ist fraglich. Noch fraglicher ist: Wie frei ist der Freiraum?
Es ist ein Ausflug in eine andere Welt: Viel Grün, aber genauso viel moderner Beton, eingeschlossen hinter zahlreichen Gittern und versiegelten Toren. Seit heute Morgen um 7 Uhr ist der Novartis Campus nicht mehr nur seinen 8000 Mitarbeitenden, sondern auch der Öffentlichkeit zugänglich – der globale Hauptsitz des Pharma-Unternehmens ist täglich bis 19 Uhr geöffnet. Bajour stand früh auf und hatte dadurch die Ehre, als erste öffentliche Besucherin die verbotene Stadt, wie das Areal gerne genannt wird, zu begehen.
In morgendlichem Herbstgrau erklärt eine Kommunikationsbeauftragte am Eingang zum Areal, man habe absichtlich auf eine Medienkonferenz verzichtet, um nicht überheblich zu wirken. Es sollte nicht rüberkommen, als habe man hier während Jahren etwas ganz Tolles gebaut und endlich sei die Öffentlichkeit auch eingeladen. Vielmehr solle die Begehung selbstverständlich sein: «Wir sind da!»
Im Factsheet zum Zentrum für Forschung, Entwicklung und Management heisst es denn auch: Der Campus solle «ein Ort des Austausches mit der Bevölkerung» werden. Und Mediensprecherin Anna Schäfers sagt auf Anfrage: «Die Öffnung des Novartis Campus ist Teil unserer Unternehmensstrategie und verbunden mit unserem langfristig angelegten Kulturwandel.»
Authorized entry only
Doch es bleibt ein fahler Beigeschmack: Öffentlichkeit fühlt sich anders an. Vier Zugänge gibt es für das Areal, und ausgerechnet jener Eingang, der den Forschungs- und Entwicklungsstandort über die Voltamatte und damit über das Herz des St. Johanns erschliesst, ist auch an diesem Montag nur mit Badge zugänglich – laut einem Mitarbeiter gibt es dafür «logistische Gründe». Ausserdem ist das Gelände videoüberwacht, big brother is watching you (laut der Medienstelle alles im Einklang mit den Datenschutzrichtlinien).
So machen sich bereits beim Betreten des Areals über den Haupteingang Bedenken breit, inwiefern das neue Viertel durch die Bevölkerung – insbesondere jener des St. Johann – in Zukunft tatsächlich genutzt wird.
Die Besucherin passiert das Gittertor und gelangt direkt auf die 600 Meter lange Hauptstrasse: die Fabrikstrasse, an welcher Restaurants, Cafés sowie das Einkaufsgeschäft Coop liegen. Letzteres ist nur schwer als Coop erkennbar, ein Logo prangt nicht über dem Eingang: Dies ist Absicht; der sterile Charakter des neuen Quartiers soll nicht durch grelle Leuchtschriften anderer Firmen verhunzt werden.
Auch zieren hier zahlreiche museumsähnliche Vitrinen und meterhohe Glasfassaden das Bild. Die meisten mit der Aufschrift: «Zutritt nur für Berechtigte» (Natürlich auf Englisch: «authorized entry only»). Schicke Möbel, teure Bilder, fancy Lichtkonzepte.
Auf der einen Seite der Strasse wandern Leuchtbuchstaben über ein Gebäude: «The absent are always wrong», heisst es da zum Beispiel. Der Satz liest sich wie ein stiller Vorwurf an jene, die sich durch ihr heutiges Fernbleiben dem neuen Stadtteil selbstverschuldet zu verweigern scheinen. Bestimmt nicht so gemeint.
Im Teich auf dem zentralen Platz gegenüber ziehen japanische Kois zwischen gelben und orangen Laubblättern in einer Seelenruhe ihre Kreise.
Das Highlight rund um die Fabrikstrasse ist indes die Architektur. So leuchtet gleich zu Beginn das Forum 3 von Diener & Diener mit seinen bunten Glasfenstern um die Wette. Das Bürogebäude von Frank O. Gehry gleicht derweil einer gigantischen Skulptur, gegen Norden schliesst der japanische Architekt und Pritzker-Preisträger Tadao Ando den Campus ab: «Ein Haus wie ein Diamant.»
Strassen, die beispielsweise den Baumeister Imhotep oder den griechischen Arzt und Philosophen Galen würdigen, führen von der Fabrikstrasse weg. Auch die Physikerin Marie Curie wurde hier verewigt.
«Creepy und beklemmend»
Es geht geschäftig zu und her auf dem Campus, geradezu Stossverkehr herrscht hier morgens. Auf Trottinettes und Fahrrädern düsen Novartis-Mitarbeitende an der Besucherin vorbei. Auf hochhackigen Schuhen und mit der Laptop-Tasche in der Hand verschwinden sie in ihren Bürokomplexen. Die meisten sprechen Englisch und finden es «very nice» hier zu arbeiten. Manche aber verdrehen auch die Augen: Die Kündigungswelle von Juni - 1400 Stellen werden gestrichen - habe viele Mitarbeitende demotiviert.
«Das ist eine andere Welt.»Urs, Bewohner des St. Johann über die Expats auf dem Novartis Gelände
Über die neuen Besucher*innen scheinen sich die wenigsten Gedanken zu machen: «Wir lassen uns überraschen», sagen jene, die überhaupt mitbekommen haben, dass heute eine neue Ära der Öffentlichkeit angebrochen ist. Oder aber sie teilen die Bedenken, wonach diese neue Öffentlichkeit ihnen ihren Platz in den beliebten Mittagsrestaurants streitig machen könnte.
So schnell dürfte das Gelände aber nicht überrannt werden. Zumindest lassen sich auch im Verlaufe des Vormittags keine weiteren Besucher*innen ausfindig machen. Lediglich ein selbständiger Fotograf hantiert mit seinen Kameras und Objektiven herum. Er sagt: «Dieser Ort ist irgendwie creepy. Er hat etwas Beklemmendes.» Und der Zürcher fühlt sich an den aus dem Boden gestampften Glattpark zwischen Zürich Stadt und Flughafen erinnert,
Auf der Fabrikstrasse fragt ein Mitarbeiter seinen Kollegen: «Na, bereitest du dich auf den grossen Ansturm vor? Dieser aber antwortet: «Ach, es kommt doch sowieso niemand.» Und: «Das interessiert doch keine Sau!»
Energisches Kopfschütteln
Eine kleine Umfrage ausserhalb des Campus bestätigt diese Annahme: Es interessiert keine Sau. Die Menschen auf der Elässerstrasse schütteln beinahe energisch den Kopf, fotografieren lassen will sich niemand: Nein, ein Besuch des Campus sei nicht geplant, man finde auch hier alles, was man zum Leben brauche: Einkaufsmöglichkeiten, Apotheke, Post, Bank.
Bei der legendären Metzgerei Pippo heisst es auf Italienisch ebenfalls: «Non, non mi interessa.» Und Hildegard vom Secondhandladen sagt, sie habe nicht vor, den Campus zu besuchen: «Die Menschen kommen zu mir.» Ihr Publikum sei bunt durchmischt, ihr Geschäft eine Art Quartierstreff. Ihr falle indes auf, dass seit der Eröffnung des Besucherpavillons im April mehr Tourist*innen durch die Strasse spazierten.
Die Expats hingegen blieben ohnehin unter sich, schafften es nicht über das Restaurant Volta Bräu am Rande der Voltamatte hinaus, meint Urs, der an der Elsässerstrasse gemütlich seinen Kaffee trinkt. Er sagt: «Das ist eine andere Welt.»
Er freut sich aber, dass auf dem Campus nicht mehr produziert wird. Mit seinen knapp 60 Jahren hat Urs den Unfall in Schweizerhalle von November 1986 miterlebt. Die Gefahren der Chemie habe er immer im Hinterkopf gehabt. Als praktizierender Zimmermann interessiere er sich indes für die Architektur. «Ich werde auf jeden Fall mal vorbeischauen.»
So ist es heute vielleicht auch noch zu früh, den gewünschten Ort des Austausches als gescheitert zu erklären. Begegnungsorte entwickeln sich. Die Gitter und Mauern dürften dabei aber kaum helfen. Ein Ausflug zum Campus lohnt sich dennoch: Ein solcher fühlt sich an wie ein Kurz-Trip nach New York.
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