Wir tragen alle Verantwortung
Die Kritik an der israelischen Kriegsführung wird lauter und der Druck auf die jüdische Community wächst, sich zu positionieren. Doch sie kann nicht verantwortlich für Netanyahus Politik gemacht werden, kommentiert Bajour-Redaktorin Valerie Wendenburg.
Die Stimmung wandelt sich. Nach mehr als eineinhalb Jahren Krieg in Israel und Gaza werden auch innerhalb der jüdischen Gemeinschaft in der Schweiz Stimmen laut, die das Vorgehen der israelischen Regierung von Benjamin Netanyahu kritisieren. Dass selbst der Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds, Ralph Friedländer, in der Sendung 10 vor 10 vorsichtig Kritik äussert und mahnt, Israel müsse die humanitäre Verantwortung im Gazastreifen besser wahrnehmen, ist bemerkenswert und ein Novum.
Klartext von jüdischer Seite
Nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 stand vor allem die Befreiung der Geiseln und die Solidarität mit Israel im Fokus der jüdischen Gemeinschaft. Diese sei zwar nach wie vor vorhanden, so Friedländer. Es gebe aber immer mehr Jüd*innen, die das Vorgehen der israelischen Regierung nicht mehr nachvollziehen können und sich kritisch äussern.
Auch die Plattform der Liberalen Juden in der Schweiz (PLJS) hat ein Statement publiziert, in dem es heisst: «Israels Vorgehen im Gazastreifen sorgt auch bei den Juden in der Schweiz für Entsetzen.» Die PLJS fordert die israelische Regierung auf, uneingeschränkt Hilfslieferungen in den Gazastreifen zuzulassen und ihre Verantwortung für die Zivilbevölkerung in Gaza wahrzunehmen. Auch aus jüdischen Kreisen kommt inzwischen klare Kritik.
Es ist nun auch für viele Jüd*innen nicht mehr vertretbar, von einem Verteidigungskrieg Israels gegen die Hamas zu sprechen.
Warum (erst) jetzt? Die humanitäre Katastrophe in Gaza spitzt sich immer mehr zu. Die sogenannte Operation «Gideons Streitwagen» und die Grossoffensive zeugen für eine neue Dimension in dem Krieg, in dem es mittlerweile nicht mehr an erster Stelle um die Befreiung der Geiseln geht, sondern vielmehr darum, den Gazastreifen neu zu besiedeln und die Kontrolle über ihn zu erhalten. Das haben pro-palästinensische Aktivist*innen der israelischen Regierung von Anfang an unterstellt.
Deutliche Worte
Es ist nun auch für viele Jüd*innen nicht mehr vertretbar, von einem Verteidigungskrieg Israels gegen die Hamas zu sprechen. Auch Yves Kugelmann, Chefredaktor von tachles, schreibt, der Krieg habe sich gewandelt: «Es ist der Angriffskrieg einer faschistoiden Regierung, die Kriegsverbrechen in Kauf nimmt.» So deutliche Worte wie diese habe ich während meiner 20-jährigen Beschäftigung als Redaktorin bei tachles noch nie gelesen. Sie zeigen klar auf: Das Bedürfnis seitens der jüdischen Gemeinschaft, Stellung zum Vorgehen der israelischen Regierung zu beziehen, wächst.
Aber auch international gibt es nun mehr politischen Gegenwind gegenüber Israel, während sich die Schweiz im Sinne der Neutralität mit Kritik trotz klarer Appelle nach wie vor zurückhält. Dabei ist spätestens seit dem Stopp der Hilfsgüter vor nahezu drei Monaten klar, dass viele Erwachsene und Kinder in Gaza verhungern und Menschenrechte mit Füssen getreten werden.
Solidarität mit Israel darf nicht dazu führen, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit toleriert werden.
Westliche Demokratien und besonders Deutschland, wo Israels Sicherheit zur Staatsräson erklärt wurde, scheuen sich häufig vor offener Kritik an der israelischen Regierung – selbst angesichts eines möglichen Haftbefehls gegen Netanyahu durch den Internationalen Strafgerichtshof. Dem israelischen Premier wird unter anderem vorgeworfen, die Zivilbevölkerung im Gazastreifen absichtlich und systematisch von lebensnotwendigen Ressourcen wie Nahrung, Wasser, Strom, Treibstoff und medizinischer Versorgung abzuschneiden.
Solidarität mit Israel darf nicht dazu führen, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit toleriert werden. Denn das wäre ein falsches Verständnis von Gerechtigkeit und Humanität. Man kann sich klar für die Existenz des israelischen Staates aussprechen und dennoch Kritik an der aktuellen Regierung üben. Die Scheu aber scheint gross und auch die Kritik seitens der jüdischen Community kommt in Anbetracht der völkerrechtlichen Katastrophe in Gaza spät und nur vereinzelt.
Während die Kritik an der israelischen Kriegsführung auch in der Schweiz zunimmt, hat die jüdische Gemeinschaft das Gefühl, Stellung beziehen zu müssen. Basler Jüd*innen berichten von innerer Zerrissenheit und der Angst, sich zum Konflikt in Israel und Gaza zu äussern.
Wie in Gesprächen mit Basler Jüd*innen deutlich wird, verspüren einige von ihnen aber auch den immer grösser werdenden Druck, sich äussern zu müssen. Weil sie jüdisch sind. Andere spüren auch Einsamkeit, weil sie es vermeiden, unter Menschen zu gehen – aus Sorge, etwas «Falsches» zu sagen und Freundschaften sowohl in Israel wie auch in Basel aufs Spiel zu setzen. Ein jüdischer Freund erzählte mir, dass ihm ein ehemaliger Kollege in Basel nicht mehr die Hand gegeben habe. Weil er jüdisch ist. Er bekommt die Konsequenzen der Krise in Nahost hier in der Schweiz am eigenen Leib zu spüren.
Dass Jüd*innen nicht kollektiv für das Handeln des israelischen Staates verantwortlich gemacht werden können, scheint innerhalb der Bevölkerung noch nicht überall klar zu sein. Da überrascht es nicht, dass sich jüdische Menschen in der Schweiz nicht mehr so frei fühlen wie bisher.
Jüdische Menschen für das Vorgehen der israelischen Regierung verantwortlich zu machen, ist nicht nur ignorant, sondern vor allem antisemitisch.
Es liegt auf der Hand, dass die Sicherheit Israels der jüdischen Gemeinschaft weltweit am Herzen liegt. «Aber der Krieg muss zu Ende gehen», wie die PLJS schreibt. Darin scheinen sich auch grosse Teile der jüdischen Community einig zu sein – sei es in der Schweiz oder auch in Israel selbst, wo nicht nur Hunderttausende Menschen gegen die Regierung auf die Strasse gehen, sondern sogar den Kriegsdienst verweigern.
Jüdische Menschen für das Vorgehen der israelischen Regierung verantwortlich zu machen, ist nicht nur ignorant, sondern vor allem antisemitisch. Während Kritik an der israelischen Regierung – wie an jeder anderen Regierung auch – legitim und per se nicht antisemitisch ist, so ist es antisemitisch, alle Jüd*innen kollektiv für das Handeln des Staates Israel verantwortlich zu machen.
Ende der Toleranz
Die «Zedaka» («Gerechtigkeit») ist ein wichtiges Gebot, das in der Thora verankert ist. Daher ist es ein zentraler Wert des Judentums, für Gerechtigkeit und eine bessere Welt einzutreten. Auch aus diesem Grund fällt es vielen jüdischen Menschen zunehmend schwer, die Situation in Gaza mit anzusehen und zu tolerieren. Sie sind ebenso betroffen wie wir alle darüber, dass Israel Völkerrecht missachtet, eine humanitäre Katastrophe herbeiführt und sie bewusst nicht beendet.
Die internationale Gemeinschaft muss nun einen Weg finden, um angemessen auf das Vorgehen Israels zu reagieren – auch die Schweiz täte gut daran, sich zu positionieren und Israels Kriegstreiben nicht mehr stillschweigend hinzunehmen. Gerade jetzt, da auch schon jüdische Personen ihre Stimme erheben.