«Die Leute sehnen sich nach Vernunft und Ruhe»
Die Mitte-Co-Präsident*innen Sara Murray und Franz-Xaver Leonhardt fordern mehr politische Visionen und sprechen im Interview über Strategien für eine effiziente Regierung und ihre Rolle als Vermittlerin.
Sie führen seit März 2024 gemeinsam das Co-Präsidium, 2025 war Ihr erstes volles Jahr. Was funktioniert inzwischen besser als bei ihrem Antritt?
Sara Murray: Am Anfang gab es eine grosse Lernkurve. Wir mussten unsere Arbeitsweise finden, aber das ging schnell. Wir haben ein tolles Team und treffen uns wöchentlich. Durch den regelmässigen Austausch haben wir rasch eine gut funktionierende Harmonie entwickelt.
Gibt es eine Arbeitsteilung oder kümmern Sie sich beide um alle Themen und Aufgaben?
Murray: Es gibt keine spezifische Aufgabenteilung. Ausser vielleicht bei der parlamentarischen Arbeit.
Franz-Xaver Leonhardt: Genau. Die mache eher ich, aber wir sprechen uns immer gut ab. Es macht Spass, sich die Arbeit und die Führung des Teams zu teilen. Ausserdem ist es sehr hilfreich, dass wir durch die Co-Leitung nicht beide alle Termine wahrnehmen müssen – und wir können uns gegenseitig Freiräume schaffen, wie beispielsweise die 16 Wochen Mutterschutz, die Sara nach der Geburt ihres zweiten Kindes im Sommer hatte.
Murray: Ich konnte den Mutterschutz bedenkenlos verbringen.
Es ist das erste Mal, dass die Mitte Basel-Stadt mit einem Co-Präsidium geführt wird. Bewährt sich das?
Leonhardt: Die Parteimitglieder merken, dass es für uns stimmt und wir uns gegenseitig vertrauen. In einer kleinen Partei wie der Mitte sind die Mitglieder glücklich, wenn sich jemand dem Präsidium annimmt. Wir ergänzen uns gut. Ich bin eher der Spontane mit schnellen Ideen …
Murray: … und ich ordne es dann ein.
Leonhardt: Genau.
«Ich war es nicht gewohnt, bei einer Parteiversammlung vorne zu stehen und das Ganze zu moderieren.»Sara Murray, Co-Präsidentin die Mitte Basel-Stadt
Sara Murray, Sie haben zuvor im Hintergrund gearbeitet und waren als politische Geschäftsführerin und Wahlkampfleiterin tätig. Wie ist es plötzlich, an der Front zu stehen?
Murray: Mittlerweile besser.
Ist es Ihnen am Anfang schwer gefallen?
Murray: Es ist eine Gewohnheitssache. Ich war es nicht gewohnt, bei einer Parteiversammlung vorne zu stehen und das Ganze zu moderieren. Ich denke, es war ein grosser Vorteil, dass ich die Abläufe aus meiner bisherigen Arbeit bereits gut kannte und jahrelang Balz Herter beobachten durfte, wie er die Leitung gemacht hat. Daher kam dann schnell ein Automatismus. Ich bin trotzdem immer noch nervös vor solchen Terminen – aber es wird weniger.
2025 wurde Balz Herter von der Mitte Grossratspräsident. Was bedeutet dieser Schritt für die Sichtbarkeit und den Einfluss der Mitte?
Murray: Für jede Partei ist das eine grosse Chance und Ehre. Wir konnten Anfang Februar ein grosses Fest in der Kuppel veranstalten und es war schön zu sehen, dass Balz Herter parteiübergreifend gefeiert wurde. Für uns als kleine Partei ist es sehr bedeutend, diese Repräsentationsaufgabe wahrnehmen zu dürfen.
Was sind die konkreten Auswirkungen dessen?
Murray: Das ist schwierig zu sagen.
Leonhardt: Das Präsidium ist mehr auf die Person ausgerichtet und weniger auf die Partei. Ich glaube, viele, die mit ihm als Grossratspräsident in Berührung kommen, wissen nicht, in welcher Partei Balz Herter ist.
Was bedeutet es für den Ratsbetrieb? Ist es hilfreich für die Mitte, dass Balz Herter Stichentscheide fällen kann, oder fehlt er als Parlamentarier?
Leonhardt: Es ist eine Stimme weniger. Aber wir sind ja eine Fraktion von elf, da kann schon mal jemand eine andere Rolle einnehmen.
Die aktuellen politischen Aktivitäten der Mitte sind breit abgestützt – die Petition zum Busbahnhof von Altgrossrätin Beatrice Isler oder die Motion bezüglich Velodiebstähle von Bruno Lötscher-Steiger oder auch Ihre Forderung, Herr Leonhardt, dass die Ämter effizienter arbeiten sollen – man könnte auch sagen, Ihre Vorstösse sind nicht besonders mutig. Ist dem so?
Leonhardt: Natürlich wollen wir mit unseren Vorstössen gute Lösungen vorantreiben und das verstehen die anderen Parlamentarierinnen und Parlamentarier dann auch. Das ist unsere Art, aus der Mitte zu politisieren. Wenn man weiter zurückschaut, könnte man unsere Motion zur Beschleunigung der Tramstrecke zwischen Barfüsserplatz und Schifflände vom Juni 2024 nennen. Da haben wir zum Beispiel keine Mehrheit gefunden.
Murray: Das ist aber nicht das Ziel. Eine gute Lösung ist eine mehrheitsfähige Lösung. Das bedeutet nicht, dass wir unsere Ideen zurückhalten, wenn gerade keine Mehrheit besteht. Grundsätzlich besteht unser Ziel aber schon darin, Lösungen zu finden, die im Grossen Rat dann auch durchkommen.
Was dabei auf der Strecke bleiben kann, ist ein klares Profil. Sie haben am Anfang ihrer Amtszeit gesagt, Sie möchten das Profil der Mitte schärfen. Mit welchen Anliegen ist Ihnen das im vergangenen Jahr gelungen?
Leonhardt: Wir haben viel mehr Vorstösse eingereicht und über diese wird diskutiert. Wir haben deutlich gesagt, dass wir für eine klare Mitte-Position stehen und uns gerade auch die sozialen Themen wichtig sind, wie die direkte Auszahlung der Prämienverbilligungen. Dieses Anliegen ist leider gescheitert, und zwar ausgerechnet an der SP.
Murray: Wir haben im Wahlkampf die Themen Sicherheit, Verkehr und Wohnen als unsere Schwerpunktthemen definiert. Zum Thema Sicherheit haben wir die Motion zu den Velodiebstählen, zum Wohnen unsere Initiative zum Wohnschutz und zum Verkehr das Thema tramfreie Innenstadt aufs Tapet gebracht. Wir sind also ziemlich konsequent auf dem Profil unterwegs, das wir definiert haben.
Herr Leonhardt, aktuell ist ein Vorstoss von Ihnen hängig, der eine Beschleunigung der Basler Verwaltung fordert – was wären Ihre konkreten Vorschläge für mehr Effizienz?
Leonhardt: Es bräuchte den ESC-Groove, mit dem man ganz schnell Entscheidungen getroffen hat, ohne sich von den Risiken ausbremsen zu lassen. Man hat die Risiken zwar erkannt, aber ist sie trotzdem eingegangen.
Ist eine risikoreiche Strategie nicht eher geeignet für ein Unternehmen als für eine Verwaltung?
Leonhardt: Es gibt einen Unterschied zwischen Regierung und Verwaltung. Eine Regierung soll regieren und das heisst auch Entscheide treffen – auch mit der Gefahr, dass es ein Fehlentscheid ist. Als Unternehmer müssen wir so handeln und diese Dynamik fordern wir auch für die Regierung und die Verwaltung. Insbesondere auch bei der Zusammenarbeit innerhalb und zwischen den Departementen.
Nun sind Unternehmen in der Regel nicht demokratisch organisiert. In der Regierung erhält man dann die Retourkutsche, wenn man nach Fehlentscheidungen bei den nächsten Wahlen vom Stimmvolk abgestraft wird.
Leonhardt: Ja, das ist so. Aber man ist ja für vier Jahre gewählt. In dieser Zeit könnte man sagen: Diese Ziele sind mir wichtig und das bringe ich jetzt durch. Das Vertrauen der Bevölkerung habe ich ja und danach gibt es Resultate. Ich glaube, die Bevölkerung schätzt es auch, wenn man vorwärts macht. Der frühere Verkehrsdirektor Hans-Peter Wessels hat diese Strategie früher angewandt – er hat konkrete Entscheide getroffen.
Und dafür sehr viel Kritik bekommen.
Leonhardt: Ja, von der eigenen Partei, aber die Bevölkerung hat ihn immer wieder gewählt. Die Widerstände der eigenen Partei muss man dann aushalten.
Murray: Man muss weiter gehen, als nur den eigenen Sitz zu verteidigen.
«Vor allem junge Menschen treten neu in unsere Partei ein.»Franz-Xaver Leonhardt, Co-Präsident die Mitte Basel-Stadt
Die Mitte bezeichnet sich als «echte Mitte-Partei», die vermitteln will. Wo haben Sie im vergangenen Jahr diese Rolle besonders stark eingenommen?
Leonhardt: Wir haben mitgeholfen, den Gegenvorschlag zu den Velorouten durchzubringen. Das war ein Fall, bei dem wir uns für eine gute pragmatische Lösung eingesetzt haben, auch wenn das Thema Velorouten kein klassisch bürgerliches ist.
Sie haben dieses Jahr im Frühling die Wohnschutzinitiative lanciert, kurz darauf hat die Regierung bereits einige Lockerungen beschlossen. Wird Ihre Partei dennoch viel Effort in diese Initiative stecken?
Murray: Ja, klar. Die Vorstösse im Grossen Rat sind nur punktuelle Verbesserungen. Wir sind der Meinung, dass es eine Lösung auf Verfassungsebene braucht. Wir haben bewusst keine Pressekonferenz gemacht, weil wir direkt gemerkt haben, dass die Initiative auch so auf sehr viel Interesse stösst. Ich mache mir da absolut keine Sorgen.
Bruno Lötscher-Steiger hat kürzlich mit seiner Enthaltung zum direkten Steuerabzug vom Lohn den Linken zum Sieg verholfen. Sie, Herr Leonhardt, gelten auch immer wieder als Abweichler der Fraktionsmehrheit. Ist das eine Strategie Ihrer Fraktion?
Leonhardt: Es ist keine Strategie, sondern es ist eine Offenheit, die wir in der Fraktion leben. Das zeichnet uns aus. Bei uns gibt es keinen Stimmzwang. Diese konkrete Situation im Rat hat intern schon zu Diskussionen geführt. Wir haben entschieden, das an der Parteiversammlung zu besprechen. Ausserdem werden wir im Januar schon frühzeitig unsere Parole für die Abstimmung zum direkten Steuerabzug fassen.
Bedingt diese Offenheit mehr Moderation innerhalb der Partei?
Leonhardt: Ja, die braucht es. Die Offenheit signalisiert aber auch, dass man bei uns tatsächlich mitbestimmen kann. Das wird positiv aufgenommen und durch einen grossen Zuwachs bei den Mitgliederzahlen bestätigt, vor allem junge Menschen treten neu in unsere Partei ein.
Wie wichtig ist bei dem Zuwachs der Namenswechsel, bei dem das C aus dem Parteinamen verschwunden ist?
Murray: Unsere Grundsätze haben sich nicht verändert, aber in einem städtischen Umfeld wie Basel hat das C vor allem für Junge eine Hürde dargestellt. Ich hatte jahrelang an Standaktionen und bei Unterschriftensammlungen Diskussionen über das C – das ist jetzt verschwunden.
Was sind weitere Gründe für den Zuwachs?
Murray: In einer Zeit der zunehmenden Polarisierung sehnen sich die Leute nach Vernunft und Ruhe, in der man respektvoll und offen miteinander reden kann und unterschiedliche Meinungen haben darf, ohne dass man direkt attackiert wird. Ich spüre in der Gesellschaft ein grosses Bedürfnis nach einem solchen «Mittepol».
Leonhardt: Die Gewinnung von neuen Mitgliedern ist auch eine Fleissarbeit.
Murray: Im April haben wir die Junge Mitte wieder ins Leben gerufen mit der tollen Präsidentin Emilia Mirovska, die einen richtig guten Job macht.
Die Spitalfusion ist endgültig abgehakt. Das Verhältnis zu Baselland ist zerrüttet. Wie bewerten Sie die Zusammenarbeit von Lukas Engelberger mit seinem Amtskollegen Thomi Jourdan?
Murray: Die Zusammenarbeit mit Baselland ist in verschiedenen Bereichen schwieriger geworden, insbesondere auch bei der Unifinanzierung. Es ist aber nicht unsere Aufgabe, ihm da reinzureden.
Ihre Aufgabe ist es aber, einen allfälligen Nachfolger für die Wahlen 2028 aufzubauen. Lukas Engelberger ist der Regierungsrat mit der längsten Amtszeit. Er ist bereits seit mehr als 11 Jahren im Amt. Haben Sie bereits jemanden im Sinn?
Murray: Lukas Engelberger ist ein toller Regierungsrat, der hervorragende Arbeit für unseren Kanton leistet. Wir hoffen, dass er noch lange im Amt bleibt. Leonhard: Natürlich gehört die Personalpolitik zu unseren Kernaufgaben. Man muss jederzeit für alle Eventualitäten gewappnet sein. Wir sind gut aufgestellt und haben tolle Leute, die für die verschiedenen Ämter in Frage kommen.
Wen denn?
Murray: Diese Frage beantworten wir gerne dann, wenn sie sich stellt.
Die kantonalen Abstimmungen zu den Velorouten und dem Standortförderpaket verliefen zum Wohlgefallen Ihrer Partei. Im Gegensatz dazu steht das Nein zum Rheintunnel. Nun erlebte dieses Anliegen sehr schnell ein Revival. Finden Sie das gut oder demokratisch eher schwierig?
Murray: Demokratisch schwierig finde ich es nicht. Der Vorwurf wird immer von denen gemacht, die gerade dagegen sind. Dabei bringen Parteien ständig Themen wieder hervor, über die bereits abgestimmt wurde, beispielsweise das Stimmrechtalter 16 oder das Ausländerstimmrecht. Wir brauchen beim Verkehr echte Lösungen, weil der Status Quo unhaltbar ist. Wie die Lösung dann aussieht, können wir weiter diskutieren, aber wir werden uns sicher nicht querstellen.
Könnte die beste Lösung auch eine Alternative zum Rheintunnel sein?
Murray: Bis jetzt ist der Rheintunnel die beste Lösung, die ich kenne.
Leonhard: Definitiv.
Wo liegen die Schwerpunkte Ihrer Partei im kommenden Jahr?
Murray: Das Thema Wohnen ist dringlicher denn je. Ich würde mir mehr Mut und mehr Visionen in Bezug auf Infrastruktur und Entwicklung wünschen.
Von Ihrer Partei?
Murray: Nicht nur, aber wir werden natürlich auch welche einbringen. Franz-Xaver ist beispielsweise im Komitee der Initiative Go Basel Go. Wir dürfen keine Angst davor haben, Dinge in Frage zu stellen und grosse Projekte anzugehen. Ich will keine Pflästerlipolitik, sondern gemeinsames und vorausschauendes Denken.
Leonhardt: Es ist auch wichtig, dass wir jetzt einen Bebauungsplan fürs Klybeck haben. Gleichzeitig werden wir uns auch dafür einsetzen, dass es den Menschen besser geht, die es nicht so gut haben. Wir wollen nicht Wachstum über alles stellen. Die Europafrage ist uns auch ein wichtiges Anliegen. Wir wollen einen Zugang zum europäischen Markt und einen guten Vertrag mit unseren Nachbarn.
Was bereitet Ihnen Sorgen, wenn Sie ans nächste Jahr denken?
Murray: Die Beziehung zur EU – auch in Bezug auf die 10-Millionen-Initiative der SVP. Das ist extrem wichtig für uns hier in Basel.
Was planen Sie diesbezüglich politisch?
Murray: Wir werden das Thema behandeln, Parolen fassen und uns im Abstimmungskampf engagieren. Ich denke, wir haben bereits bei der Masseneinwanderungsinitiative vor zwölf Jahren gelernt, dass wir den Beziehungen mit der EU Sorge tragen müssen. Wir sollten uns bewusst werden, welche Konsequenzen die 10-Millionen-Initiative auf andere Bereiche hat, wie zum Beispiel die Bilateralen III.
Leonhardt: Auch die Halbierungsinitiative, über die wir im März abstimmen, ist zentral. Es ist wichtig, dass wir eine starke SRG haben, gerade hier in Basel, wo wir einen eigenen Standort haben.
Wenn Sie das Jahr 2025 für die Mitte in einem Wort zusammenfassen müssten — welches wäre es?
Leonhardt: Für mich ist es klar: Basel als Eventstadt. An den ESC und die Fussball-EM der Frauen werde ich mich noch lange erinnern. Das war eine einmalige Stimmung.
Murray: Für mich ist es Entwicklung. Sowohl privat als auch politisch und in Bezug auf Basel.