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Armut trotz Job: Sie arbeiten für die Katz

Die Idee wäre: Wer arbeitet, hat mehr Geld im Portemonnaie. Doch im Kanton Baselland ist es so: Viele Leute arbeiten und stehen trotzdem schlechter da als Sozialhilfebeziehende. Das hat viel mit der Armutspolitik des Kantons und des Bundes zu tun.

11/12/21, 03:55 AM

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Working Poor sind in der Schweiz eine Realität. Landesweit gab es 2019 155'000 Personen, die trotz Arbeit an der Armutsgrenze lebten.

Working Poor sind in der Schweiz eine Realität. Landesweit gab es 2019 155'000 Personen, die trotz Arbeit an der Armutsgrenze lebten. (Foto: Keystone-SDA)

Reicht dein Lohn zum Leben? In jedem 15. Haushalt im Kanton Baselland werden bei dieser Frage die Sorgenfalten tiefer. Denn für diese Menschen ist am Ende des Monats kaum Geld übrig. Fast 9’000 Haushalte sind im Baselbiet schlechter gestellt, als jene, die Sozialhilfe beziehen. Sie leben an der Armutsgrenze, obwohl sie arbeiten.

Das zeigt die kürzlich von Finanz- und Sozialdirektor Anton Lauber (die Mitte) präsentierten Studie «Harmonisierung und Koordination von Sozialleistungen». Darin wurden sogenannte Schwelleneffekte analysiert.

Warum bekommen die, die arbeiten, weniger?

Ein konkretes, aber fiktives Beispiel: Eine Person erhält eine Lohnerhöhung von 100 Franken. Trotzdem hat sie Ende Monat 600 Franken weniger auf dem Konto. Der Grund: Wegen des höheren Einkommens hat sie kein Anrecht mehr auf eine Verbilligung der Krankenkassenprämie mehr. Das ist ein Schwelleneffekt. Eine paradoxe Situation, die möglichst vermieden werden soll – darüber sind sich alle einig. 

Anderes Beispiel: Eine Baselbieterin überlegt sich, ihr Pensum zu erhöhen. Weil sie Ergänzungsleistungen bekommt, zieht der Staat ihr aber über 80 Prozent des zusätzlichen Lohns ab. Resultat: Sie hat weniger Geld, als wenn sie ihr Pensum nicht erhöhen würde. Am stärksten ausgeprägt sind solche Fehlanreize in Baselland bei den Ergänzungsleistungen, den Mietzinsbeiträgen und bei der Sozialhilfe. Bei den beiden letzteren würden zum Teil grosse Austrittsschwellen bestehen. 

Im Baselbiet sind die Schwelleneffekte markant. Betroffen sind rund 9’000 Haushalte. Sie alle verdienen knapp zu viel, um Sozialhilfe zu bekommen. Unter dem Strich haben sie weniger Geld zur Verfügung als 4’400 Haushalte, die Sozialhilfe beziehen.

Die Armen sind also ärmer als die Ärmsten. Wie kommt das?

Zuckerbrot und Peitsche vs. Grundeinkommen

Je nach politischer Seite fallen die Antworten anders aus. Völlig anders. Sicher ist: Die Situation heute ist eine Folge der Sozialpolitik der letzten 30 Jahre.

Für die Rechte hat man zu viel Geld ausgegeben.

Der SVP-Landrat Peter Riebli sagt: «Die Studie zeigt nur auf, was die SVP schon seit einiger Zeit immer wieder sagt: dass sich arbeiten für viele Sozialhilfebezüger finanziell gar nicht lohnt. Und dass diese Tatsache die Sozialhilfekosten in die Höhe schnellen lässt.»

Der Hardliner: SVP-Landrat Peter Riebli

Der Hardliner: SVP-Landrat Peter Riebli

Riebli ist bekannt als Hardliner. Aus seiner Warte heraus sollen sich Sozialhilfebezüger*innen in ihrer Situation nicht allzu wohl fühlen und möglichst rasch wieder auf eigenen Beinen stehen. Er sagt, es könne nicht sein, dass Sozialhilfebezüger*innen besser gestellt seien als AHV-Rentner*innen, die ihr Leben lang gearbeitet hätten und holt zum Rundumschlag aus: «Die Sozialhilfe war ursprünglich als Überbrückungshilfe gedacht. Leider wurde sie in den letzten Jahren von den Linken unter gütiger Mithilfe der SKOS (Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe) zu einem bedingungslosen Grundeinkommen transformiert und finanziell mit Steuergeldern so ausgestattet, dass alle Ansprüche der Sozialhilfebezüger befriedigt werden können; die heute beklagten Fehlanreize wurden damit wider besseren Wissens zum Standard erhoben.»

Für die Rechten ist die Studie also der Beweis, dass die Sozialhilfe zu grosszügig ausgestaltet ist. Und dass Kürzungen gerechtfertigt sind. Die Rechte möchte den Schwelleneffekt beheben, in dem sie den Sozialhilfebeziehenden weniger Geld gibt.

Diametral anders sieht das die Linke. Sie ist der Meinung: Man hat zu sehr auf dem Buckel der Armutsbetroffenen gespart und jetzt hat man das Geschenk. Miriam Locher, SP-Präsidentin und Landrätin findet es kein Wunder, dass so viele Menschen am Existenzminimum leben: «Dass es überhaupt zu solchen Schwelleneffekten und Working Poor kommt, ist sicher den politischen Mehrheiten der letzten Jahre geschuldet. Das Bewusstsein für die Schwächsten der Gesellschaft wächst erst langsam.» 

Anders gesagt, die bürgerliche Sozialpolitik der letzten Jahrzehnten sei an der jetzigen Situation schuld.

Die Mahnende: SP-Landrätin Miriam Locher

Die Mahnende: SP-Landrätin Miriam Locher (Foto: Keystone-SDA)

Die Regierung drückt es diplomatischer aus. Bartolino Biondi vom Generalsekretariat der Sozialdirektion, erklärt, dass Schwelleneffekte nicht gewollt seien und meistens unbeabsichtigt entstünden: Die Ausgangslage sei «historisch gewachsen», meint er. «Man kann sagen, dass eine Vielzahl von politischen Entscheidungen auf unterschiedlichen Ebenen über die letzten Jahre bis Jahrzehnte zu dieser aktuellen Situation geführt haben. Schwelleneffekte und die damit verbundenen Benachteiligungen von bestimmten Haushalten sind Nebeneffekte dieser Entscheide.» 

Am Anfang dieser Entwicklung standen Sparmassnahmen auf Bundesebene. In den 1990ern und 2000er Jahren gleiste der Bund massive Sparprogramme bei den Sozialversicherungen, also den Ergänzungsleistungen, der AHV und der IV auf. Resultat: Die Menschen bezogen stattdessen mehr Sozialhilfe. 

Diese ist eigentlich dazu da, sozioökonomisch benachteiligte Personen und Familien zu unterstützen, über die Runden zu kommen und in Würde zu leben. Wer zwar arbeitet, aber zu wenig verdient (weil der Lohn zu tief oder das Pensum zu klein ist), bekommt vom Staat etwas dazu. Der Hintergrund: Der Sozialstaat soll Arbeitsintegration fördern, nicht Menschen davon abhalten, (mehr) zu arbeiten. 

Wegen des Abbaus bei der IV beziehen aber auch Menschen Sozialhilfe, die beispielsweise aus gesundheitlichen Gründen nicht arbeiten können.

Baselland baut ab, Basel-Stadt baut aus

Die Folgen: Steigende Kosten. 2019 hat die Schweiz 183 Milliarden Franken für Sozialleistungen ausgegeben, das entspricht 25 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Alleine die Kosten der Sozialhilfe sind zwischen 2006 und 2018 um mehr als 50 Prozent gestiegen.

Und jetzt fängt der politische Streit an. Denn die Sozialhilfe wird, im Gegensatz zu den Leistungen der Sozialversicherungen, von den Gemeinden getragen, die Steuerzahler*innen spüren die Auswirkungen ganz direkt. Die Kantone geben den gesetzlichen Rahmen vor. Im Dreigemeindekanton Basel-Stadt ist die Sozialhilfe beim Kanton.

Je nachdem wie die politischen Mehrheiten sind, gehen die Gemeinden und Kantone anders damit um. Dort wo die Mehrheiten rechtsbürgerlich geprägt sind, ist jede Familie, die Sozialhilfe bezieht, eine zu viel.

Die sozialpolitischen Strategien in beiden Basel könnten deshalb unterschiedlicher nicht sein. Basel-Stadt bekämpft die Armut mit dem Ausbau der Sozialleistungen, das über Jahrzehnte bürgerlich geprägte Baselland will diese hingegen tief halten und nimmt bewusst Einschnitte vor – zum Beispiel 2014 und 2015 bei der Prämienverbilligung, nach dem Prinzip: Arbeit muss sich lohnen.

Schauen wir uns die Zahlen an: In Baselland bezogen 2019 3 Prozent der Bevölkerung Sozialhilfe, die Ausgaben pro Einwohner*in betrugen 218 Franken. Im Kanton Basel-Stadt hingegen bezogen 6,6 Prozent Sozialhilfe, die Kosten pro Einwohner*in beliefen sich auf 696 Franken – die höchste Pro-Kopf-Quote der Schweiz. Das zeigt der interkantonale Vergleich.

Same same bei der Prämienverbilligung 

Und auch bei der Prämienverbilligung (IPV) zeichnet sich ein ähnliches Bild, und diese betrifft weit mehr Menschen als die Sozialhilfe. In Baselland haben 2019 21 Prozent der Bevölkerung eine IPV erhalten, in Basel-Stadt 29 Prozent. Die ausbezahlten Beiträge unterscheiden sich stark. Basel-Stadt ist über die vergangenen Jahre der grosszügigste Kanton der Schweiz: Zwischen 2007 und 2019 stieg die durchschnittliche Prämienverbilligung pro Bezüger*in von 2604 auf 3662 Franken um 41 Prozent und zahlt damit die höchste IPV des Landes aus. In Baselland stieg die Verbilligung sogar um 61 Prozent, allerdings auf deutlich tieferem Niveau: Von 1459 (2007) auf 2354 (2019) Franken pro Bezüger*in. 

Bei den Kantonsbeiträgen ist die Niveau-Differenz noch deutlicher. In Baselland wurde dieser zwischen 2010 und 2017 massiv gesenkt, in Basel-Stadt bleibt er hingegen stabil.

Kehren wir zurück zu den Schwelleneffekten. Diese kompromittieren das Prinzip, dass Arbeit sich lohnen muss. Oder anders formuliert: Durch sie entstehen Fehlanreize, bei den Sozialleistungen zu bleiben, konkreter: in der Sozialhilfe zu verharren.

Das darf nicht sein. Aber wie soll das Problem nun gelöst werden?

Ohne Ausbau geht es nicht

Peter Rieblis Meinung ist unverrückbar. Er sagt: «Die finanzielle Sozialhilfeunterstützung muss deutlich reduziert werden und wieder die Funktion einer Überbrückungshilfe erhalten.»

Der Landrat fordert seit Jahren weitere Kürzungen. 2017 schaffte es Riebli mit seiner radikalen Haltung auf die landesweite Bühne: Mit der Motion «Sozialhilfe: Motivation statt Repression» sollte der Grundbedarf um ein Drittel gekürzt werden, wer sich Mühe gebe, wieder in den Arbeitsmarkt einzutreten, sollte stufenweise mehr bekommen. Damit wäre Baselland zum Dumping-Kanton der Sozialhilfe geworden oder, wie Riebli es in einem Interview mit der Tageswoche formulierte, der motivierendste: «Das könnte für die Schweiz Vorbildcharakter haben», meinte er damals. 

Der Vorstoss kam im April 2018 mit einer hauchdünnen Mehrheit durch und wurde für die Regierung zur Herausforderung. Diese sah sich damit konfrontiert, ein Vorhaben umsetzen zu müssen, das viele Menschen in grosse Bedrängnis gebracht und klar gegen interkantonale Vereinbarungen verstossen hätte: Die Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS). Sie legen fest, wie viel Geld ein Haushalt braucht, um über die Runden zu kommen. Die Richtlinien sind zwar nicht bindend, werden aber von den meisten Kantonen angewendet. Entsprechend war das Echo in der Vernehmlassung zur angesetzten Revision des Sozialhilfegesetzes vernichtend: Parteien, Verbände und die SKOS selbst liessen kein gutes Haar am ursprünglichen Vorschlag. Im März 2021 legte dann Anton Lauber eine komplett neue Version vor, die letzte Woche im Landrat behandelt wurde. Vorgesehen ist ein Abzug von 40 Franken pro Monat für Langzeitbezüger*innen.

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Darüber kann Sozialdemokratin Miriam Locher nur den Kopf schütteln. Immer dieses Argument, dass sich Arbeit lohnen soll, «allerdings lehnen die Rechten auch den Mindestlohn ab.» Die Studie zeige nun den Handlungsbedarf in diese Richtung auf.

Basel-Stadt hat dieses Jahr einen Mindestlohn von 21 Franken pro Stunde angenommen. Die SP Baselland fordert auch einen Mindestlohn für Baselland. Locher ist überzeugt, dass er einen beachtlichen Teil der Schwelle beheben würde: «Der dann noch nötige Leistungsausbau der öffentlichen Hand zum Abbau der Schwelle wäre dadurch deutlich kleiner», sagt sie, «mit dem Verschwinden der Schwelle und dem fliessenden Übergang von der Sozialhilfe zur eigenständigen Lebenssicherung würde ich dann insgesamt ein Nullsummen-Spiel für die öffentliche Hand erwarten.»

Weder radikale Kürzungen der Sozialhilfe noch der Mindestlohn sind im Kanton Baselland wohl mehrheitsfähig. Wie soll also die Situation verbessert werden?

Fragt man die Regierung, gibt es keine einfache Lösung. Sozialdirektor Anton Lauber drückte es an der Präsentation der Studie so aus: Man müsse zwei Gruppen gerecht werden. Entweder kürze man die Leistungen vor der Schwelle – also die Sozialhilfe – oder man baue Leistungen nach der Schwelle aus, was grosse Mehrausgaben bedeuten würde, also Steuererhöhungen.

In anderen Worten: Sozialhilfebezüger*innen und Working Poor könnten politisch gegeneinander ausgespielt werden. Diesbezüglich sitzt man jedoch einem Trugschluss auf. 

Sozialhilfebezüger*innen und Working Poor als zwei unabhängige Kategorien zu betrachten, ist nämlich falsch. Markus Kaufmann, Geschäftsführer der SKOS, erklärt: «Sozialhilfebeziehende und Working Poor sind nicht zwei voneinander getrennte Gruppen. Einerseits sind fast 30 Prozent der Sozialhilfebeziehende ab 16 Jahren erwerbstätig, verdienen aber zu wenig. Andererseits haben rund die Hälfte der Personen, die die Sozialhilfe verlassen, weniger als ein Jahr Leistungen bezogen». Die Übergänge seien fliessend und der Ausstieg aus der Sozialhilfe schwierig: «Über die Hälfte der unterstützten Personen in der Sozialhilfe haben schon früher einmal Sozialhilfe bezogen.» Die Studie zeige eher, dass viele Menschen, die grundsätzlich Anspruch auf staatliche Unterstützung haben, diese nicht in Anspruch nehmen würden, was problematisch sei: «Ziel muss es sein, dass möglichst wenig Menschen in Armut leben müssen.»

Und auch die Studie selbst kommt zum Schluss: «Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass eine Beseitigung oder Milderung von Fehlanreizen häufig nur durch Anpassungen erreicht werden kann, welche eine Ausweitung des leistungsberechtigten Einkommensbereichs mit sich bringen». Nur wenn mehr Menschen von den Leistungen profitieren, kommt man aus der Armutsfalle heraus. Das kostet jedoch.

Ob das Baselbiet sich das leisten will, bleibt offen. Die Revision des Sozialhilfegesetzes kommt vors Volk. Es könnte gut sein, dass die Kürzung von 40 Franken angenommen wird.

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