«Ich lege jedes Wort auf die Goldwaage»

Während die Kritik an der israelischen Kriegsführung auch in der Schweiz zunimmt, hat die jüdische Gemeinschaft das Gefühl, Stellung beziehen zu müssen. Basler Jüd*innen berichten von innerer Zerrissenheit und der Angst, sich zum Konflikt in Israel und Gaza zu äussern.

Jüdische Stimmen
Jüdinnen und Juden aus Basel äussern ihre Ansichten. (Bild: Alexander Preobrajenski, Samuel Trümpy Photography, Dominik Plüss, LDP, SIG, zVg (Collage: Bajour))

Im Gespräch mit Jüd*innen aus Basel hat Bajour sich danach erkundigt, was die aktuelle Situation im Nahost-Konflikt für sie in der Schweiz bedeutet und ob sie das Gefühl haben, sich für die israelische Politik rechtfertigen zu müssen.

Deborah Lyssy

Ich habe nicht das Gefühl, mich für die Politik Israels rechtfertigen zu müssen, aber ich möchte mich von ihr distanzieren. Einerseits, weil ich die humanitäre Krise, die im Moment herrscht, entsetzlich finde, und weil das Völkerrecht von Israel überhaupt nicht beachtet wird, sei das in Gaza oder im vom Militär besetzten Westjordanland. In Israel gibt es bereits viele kritische Stimmen von jüdischer Seite.

Als Jüdin in der Schweiz fehlte mir in den letzten Monaten, dass sich der Schweizerische Israelitische Gemeindebund, die jüdischen Gemeinden oder auch jüdische Personen in der Öffentlichkeit von der israelischen Regierung und deren Politik distanzierten. 

Deborah Lyssy
«Es ist höchste Zeit, dass wir sagen: nicht in unserem Namen.»
Deborah Lyssy

Ich finde, wir haben als jüdische Personen eine Verantwortung, die Politik der israelischen Regierung kritisch zu beurteilen, genau hinzuschauen und uns letztlich davon zu distanzieren. Dies, weil die Regierung von Netanyahu sich anmasst, für die gesamte jüdische Bevölkerung zu sprechen und zu handeln. Es ist höchste Zeit, dass wir sagen: nicht in unserem Namen. 

Statt sich gegenüber der israelischen Regierung und den kriegsverbrecherischen Handlungen zu distanzieren, drehte sich der Diskurs der Gemeinden in den letzten Monaten fast ausschliesslich um Antisemitismus. Antisemitismus ist ein echtes Problem, gerade deshalb finde ich es verantwortungslos, jede Kritik an der israelischen Regierung als Antisemitismus zu werten. Zum einen verdeckt und verharmlost dies echten Antisemitismus. Zum anderen haben immer mehr Personen Angst, sich öffentlich zum Konflikt in Israel und Gaza zu äussern, weil sie sonst als antisemitisch betitelt werden. Das wäre anders, wenn die jüdischen Gemeinden oder jüdische Personen in der Öffentlichkeit auch Stellung beziehen und sich in aller Deutlichkeit gegen die Kriegsführung und die Verletzung des humanitären Völkerrechts stellen würden.

Philip Karger

Ich bin Schweizer und als solcher politisch in Basel engagiert. Die Politik in Israel ist nicht mein Mandat. Als verantwortungsbewusster Lokalpolitiker interessiere ich mich jedoch für viele Vorgänge weltweit. Es gibt sehr viele Israelis, die nicht mit der Politik ihrer Regierung einverstanden sind und dies auch zahlreich und laut bekunden. Für die Politik Israels muss ich mich als Schweizer Jude nicht rechtfertigen, vor allem nicht, um Diskriminierungen entgegenzuwirken. 

Aus meiner Sicht erleben wir ein Wiedererstarken von Antisemitismus. Der Beweis findet sich unmittelbar am und nach dem 7. Oktober 2023. Der terroristische Angriff der Hamas hat zu weltweitem Jubel geführt. Es wurde ein globaler Anstieg auch des gewalttätigen Antisemitismus beobachtet – und das, bevor die israelische Armee zum Gegenangriff übergegangen ist. 

Philip Karger
«Mit Kritik an der israelischen Politik können Jüdinnen und Juden den Antisemitismus nicht beeinflussen.»
Philip Karger

Mit ihrem Verhalten oder ihrer Kritik an der israelischen Politik können Jüdinnen und Juden den Antisemitismus nicht beeinflussen, denn er richtet sich gegen deren Existenzrecht. Eine wirksame Antisemitismusprävention muss meiner Meinung nach eine Mischung aus sachlichen Informationen, Gesprächsangeboten und angemessenen Repressionen umfassen. Für den Nahen Osten wünsche ich mir einen dauerhaften und gerechten Frieden. 

Peter Jossi

Unabhängig von der aktuellen Situation überlege ich mir immer genau, mit wem ich die Themen wie Israel und den Krieg in Gaza anspreche. Ich denke, es geht vielen Jüdinnen und Juden ähnlich. Ich finde, viele Menschen machen es sich zu einfach, wenn sie die israelische Regierung kritisieren, ohne sich gleichzeitig mit dem vielfältigen israelischen Engagement für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Frieden solidarisch zu zeigen. Leider scheint dieses viele gar nicht zu interessieren. 

Bildschirmfoto 2025-05-28 um 15
«Israel nur zu kritisieren, bringt uns nicht weiter.»
Peter Jossi

Aktuell verweigern beispielsweise mehr als 100’000 Reservisten die erneuten Marschbefehle der israelischen Armee und stellen sich damit offen gegen den Krieg in Gaza. Hundertausende gehen auf die Strasse. Ich frage mich: Warum spielt das keine Rolle und weshalb engagiert sich in der Schweiz nahezu niemand aktiv für die gesellschaftlich progressiven Kräfte in Israel? Warum werden NGOs in Israel, die sich für Rechtstaatlichkeit und Demokratie einsetzen, nicht unterstützt? 

Ohne den Erhalt der rechtsstaatlich-demokratischen Ordnung in Israel ist aus meiner Sicht auch jede echte politische Zukunftsperspektive für die Palästinenser*innen völlig illusorisch. Israel nur zu kritisieren, bringt uns nicht weiter und daher ist ein Engagement, wie es sich zum Beispiel im Rahmen des Jüdischen Forums Gescher zeigt, aus meiner Sicht sehr wichtig.

Ralph Lewin

Es gibt manchmal Situationen, in denen ich mich genötigt fühle, die Geschehnisse in Israel entweder zu rechtfertigen oder zu verurteilen. Die Tatsache, dass ich in Gesprächen in diese Ecke gedrängt werde – egal, was ich denke – ist per se sehr unangenehm. Ich fühle mich dann nicht mehr gleich frei, meine Meinung zu sagen, wie bei anderen Themen. 

Ralph Lewin
«Juden sind nicht kollektiv für das Handeln des israelischen Staates verantwortlich.»
Ralph Lewin

Israel ist auch als angegriffenes Land an das humanitäre Völkerrecht gebunden und hat eine Verantwortung für die Zivilbevölkerung in Gaza. Deren Versorgung muss unbedingt und sofort sichergestellt werden. 

Wenn ich zum Beispiel dies  sage, dann weil ich möchte, dass Israel diese rechtliche und moralische Verpflichtung einhält und nicht weil man es von mir als Jude erwartet. Juden sind nicht kollektiv für das Handeln des israelischen Staates verantwortlich. Den meisten ist das klar, aber leider nicht allen. 

Danielle Kaufmann

Ich habe ein starkes inneres Bedürfnis, mich öffentlich und deutlich gegen die israelische Regierung zu positionieren. Nicht, weil ich das Gefühl hätte, dass jemand das von mir erwartet, sondern weil es mir persönlich wichtig ist. Gleichzeitig bin ich aber sehr vorsichtig geworden, was ich sage, insbesondere innerhalb meiner jüdischen Community, weil ich merke, dass die Meinungen dort sehr stark auseinandergehen und ich auch keine Beziehungen aufs Spiel setzen möchte. Weder mit meinen Bekannten hier in der Schweiz noch mit meinen Verwandten in Israel. 

Insgesamt führt das dazu, dass wir alle weniger miteinander kommunizieren. Daher fühle ich mich oft einsam, gerade, wenn es um Fragen geht, die mich umtreiben und die ich mit Menschen besprechen möchte, die mich verstehen könnten. Ich spüre eine Zerrissenheit auf vielen Ebenen und nichts ist wie früher. Oft habe ich das Bedürfnis, aus diesem fahrenden Zug einfach auszusteigen, aber das können wir leider alle nicht. … 

Danielle Kaufmann
«Ich muss enorm viel verdrängen, sonst halte ich diesen Zustand gar nicht aus.»
Danielle Kaufmann

Es stört mich sehr, dass mir und anderen noch schneller als früher Antisemitismus vorgeworfen wird, wenn man sich kritisch gegenüber der israelischen Regierung äussert. Das führt dazu, dass sich vernünftige Leute immer mehr aus der Öffentlichkeit zurückziehen. Ich selbst habe auch Angst vor einem Shitstorm von der einen oder der anderen Seite und ich lege jedes Wort auf die Goldwaage. Das alles belastet mich sehr und ich muss enorm viel verdrängen, sonst halte ich diesen Zustand gar nicht aus.

Dan Wiener

Ich werde als Jude immer wieder gefragt: Und? Was meinst du zu Israel? Die Erwartung ist, dass ich in zwei Sätzen Stellung beziehe. In letzter Zeit wird aber von mir zusätzlich eine Art Disclaimer erwartet: Ich sollte Israels aktuelle Regierung kritisieren und sagen, dass es schrecklich sei, was in Gaza passiert. Dann sind die meisten zufrieden, dann ist es ok, weiter mit mir zu verkehren. 

Wenn ich eine ehrliche Antwort auf obige Frage geben sollte, reichen zwei Sätze bei Weitem nicht aus. Ich müsste vor den Kreuzzügen beginnen. Ich müsste über meine Vorfahren schreiben, die aus Spanien vertrieben und dann ins bereits damals für Juden «gelobte Land» kamen, und dort blieben. Und das wäre nur ein Beispiel von Vielen. 

Ich müsste auch über die Verantwortung der arabischen Nachbarstaaten für diesen Konflikt sprechen. Die Nachbarstaaten, die mehrfach das versuchten, was die Hamas noch heute versucht: Israel auszulöschen. Und natürlich müsste ich auch über die Verantwortung der konservativen bis rechtsnationalen und ultrareligiösen Kräfte Israels sprechen, die wenig an einer echten Lösung des Problems interessiert sind. Ich müsste davon sprechen, wie sie entstanden sind, und wie jeder Terroranschlag sie gestärkt hat und weiter stärkt. Aber all das will kaum jemand hören. 

Dan Wiener
«Ich mag nicht als Projektionsfläche für simplistische Weltbilder herhalten.»
Dan Wiener

Es ist einfacher schwarz-weisse Schuldzuweisungen und einfache Lösungen zu propagieren. So, wie das viele pauschale Anti-Israel-Demonstrationen tun – zuletzt am ESC. Die Verkürzung «Holocaust – Palästinenser vertreiben – Israel gründen» ist weit verbreitet. Wenn Israel kritisiert wird, ist das nicht antisemitisch. Aber solch plumpe Verkürzungen sind ein typisches Merkmal von Rassismus. 

Und jetzt soll ich bekennen, dass ich als Jude gegen die israelische Regierung und ihre erneute Invasion Gazas bin. Und damit sollte ich zeigen, dass ich ein «guter» Jude bin. Sorry. Das werde ich nicht tun. Ich mag nicht als Projektionsfläche für simplistische Weltbilder herhalten. 

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Nach dem Studium, freier Mitarbeit bei der Berliner Morgenpost und einem Radio-Volontariat hat es Valerie 2002 nach Basel gezogen. Sie schreibt seit fast 20 Jahren für das Jüdische Wochenmagazins tachles und hat zwischenzeitlich einen Abstecher in die Kommunikation zur Gemeinde Bottmingen und terre des hommes schweiz gemacht. Aus Liebe zum Journalismus ist sie voll in die Branche zurückgekehrt und seit September 2023 Redaktorin bei Bajour. Im Basel Briefing sorgt sie mit ihrem «Buchclübli mit Vali» dafür, dass der Community (und ihr selbst) der Lesestoff nicht ausgeht.

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