«Hier hat dieser Mensch gelebt, bevor er deportiert und umgebracht wurde»

Das Projekt Stolpersteine erinnert europaweit an die Opfer des Nationalsozialismus. Auch aus der Schweiz sind Schicksale bekannt. Die ersten Stolpersteinen wurden in Zürich verlegt, bald folgen welche in Basel. Historiker Georg Kreis über die Hintergründe und über Erinnerungskultur.

Aktuell beschäftigt sich die Schweiz wieder mit ihrer Rolle im Zweiten Weltkrieg. «SRF» hat vor ein paar Monaten «Frieden», herausgebracht. Eine Serie über Schweizer Gschäftlimacher, die mit mutmasslichen Nazis zusammenspannten. Und Zürich würdigt jüdische Naziopfer mit Stolpersteinen. Wie war das genau mit der Schweiz und dem Nationalsozialismus? Das haben wir den Historiker Georg Kreis gefragt.

Stolpersteine Zürich
Gegen das Vergessen: Die ersten Stolpersteinen wurden in Zürich verlegt, bald folgen welche in Basel. (Bild: zVg / Verein Stolpersteine)

Georg Kreis, im November wurden die ersten Stolpersteine in Zürich verlegt, es werden bald welche in Basel, Bern und Genf folgen. Warum jetzt? Und was halten Sie von dieser Art von Gedenken?

Die Idee finde ich genial. Sie ist einerseits eine Strategie gegen das Vergessen, die auf einzelne, durchschnittliche Menschen ausgerichtet ist, die als Sandkörnchen in einer ganz grossen Tragödie sichtbar gemacht werden. Und andererseits hat es einen territorrialen Bezug: Hier hat dieser Mensch das letzte Mal frei gewohnt und gelebt, bevor er deportiert und umgebracht wurde. Diese Ausrichtung auf unspektakuläre Einzelschicksale, finde ich eine ganz grosse Leistung. Man kann sie auch als Ersatz verstehen für die fast nicht mehr vorhandenen Zeitzeugen. Nun muss man sich fragen, wie man auf eine ernsthafte und nicht oberflächlich-rituelle Weise erinnern kann. So, dass es wirklich in die Tiefe geht. Am Wichtigsten ist das Reden miteinander. 

Wir brauchen also Erinnerungsstützen. Wie stark war der Faschismus in der Schweiz?

Der Faschismus war ein transnationales Phänomen, welches sich in verschiedenen Staaten in den jeweiligen Bewegungen niederschlug. Es ist also zu erwarten gewesen, dass auch die Schweiz davon nicht ausgeklammert blieb. Die helvetische Variante ist bekannt unter dem Namen Frontismus, die sich besonders durch erstaunliche Rivalitäten unter den kantonalen und regionalen Auslegungen auszeichnet. Dadurch haben die Frontisten nie eine gesamtschweizerische Bewegung zustande gebracht. Das hätte eventuell gefährlich werden können, aber war jenseits realer Möglichkeiten. Sie blieben am Rande.

Inwiefern wissen wir, dass der Frontismus eine Randerscheinung war?

Die Frontisten wollten zwischen 1933 und 1935 die Bundesverfassung einer Totalrevision unterziehen – hin zu einem autoritär regierten Ständestaat (ein nach Berufsgruppen organisierter, nicht demokratisch legitimierter Staat, Anm. der Red.). Die Initiative wurde 1935 deutlich abgelehnt. Wenig später wurde 1937 eine weitere Initiative abgelehnt, die das Verbot der Freimaurerei zum Ziel hatte, im Grunde jedoch auf die Vereinsfreiheit als Ganzes abzielte. Diesen Stresstest hatte die Schweizer Demokratie also erfolgreich bestanden. Auch nach dem Ende des Frankreichfeldzuges des Deutschen Reiches 1940, wo die Frontisten dachten, die Gunst der Stunde nutzen könnten, blieb im Grunde nebensächlich und verlief im Sand.  

«Es gab keinen helvetischen Führer, sondern unzählige kleine Duces.»

Wie lässt sich der Frontismus charakterisieren? 

Man kann aufzählen, wogegen die Frontisten alles waren. Also sogenannte Negativdefinitionen: Sie waren antisozialistisch, antiliberal, antibasisdemokratisch (das, obwohl sie selbst auch etwas wie eine Basisbewegung waren). Und natürlich waren sie antisemitisch. Sie haben den Nationalstaat betont, hatten ein ausgeprägt autoritäres und militaristisches Gesellschaftsverständnis. Der Autoritarismus war – wie im Deutschen Reich oder Italien – aufgebaut auf dem Führerprinzip.

Gab es da jemanden? Einen helvetischen Führer? 

Eben nicht! Es gab unzählige kleine Duces. (Lacht.)

Wie gingen die traditionellen Parteien mit der Bewegung um?

Es war damals wie heute wichtig, wie die traditionellen Parteien auf den Frontismus, respektive heute auf den Rechtspopulismus reagiert haben. Und natürlich: Man hat auch damals gewisse Parolen übernommen und das politische Koordinatensystem hat sich ein wenig verschoben. Beispielsweise teilte man in dem streng katholisch-konservativen Milieu wie der BGB, der heutigen SVP, den Antikommunismus mit den Frontisten. Einen fassbaren «Betriebsunfall» gab es bei kantonalen Wahlen in Zürich, wo der Freisinn eine Listenverbindung mit den Frontisten einging. Die Frontisten haben dadurch zehn Sitze erhalten – ausgezahlt für den Freisinn hat sich das aber nicht, im Gegenteil. Das bis anhin rote Zürich blieb regiert von der SP.

Das heisst, es lohnte sich für die bürgerlichen Parteien nicht, mit der Bewegung zusammenzuspannen?

Auf der einen Seite gab es die Ziele der Frontisten – Ständestaat, autoritäre Strukturen, ein schweizerischer Duce in Form eines Landammanns – und auf der anderen Seite das Verhältnis zu anderen totalitären Mächten, also zu Italien und zu Deutschland. Das ist eine etwas spitze These, aber ich bleibe dabei: Die Gefahr der Vereinnahmung durch die totalitären Nachbarn hat das schweizerische Bürgertum davor bewahrt, zu sehr diese Tendenzen mitzutragen. Man war unter anderem auch deshalb antifrontistisch, weil man die Schweiz als souveränen Kleinstaat stark behalten wollte und nicht Satellit Deutschlands werden wollte.

Georg Kreis
Zur Person

Georg Kreis ist emeritierter Professor für Neuere Geschichte an der Universität Basel, war bis 2011 Leiter des Europa-Instituts und ebenfalls bis 2011 erster Präsident der Bundeskommission gegen Rassismus. Des Weiteren war er Mitglied der Bergier-Kommission, also jener Gruppe von Historiker*innen, die Ende der 90er-Jahre die Rolle der Schweiz während des Zweiten Weltkrieges erforscht haben.

Also eine nationalistische Bewegung, die die Schweiz vor dem Faschismus bewahrt hat?

Sie sagen jetzt nationalistisch, man kann es auch als patriotischen Reflex bezeichnen. Das eigentlich Spannende daran ist, dass man scheinbar nationalistisch sein kann, um andere Nationalismen abzuwehren. Und das obwohl – damit haben wir ja begonnen – der Faschismus zu einer nationalistischen Internationalen geführt hat.

1938 führte Deutschland auf Drängen der Schweiz den J-Stempel ein. Eine Passmarkierung, die alle jüdischen Einreisenden aus Deutschland und Österreich direkt erkennbar machte.

Das war eine rassistische und antisemitische Passmarkierung. Man wollte schon an der Grenze wissen, ob der Passinhaber Jude oder Jüdin ist. Das wünschte man sich vonseiten der Schweiz an die Deutschen und drohte ansonsten, ein Generalvisum für alle Deutschen und Österreicher einzuführen. Das ist der Anteil der Schweiz an diesem Sichtvermerk, der selbst natürlich von deutscher Seite aus kam, aber ein ausgehandelter Deal war.

Ab 1942 bis 1944 schloss die Schweiz ihre Grenzen für Flüchtlinge. Warum hat man das gemacht?

Man wollte sicher sein, dass die jüdischen Verfolgten nicht im Land hängen blieben, denn es gab bei nur 0,4 Prozent Anteil jüdischer Bevölkerung das Bedenken, dass die Schweiz «verjudet» werden könnte. Hierzu gibt es zwei weitläufig verbreitete Positionen: Die Schweiz hätte das NS-Reich nicht reizen wollen und man hätte nicht genug Ressourcen gehabt. Das sehe ich beides nicht so, denn sowohl Ernährungs-, Bekleidungs- als auch Unterkunftsfragen waren eher Details. Des Weiteren sah man, sobald die Flüchtlinge im Landesinnern in Lagern untergebracht wurden, das als Risiko und als Störung aus operativer militärischer Perspektive an. Auch der famose General Guisan hat sich in dieser Hinsicht immer für eine sehr zurückhaltende Flüchtlingspolitik ausgesprochen – zumal man die Flüchtlinge, je nach dem wie man sie unterbrachte, auch noch militärisch bewachen musste. Man wollte also aus diesem Reflex heraus sehr restriktiv sein.Und natürlich war es Abschreckungspolitik. Der Chefredakteur der Basler Nachrichten Albert Oehry kritisierte die Grenzschliessungen im 1942 so: Man war grausam auf Vorrat. Bund und Kantone wollten nicht, dass sich rumsprechen würde, dass die Schweiz Menschen aufnimmt.

Und hat dafür dann Grausamkeiten an der Grenze in Kauf genommen.

Ja.

«Es ist nicht so, dass der Staat für diese Flüchtlinge aufkommen wollte.»

Die Grenzschliessungen und der J-Stempel waren also weder wirtschaftlich motiviert noch ging es um eine gewisse Furcht vor Nazi-Deutschland. Worum ging es dann? Blanker Antisemitismus?

Es ist schwer zu sagen, wie sehr man es nur auf diese Dimension reduzieren kann, weil schon andere Ängste und Faktoren mitgespielt haben. Aber zur Hauptsache war es antisemitisch, ja. Völlig klar.

Wie stark war der Antisemitismus ausgeprägt?

Das ist eine ernste Frage und trotzdem würde ich mit einem Bonmot antworten: Es ist von Kanton zu Kanton verschieden.

Schon damals?

Ja. Der Bund hat per se ja ein Problem: Er hat kein eigenes Territorium, ist also darauf angewiesen, dass die Kantone mitmachen – das ist heute nicht anders. Man konnte aufgrund der Polizeidirektorenkonferenzen erhebliche Unterschiede feststellen in der Bereitschaft, Flüchtlinge aufzunehmen. Und daran lässt sich feststellen, dass gewisse Kantone restriktiver waren als andere. Ich weiss nicht, ob wir uns jetzt darauf einlassen wollen, die «Guten» und die «Bösen» auseinander zu dividieren – es hat sie auf jeden Fall gegeben.

Und Basel?

Basel gehörte zu den Besseren.

Warum? 

In dem Buch «Humaner als Bern» hat der Basler Historiker Jean-Claude Wacker festgestellt, dass in Bezug auf die Abweisung und Ausschaffung der Flüchtlinge, Basel eine humanere oder liberalere Politik betrieben hat – es war ja auch ab 1935 von einer linken Mehrheit regiert. Und trotzdem: In dieser Zeit hat die Aufnahme und Unterbringung von Flüchtlingen nach dem Prinzip der Gruppensolidarität funktioniert. Einheimische Sozialdemokraten haben sozialdemokratische Flüchtlinge aufgenommen, katholische Milieus haben Katholiken aufgenommen und insbesondere die jüdische Gemeinde hat Juden aufgenommen. Und hier sind die Grössenverhältnisse dramatisch, denn es gab relativ wenig Juden die für eine grosse Zahl an Juden verantwortlich waren. Und das ohne staatliche Unterstützung – es ist nicht so, dass der Staat für diese Flüchtlinge aufkommen wollte. Das mussten die Aufnahmegruppen also selbst stemmen. Es ging sogar soweit, dass von staatlicher Seite kam, dass man Flüchtlinge nur aufnehmen könnte, wenn die jeweiligen Gruppen für sie bezahlen würden.

Wir wollen es genau wissen.

Die politisch Verantwortlichen in Basel haben sich also anders verhalten. Inwiefern?

Grundsätzlich geht es um Handlungsspielräume. Man kann so oder so agieren, ob man jetzt Angst vor den Deutschen hat oder Angst vor der Ernährungsknappheit: Selbst bei gleichen Gegebenheiten gibt es Menschen, die sich nicht gleich verhalten. Das ist eine banale, aber wichtige Beobachtung in diesem Kontext. Im Tessin war man Flüchtlingen aus Italien wesentlich offener eingestellt als beispielsweise der Aargau gegenüber Flüchtlingen aus Deutschland. In manchen Kantonen – Genf, Schaffhausen und im Jura oder eben in Basel – hat die Grenznähe dazu geführt, dass man Flüchtlingen eher geholfen hat, in die Schweiz zu kommen. Nicht so im Aargau, trotz seiner Rheingrenze.

Kürzlich ist ein Buch erschienen, welches sich mit den Schweizer KZ-Häftlingen auseinandersetzt. Darin sind die sehr ergreifenden Vorgänge geschildert, die mit Ausschaffungen beginnen und mit Ermordungen in den Konzentrationslagern enden. Wie war es überhaupt möglich, dass es Schweizer Opfer gab?

Aus Basel ist ein berührender Fall bekannt: Es handelt sich um Anna Böhringer-Bürgi, die einen wirklich tragischen Lebensverlauf hatte: In der Schweiz geboren, wurde sie von den Schweizer Behörden als «liederlich» eingestuft. Zunächst besass sie die Schweizer Staatsbürgerschaft, heiratete jedoch einen Deutschen und verlor sie dadurch. Kurz nach Kriegsausbruch suchte die 54-Jährige Zuflucht in der Schweiz und stellte einen Antrag auf Wiedereinbürgerung. Dieser wurde ihr verweigert, denn die Schweizer Behörden fanden, dass sie ihr Schicksal selbst verdient hatte. Was war das Schicksal? Die Behörden schafften sie 1939 nach Lörrach aus. Versuche ihrer Tochter, sie wieder in die Schweiz zu holen, scheiterten, sodass sie 1945 im Konzentrationslager Ravensbrück in Brandenburg umkam.

Was lernen wir aus dem Fall von Anna Böhringer-Bürgi?

Dieser Fall zeigt einerseits, dass Frauen durch die diskriminierende Regelung, dass sie nach Heirat ihre Staatsbürgerschaft verloren, besonders bedroht waren. Und andererseits, dass man nicht sonderlich das Interesse daran hatte, bedrohte Landsleute im Ausland zu retten. 

Wäre das eigentlich Pflicht für die Schweiz gewesen?

Das Prinzip funktionierte damals gleich wie heute: Ein Staat ist verpflichtet, sich um seine Landeskinder zu kümmen. Wenn diese in Not sind, wie jetzt in der Coronakrise, wo der Bund mit Charterflügen seine Landeskinder heim in die Schweiz geholt hat, setzt sich der Staat für sie ein. Während der NS-Zeit jedoch, hat sich die Schweiz für «seine» Juden kaum eingesetzt. Man wollte die Interventionsmöglichkeit nicht für eine liederliche Person wie die Anna B. oder für Juden «verbrauchen». Prominentes Beispiel ist der Hitler-Attentäter Maurice Bavaud. Der Neuenburger Katholik hat 1938 versucht, Hitler zu erschiessen. Er ist gescheitert und wurde erwischt und umgebracht. Was hat der diplomatische Dienst für diesen Mann getan? Nichts.

«Nach 1945 wollte man die Flüchtlinge doch gerne sehr schnell wieder loswerden.»

Gab es in der Schweiz, nachdem man nach dem Krieg wusste, was in Auschwitz und anderen Lagern geschehen war, das Gefühl, dass man versagt hat?

Die Mehrheit fand das nicht. Man war eher stolz auf die vermeintlichen Leistungen: «Wir haben immerhin auch Tausende aufgenommen! Wir haben die Schweiz verteidigt, durch uns hatten die Flüchtlinge eine rettende Insel!» Am Schluss gab es sogar solche, die beleidigt waren, dass die Flüchtlinge nicht bleiben wollten. «Die Schweiz ist doch so schön. Wie kommt es, dass ihr nach Palästina wollt?!» Nach 1945 wollte man die Flüchtlinge, insofern es jüdische Flüchtlinge waren, allerdings doch gerne sehr schnell wieder loswerden. 

Sie waren Teil der Bergier-Kommission, die sich ab 1996 im Auftrag des Bundes mit der Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg intensiv befasst hat. Wieso kam diese Aufarbeitung so spät?

Generell ist die Aufarbeitung in der Schweiz immer nur durch Druck von aussen gekommen. Eigene kritische Hinterfragungen durch Schriftsteller und die Geschichtswissenschaft bewirkten wenig. Im Gedenken und der Vergangenheitsbewältigung hat man die Schweizer KZ-Häftlinge bisher vergessen und jetzt nachgeholt. Zunächst kann es befremden, dass für Gedenken an erlittenes Leid die Staatsbürgerschaft eine Rolle spielen soll. Dieses Gedenken erinnert aber an die Schutzpflicht des Staats für seine Bevölkerung und zeigt, dass die Schweiz bis zu einem gewissen Grad mitverantwortlich für das war, was jenseits ihrer Landesgrenzen geschah.

Die Aufarbeitung ist also längst nicht abgeschlossen. Brauchen wir eine bessere Erinnerungskultur?

Die Grundidee des Erinnerns hat drei Bedeutungen. Einmal sollte man Menschen, die Leid erfahren haben, nicht vergessen. Natürlich werden Menschen, welche Genoziden zum Opfer fallen, im Gedenken mehr hervorgehoben – schliesslich geht es um die Vernichtung einer ganzen Gruppe, einer ganzen Ethnie. Zweitens muss man das Gedenken an jene Opfer in die eigenen Haltungen in der Gegenwart übertragen. Und drittens, und das ist gerade im Falle der Schweiz besonders wichtig, muss man an die Trägheit des Staates in der Zeit selber erinnern. Daran, dass sie nichts getan haben. Somit wird der Staat begründungspflichtig: Warum helfen sie nicht? Warum schreiten sie nicht ein?

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