«Und auf Schweizerdeutsch heisst’s Rüebli»

Um sich im Alltag zurecht zu finden und für die Jobsuche, wollen geflüchtete Ukrainer*innen Deutsch lernen. Die pensionierte Lehrerin Anmari hilft dabei.

Anmaris Deutschkurs-Titel
Nadja (36), Lesja (41), Anna (23) und Giammario (47) füllen ihren Einkaufskorb gemäss den Anweisungen der Lern-CD.

«Das ist mein Apfel», sagt Lesja. «Genau», entgegnet Anmari Senn. «Sehr gut. Jetzt könnt ihr selber weiter machen.» Die 66-jährige Anmari Senn sagt das langsam und deutlich und zeigt dann mit dem Finger auf die nächste Aufgabe im Deutschheft. Leise «Brot, Brötchen» oder «ein Apfel, neun Äpfel» flüsternd, füllen die Schüler*innen die leeren Linien im Übungsheft. Vor ihnen auf den Tischen stehen Kaffeetassen und Karteikästchen mit Dutzenden handbeschriebenen Vokabelkarten. 

An diesem Dienstagvormittag ist der Himmel über dem Missionshaus wolkenverhangen und die Luft kühl. Im zum Schulzimmer umfunktionierten Aufenthaltsraum ist die Atmosphäre hingegen warm und familiär. Alle sind per Du. Seit drei Wochen treffen sich Lesja (41), Nadja (36), Anna (23) und Giammario (47) nun schon zum Deutschunterricht mit Anmari. Sie ist gelernte Lehrerin und Heilpädagogin und hat lange Zeit an Primar- und Orientierungsschulen in Zürich und Basel Deutsch für Fremdsprachige unterrichtet. Seit kurzem ist sie pensioniert. Als der Krieg in der Ukraine ausbricht und erste Geflüchtete in Basel ankommen, erklärt sie sich bereit, sie beim Deutschlernen zu unterstützen. Anmari macht das ehrenamtlich, drei Tage die Woche, jeweils zwei Stunden. 

«Anmari super Lehrerin»

«Jetzt lesen wir vor. Beginnst du, Nadja?», fragt Anmari. «Wir kaufen ein Kilo Kartoffeln, 300 Gramm Hackfleisch und eine Dose Tomaten», liest die 36-jährige Ukrainerin, ihr Finger folgt dabei den Wörtern im Übungsbuch. Vor 20 Jahren hat sie in der Schule bereits einmal etwas Deutsch gelernt, erzählt sie später. Das nützt ihr jetzt: Wenn deshalb eine der anderen Schüler*innen die Anweisungen nicht genau versteht, hilft sie und wiederholt auf Ukrainisch. Wenn sie selbst nicht weiter weiss, sagt sie lachend: «Google, google, help.»

Das Gebauede der Mission 21, fotografiert in Basel am Donnerstag, 20. August 2015.
Das alterwürdige Missionshaus bei Sonnenschein. Seit drei Wochen wird im Untergeschoss gebüffelt.

Heute kommt das aber nicht vor. «Wir lernen schnell sprechen», erklärt Nadja und nickt energisch. «Anmari super Lehrerin!» Anmari müsse immer so viele Fragen beantworten, ergänzt sie: «Wir immer: Wer? Was? Wo ist das?» Anmari nimmt das gelassen, schreibt schwierige Sätze auf das Flipchart oder zeichnet Wortbedeutungen auf. Der Unterricht bereitet ihr sichtlich Spass. 

Sich für alle einsetzen

«Mein Anliegen sind aber nicht nur die ukrainischen Geflüchteten», betont Anmari später beim Tee und zupft an ihrem blauen Halstuch. Sie setzt sich schon seit Jahrzehnten für sozial Benachteiligte ein. Die Schweizer Solidarität mit den ukrainischen Geflüchteten stimmt sie freudig und nachdenklich zugleich. «Wieso gilt das nicht für alle?», fragt sich die 66-Jährige. «Klar, ich engagiere mich ja jetzt auch, aber das bedeutet nicht, dass man sich weniger für andere Geflüchtete einsetzen sollte. Meine Hoffnung ist, dass die jetzige Situation dazu führt, dass die Klassifizierung von Geflüchteten nach Herkunft aufhört und wir allen mit derselben Herzlichkeit und Gastfreundschaft begegnen.»

Anmaris Deutschkurs
Leise «Brot, Brötchen» oder «ein Apfel, neun Äpfel» flüsternd lösen die Schüler*innen die nächste Aufgabe.

Der 47-jährige Giammario ist nicht wegen des Kriegs hier. Er ist Anfang Jahr aus Italien gekommen, um hier im Pflegebereich zu arbeiten. Giammario ist mit einer Ukrainerin verheiratet, sie kann schon Deutsch, er lernt es jetzt  Bis vor Kurzem hätte er niemals gedacht, dass er im Deutschkurs mit seinen Schwägerinnen Lesja und Nadja im Schulzimmer sitzt - sie sind wegen des Kriegs nach Basel gekommen. Nun vereint sie neben dem Familienband auch das Ziel, Deutsch zu sprechen und hier zu arbeiten. Eine Stelle haben alle schon in Aussicht. Nun gilt es noch, die sprachliche Hürde zu meistern. 

«Mein Ziel ist es, die Gruppe jetzt bis Niveau A2 oder B1 zu kriegen», sagt Anmari. «Sie haben alle gute Schulabschlüsse und ich bin deshalb motiviert, mit ihnen Schnällzug z’mache, damit sie bald – vielleicht im Mai – in einen Intensivkurs können.»

Im Schnellzugs-Tempo

Während die Gruppe Aufgaben löst, bereitet Anmari bereits eine nächste vor. Sie legt eine CD ins aufgeklappte Fach des alten CD-Players, der vor ihr auf dem Tisch steht. Relikte aus einer anderen Zeit, ihren Zweck erfüllen sie noch immer. «Wir kaufen fünf Tomaten», scheppert es aus dem Lautsprecher und konzentriert zeichnen die Schüler*innen Tomaten in den leeren Einkaufskorb im Übungsbuch. «Meine Tomaten Cherry», lacht Lesja und zeigt mit Daumen und Zeigefinger die Grösse ihrer Tomätli. Die anderen kichern.

Noch lustiger finden die Deutsch-Schüler*innen aber den Schweizer Dialekt. Anmari erklärt, Schweizerdeutsch sei noch nicht so relevant sei. «Aber es gibt da ein paar wichtige Wörter. Die Leute werden sie zum Beispiel auf der Strasse grüssen und sie werden nicht wissen, was das heisst. Also: Grüezi.»

«Ja, Leute sagen Grüezi», sagt auch Nadja im Unterricht, als sie die Journalistin nach schweizerdeutschen Wörtern fragt. Sie zählt die ihr bekannten Wörter auf: «Grüezi, Rüebli, Znüni, Zvieri.» Die anderen lachen. Schweizerdeutsch: Check.

Anmari Senn
Anmari Senn heisst eigentlich Anne-Marie, «also Französisch», sagt sie. Damit alle wissen, wie man das ausspricht, «schreibe ich mich jetzt phonetisch. Also Anmari.»

«Wer bin ich schon?»

Anmaris Engagement hat auch mit ihrem Glauben zu tun: Sie ist seit vielen Jahren aktiv in der Evangelisch-reformierten Kirche und ist gemeinsam mit einem Team für das Projekt «Mitenand» verantwortlich. Die Beteiligten verstehen sich als Teil einer ökumenischen Bewegung, die Menschen verschiedener Nationen zusammenzubringt. «Soziales Engagement und Glaube gehören für mich untrennbar zusammen – ein Glaube für den Eigenbedarf interessiert mich nicht. Aber der soziale Aspekt, die Achtung der Menschenwürde, das gemeinsame Unterwegssein – das macht Freude.»

Beim Helfen spielt es für Anmari jedoch keine Rolle, was ihr Gegenüber glaubt. «Alle müssen ihren Weg selber finden. Weisst du, jeder hat eine soo individuelle Lebensgeschichte», sagt sie und nimmt den letzten Schluck aus ihrer Tasse Tee. «Ich gehe mit ihnen ein Stückchen des Weges. Aber ich sage niemandem, was sie glauben sollen. Wer bin ich schon?»

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