Im Schwingen steckt mehr Stadt, als man denkt
Schwingen verbinden wir gedanklich mit dem ländlichen Raum, wo sich unter Begleitung von Schweizerfahnen, Alphornklängen und Jodelgesang kräftige Typen einen sauberen Kampf liefern. Doch so einfach ist die Sache nicht.
Dieser Text wurde auch im SonntagsBlick-Magazin vom 21. August 2022 publiziert. Die Originalfassung stammt vom Blog des Nationalmuseums.
Abderhalden Jörg, Sempach Matthias, Forrer Arnold, Wenger Kilian. Dies ist eine willkürliche Auswahl von Schwingerkönigen aus den letzten zwanzig Jahren. Ihre Berufe: Schreiner, Landwirt, Käsermeister und Zimmermann. Typisch Land halt.
Auch die Preise an einem Schwingfest sind bodenständig-ländlich: Ein Muni für den Sieger, Naturalgaben wie Waschmaschinen oder Fresskörbe für die im Rang klassierten. Oft gesponsert von auf dem Land verankerten KMU. Kurzum: Schwingen steht für Schweizer Tradition und Ländlichkeit.
Ein Blick in die Geschichte zeigt aber, dass schon früh auch in Städten geschwungen wurde und Städter massgeblich definierten, was wir heute unter «ländlichem» Schwingen verstehen.
Am Rand der Arbeiter*innengemeinde Pratteln BL geht Ende August das Schwing- und Älplerfest über die Bühne. Wer lebt da? Bajour-Reporter Daniel Faulhaber war zu Besuch im aktuellsten Dorf der Schweiz.
Die Ursprünge des Schwingens liegen vermutlich im ländlichen Mittelalter, wo an Hirtenfesten geschwungen wurde. Erste bildliche Quellen stammen hingegen aus der Stadt. Beispielsweise ein Steinmetzwerk aus dem 13. Jahrhundert, das sich in der Kathedrale von Lausanne befindet, jedoch genauso gut Ringer beim Wettkampf zeigen könnte.
Bemerkenswert ist, dass auch in den mittelalterlichen Städten der Schweiz Schwing-Wettbewerbe stattfanden. So soll 1385 der Stadtwerkmeister von Luzern den Auftrag erhalten haben, einen Festplatz für ein grosses Ring- und Schwingfest herzurichten.
Erste Erwähnungen des Schwingens in amtlichen Quellen finden sich ab dem 15. Jahrhundert. Zahlreicher wurden die schriftlichen Belege im 16. Jahrhundert, weil die städtischen Obrigkeiten (die auch über das Land herrschten) mit sogenannten Sittenmandaten das Schwingen zu regulieren oder gänzlich zu verbieten begannen.
Grund: Am Rande der Schwingwettkämpfe, die während Kirchweih- und Alpfesten stattfanden, soll es immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen gekommen sein. Die politischen Obrigkeiten sahen darin eine Gefahr für die öffentliche Ordnung. Beeinflusst wurden sie dabei von der damals allmächtigen Kirche, der sportliche Vergnügungen grundsätzlich ein Dorn im Auge waren. Schwingen halte die jungen Männer vom Gottesdienst ab.
Die städtischen Verbote brachten das Schwingen zwar nicht zum Verschwinden, doch konnte dieses nur unter massiven Einschränkungen ausgeübt werden. Dies sollte sich ab dem späten 18. Jahrhundert radikal ändern, weil sich die kulturellen und politischen Interessen der städtischen Eliten im Zuge der Aufklärung wandelten: Zunächst entdeckten sie dank aufklärerisch-patriotischen Forschern die natürlichen Schönheiten der Landschaft – insbesondere jene der Alpen, die bisher eher für Armut und Naturgefahren standen.
Die neue Aufmerksamkeit zeigte sich unter anderem in der Zuwendung zum alpinen Brauchtum, wozu auch Hornussen, Steinstossen und Schwingen gehören. Gepflegt wurden diese Spiele vor allem von Alphirten und genau diese wurden nun als Inbegriff des idealen Schweizers gesehen, der für Aufrichtigkeit, Bescheidenheit und Bodenständigkeit stehe und diese Eigenschaften der alpinen Landschaft verdanke.
Als sich etwa gleichzeitig die Idee des Nationalstaates in Europa zu verbreiten begann, suchten und definierten alle Länder – genauer gesagt die jeweiligen politischen und kulturellen Eliten – für ihre Nationen «typische» Traditionen und Eigenarten. Dabei wurde oft lokales Brauchtum zu nationalem gemacht.
National eingestellte Städter brachten deshalb die ländlichen Volksspiele Steinstossen, Hornussen und Schwingen in die Stadt und propagierten sie dort neu als eidgenössische Nationalspiele. Sie organisierten dazu Feste, bei denen neben den Wettkämpfen auch Jodeln, Alphornblasen und Fahnenschwingen auf dem Programm standen.
So wurde das erste Unspunnenfest von 1805 durch den Stadtberner Schultheissen von Mülinen und weitere adlige Berner Burger initiiert. Auch die ersten Eidgenössischen Schwinger- und Älplerfeste wurden in der Stadt aus der Taufe gehoben: 1889 im industriell geprägten Zürich und sechs Jahre später in Biel.
Selbst in der Innerschweiz lässt sich beobachten, dass das städtische Bürgertum das ländliche Brauchtum in die Stadt holte und zu einem Konsumgut mit Tradition machte. So fand das erste kantonale Luzerner Schwing- und Älplerfest 1893 nicht etwa auf einer Alp statt, sondern mitten in Luzern vor dem Grand-Hotel Europe.
Dies war kein Zufall: Es galt, das Schwingfest bei den Touristen beliebt zu machen. Organisiert wurde es von findigen Turnern mit Hilfe der Verkehrskommission Luzern. Wieder aufgegriffen wurde damit die Idee des ersten Unspunnenfests von 1805, dem angereisten Adel die heile Bergwelt näher zu bringen. Doch diesmal ging es um Geld und Tourismus.
Im Vordergrund blieb dennoch das angeblich Ursprüngliche und «typisch» Schweizerische des Schwingens, wobei dies in den Anfängen sehr offensiv definiert und verteidigt wurde. Ein wichtiges Instrument war dabei der 1895 gegründete Eidgenössische Schwingerverband und dessen Publikationsorgan, die «Eidgenössische Schwingerzeitung».
Die Erstausgabe von 1907 machte deutlich, um was es ging: «Unser Volk hat von jeher nationale Spiele, wie das Schwingen und Hurnussen [sic!] geliebt und geübt», deshalb müsse man den Schwingsport «rein» halten und das Schwingen in den Dienst der Nation stellen, meinte Verbandsgründer Erwin Zschokke: «Ein Volk, das seine Eigenart nicht ehrt, büsst seine Nationalität ein.»
Ein richtiger Schwinger sollte zudem den erwähnten bodenständigen Alphirten verkörpern, weshalb auch das «spekulative Wirtshausschwingen», also Wetten, die offensichtlich auf Kämpfe in Wirtshäusern gesetzt wurden, bekämpft wurden. Heutzutage geht es an den Schwingfesten nicht mehr so streng-patriotisch zu, die hehren Ideale werden aber im Umfeld der Wettkämpfe selbstverständlich von Medien und Festrednern reproduziert.
Schlussendlich erfanden die Städter also das Schwingen als nationale Tradition neu und vermarkteten es attraktiv für das breite Publikum. Die Schwingfeste sollten Stadt und Land zusammenbringen und ein Schweizerisches Nationalgefühl vermitteln, indem sie als Hort von Natürlichkeit und uralter Tradition präsentiert wurden.
Diese Verbindung von Sport und Brauchtum funktioniert bis heute, wobei seit jeher auch kommerzielle Interessen mitschwangen, seit etwa 30 Jahren nochmals verstärkt. Zu den Sponsoren von Schwingfesten gehören mittlerweile grosse Player wie Migros oder Swisscom und das «Chäppi» jedes Spitzenschwingers wird von einem Sponsor geziert – Bodenständigkeit und Tradition als Marketingargument. Denken Sie daran, wenn Ihnen Sempach Matthias an einem gemütlichen Fernsehabend wieder einmal frische Teigwaren vom Lande verkaufen möchte.
Michael Jucker (rechts) ist Sporthistoriker, Leiter von Swiss Sports History (sportshistory.ch) und Co-Leiter des FCZ-Museums.
Simon Engel (links) ist Historiker und bei Swiss Sports History für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig.