Teil 3 - «Wir definieren das Leben zu sehr über die Arbeit»

Schlangen vor dem Caritas-Laden, verzweifelte Bettler*innen und Gabenzäune: Seit Corona wird Armut sichtbarer. Was tun? Armutsforscher Ueli Mäder hat Antworten.

Ueli Mäder
Er kennt die Armen und die Reichen: Soziologe Ueli Mäder (Bild: Monika Heid)

Ueli Mäder, Sie haben als Soziologe immer wieder zu Armut geforscht. Haben Sie noch Kontakt zu Menschen, die es schwer haben?

Ja, es melden sich fast jeden Tag Menschen bei mir. Die einen verzweifeln und suchen fieberhaft nach Lösungen, um ihr Einkommen zu sichern. Andere nehmen es gelassen und sagen: «Wegen Corona trifft es auch andere, ich bin nicht mehr alleine». Heute Morgen rief mich eine Frau an, die ihre Stelle verloren hat.  

Wie helfen Sie ihr?

Ich habe einen fundierten Juristen gebeten, sich ihre Situation anzuschauen. Für mich ist klar, dass ich Hand biete. Ich selbst lebe so privilegiert und bin dankbar, Einblick in andere soziale Realitäten zu erhalten. Aber es macht mir Sorgen, wie viele Menschen niemanden haben, der ihnen hilft.

Wir haben mit Armusbetroffenen gesprochen. Vorher hat es ihnen zum Leben gereicht, aber seit Corona langt das Geld nicht mehr.

Ja, diejenigen Menschen, die bereits vorher wenig hatten, sind jetzt doppelt geprellt. Die genauen Auswirkungen von Corona sind noch nicht klar, aber die Tendenz geht in die Richtung: Besonders schwer trifft es Leute in prekären Arbeitsverhältnissen, wie etwa das Reinigungspersonal oder Carearbeiter*innen in der Pflege oder in Privathaushalten. Diese Personen haben nicht nur wenig Geld, sie sind auch gesundheitlich am meisten gefährdet: Je tiefer das Einkommen, desto stärker die gesundheitlichen Beeinträchtigungen.

In der Politik heisst es jetzt oft, vor allem die jungen und älteren Menschen müssten um ihre Jobs fürchten.

Der Knackpunkt ist nicht das Alter, sondern die soziale Ungleichheit: Es trifft die Menschen, die keine Reserven haben.

«Ein Viertel der Basler Bevölkerung kann keine Steuern zahlen. Das bedeutet: 29’000 Personen oder Ehepaare verdienen so wenig, dass es für Steuern nicht reicht.»
Ueli Mäder

Was heisst das?

Ein Viertel der Basler Bevölkerung kann keine Steuern zahlen. Das bedeutet: 29’000 Personen oder Ehepaare verdienen so wenig, dass es für Steuern nicht reicht. Und dann schauen Sie sich die Vermögen an: Jede vierte Person in Basel hat null Erspartes, ein Drittel hat ein Vermögen unter 50’000 Franken. Die Hälfte der Leute hat also keine Reserven.

Sind Reserven wichtig? Es gibt ja eine Arbeitslosenversicherung, die Sozialhilfe…

Das Problem ist, dass man immer noch davon ausgeht, dass die Erwerbsarbeit die Existenz sichert. Aber das ist nicht mehr so. Früher konnte man mit einem Einkommen eine vierköpfige Familie ernähren. Heutzutage braucht es bei den niedrigen Löhnen ein Erwerbspensum von 140 bis 170 Prozent, um ein Auskommen zu finden. Das ist ein strukturelles Problem.

Ist es nicht so, dass Frauen wegen der Emanzipation arbeiten und viele Familien automatisch ein höheres Einkommen haben?

Das ist doch nicht Emanzipation, wenn Frauen zu allen Unzeiten putzen müssen, um über die Runden zu kommen! Ein grosses Problem ist der Strukturwandel im Dienstleistungsbereich. Gerade im Care-Bereich gibt es heute viel mehr prekäre Jobs. Viele Putzfrauen müssen auf Abruf im Stundenlohn arbeiten und allzeit bereit sein. Altenpfleger*innen arbeiten sieben Tage die Woche 14 Stunden für wenig Geld. Diese Arbeit ist anstrengend und gesundheitlich belastend, reicht aber kaum zum Leben
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Journalismus mit Haltung


Und während des Lockdowns fielen Putzfrauen zwischen Stuhl und Bank – viele erhielten keine Arbeitslosenversicherung oder Kurzarbeitsentschädigung und wussten nicht, an wen sie sich wenden sollten.

Deshalb muss man Einkommen und Erwerbsarbeit teilweise  entkoppeln.

Was bedeutet das?

Schauen Sie sich doch die milliardenschweren Hilfspakete an, die man jetzt für das Kleingewerbe und die Unternehmen geschnürt hat. Die finde ich meist gut, aber sie sind stark an die Unternehmen und Jobs geknüpft. Ebenso die Unterstützungen für Selbstständigerwerbende: Jede Unterstützung ist an ein bestimmtes Erwerbsprofil gekoppelt. Noch besser wäre, wenn jeder einzelne Mensch wüsste: Wenn ich ins Wasser falle, werde ich unterstützt. Es braucht eine soziale Absicherung für alle, die unabhängig von Anstellungsverhältnissen ist.

Wie wollen Sie das konkret organisieren?

Als Zwischenschritt könnte man die Ergänzungsleistung von AHV- und IV-Bezüger*innen ausweiten. Zuerst auf Haushalte mit Kindern. Und dann auf alle Haushalte mit zu wenig Einkommen.

Wäre das eine Art Grundeinkommen?

Die garantierte Existenzsicherung für alle wäre ein Schritt in diese Richtung. Und zwar ohne bestehende Leistungen zu unterlaufen. Die Beträge liessen sich unbürokratisch über die Steuererklärungen erheben. Es bräuchte also keine zusätzlichen Bedarfsnachweise.

«In den 50er- bis 70er-Jahren war auch für liberale Kräfte selbstverständlich, dass Arbeit einen hohen Wert hat. Heute ist Wirtschaft finanzgetrieben.»
Ueli Mäder

Wieviel würde das kosten?

Wenn man in der Schweiz die Ergänzungsleistungen auf alle Haushalte mit Kindern ausweitet, kostet das ein paar Milliarden Franken. Dank dieser Ausgaben würde der Staat unter dem Strich sparen, die Sozialhilfe wäre beispielsweise entlastet. Ausserdem würden die Leistungen über den Konsum viele Arbeitsplätze sichern. Doch die Gesellschaft ist blind für die hohe wirtschaftliche Wertschöpfung von Sozialleistungen.

Jetzt argumentieren Sie auch wirtschaftlich.

Ja, einerseits prangere ich die Ökonomisierung der Gesellschaft an, andererseits argumentiere ich so, das ist widersprüchlich. Ich merke einfach, dass sofort die Ohren gespitzt werden, wenn ich beispielsweise in Vorträgen an der Universität St.Gallen Sozialleistungen so begründe.

Ist es nicht logisch, dass angehende Ökonom*innen auf finanzielle Argumente ansprechen?

Ich stelle fest, dass viele liberale Kräfte heute anders denken als früher. In den 50er- bis 70er-Jahren war auch für sie selbstverständlich, dass Arbeit einen hohen Wert hat. Heute ist das weniger so: Die Wirtschaft ist finanzgetrieben, der Markt bestimmt den Wert der Arbeit. Man schaut mehr auf die eigenen Interessen, spart bei den Löhnen, der Sozialhilfe, der Invalidenversicherung.

Glauben Sie, die Zeit, in der jeder Mensch sein Leben über Arbeit finanzieren kann, ist endgültig vorbei?

In der Schweiz verrichten Menschen mehr als neun Milliarden Stunden unbezahlte Arbeit und weniger als acht Milliarden bezahlte. Würden auch die Betreuungsarbeiten bezahlt und die unteren Löhne angehoben, könnten fast alle ihr Leben über Arbeit finanzieren. Aber wir definieren das Leben schon zu sehr über die Arbeit. Wichtig wäre, die Produktivitätsgewinne besser zu verteilen und auf Ramschprodukte zu verzichten. Dann könnten alle weniger arbeiten und mehr leben– auch der Umwelt zuliebe.

«Es gibt viele Menschen, die sich sozial verhalten, die versuchen, ein gutes Leben zu führen. Wenn es die nicht gäbe, würde unsere Gesellschaft gar nicht funktionieren.»
Ueli Mäder

Während der Anfangsphase der Corona-Krise war viel von Solidarität die Rede. Wie erleben Sie diese Solidarität?

Es gibt gegenläufige Trends. Da sind die Menschen, die ältere Leute auf der Strasse beschimpfen, weil sie einkaufen gehen. Und da ist das Nachbarskind, das meiner Partnerin und mir Gutzi vor die Türe stellt. Ähnlich ist es in der Politik: Der Arbeitgeberverband warnt jetzt zwar, man dürfe das Soziale nicht ausbauen, wegen der Kosten. Gleichzeitig sagen mir einzelne Bankdirektoren, man müsse jetzt mehr auf die Menschen schauen, nicht nur aufs Geld, sonst verliere die Gesellschaft ihren Zusammenhalt. Ich bin nicht blauäugig, aber ich habe Hoffnung. Allerdings nicht wegen dem guten Willen einzelner Mächtiger. Wir müssen die Existenzsicherung gesellschaftlich verantworten.

Ich habe Sie immer als optimistischen Professor erlebt*. Sind Sie pessimistischer geworden?

Nein, ich will auch das Positive sehen und das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Es braucht allerdings viel, um den geldgetriebenen Trend zu kehren. Aber es gibt viele Menschen, die sich sozial verhalten, die versuchen, ein gutes Leben zu führen. Wenn es die nicht gäbe, würde unsere Gesellschaft gar nicht funktionieren. Schauen Sie sich die Ausgaben von Basel-Stadt im letzten Jahr an: Der Kanton gab rund 29’000 Menschen Prämienvergünstigungen, 11‘000 Personen Sozialhilfe, 16‘000 Menschen Ergänzungsleistungen, 11‘000 Personen Beihilfen. Insgesamt gab der Kanton über 780 Millionen Franken für Soziale Unterstützung aus. Das muss man wertschätzen.

*Ueli Mäder war zehn Jahre lang Professor für Soziologie an der Universität Basel. Dabei hat er unter anderem zu Armut geforscht. Andrea Fopp hat Soziologie studiert – auch bei Ueli Mäder.

In einer Serie widmet sich Bajour dem Thema Armut in Basel. Im ersten Teil hat Michael erzählt, wie er mit seiner Pension über die Runden kommt und seine verstorbene Frau vermisst. In Teil 2 sprach Thomas über seine schwindenden Reserven und als nächstes reden wir mit Melissa, 31, Mutter von zwei Mädchen und angehende Dentalassistentin.

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Davor: Chefredaktorin im Lokalmedium meines ❤️-ens (Bajour), TagesWoche (selig), Gesundheitstipp und Basler Zeitung

Kann: alles in Frage stellen

Kann nicht: es bleiben lassen

Liebt an Basel: Mit der Familie am Birsköpfli rumhängen und von rechts mit Reggaeton und von links mit Techno beschallt zu werden. Schnitzelbängg im SRF-Regionaljournal nachhören. In der Migros mit fremden Leuten quatschen. Das Bücherbrocki. Die Menschen, die von überall kommen.

Vermisst in Basel: Klartext, eine gepflegte Fluchkultur und Berge.

Interessensbindungen:

  • Vorstand Gönnerverein des Presserats
  • War während der Jugend mal für die JUSO im Churer Gemeindeparlament. Bin aber ausgetreten, als es mit dem Journalismus und mir ernst wurde.

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