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Schweizer NS-Opfer

Verhaftet, zu Tode gebracht, vergessen

Ein paar Flugblätter brachten die Basler Kommunistin Martha Schwartz in Nazideutschland ins Gefängnis. Obwohl sie schwer krank war, liessen die Schweizer Behörden die Unterstützung vermissen. Rekonstruktion einer antifaschistischen Aktion und ihrer tragischen Folgen.

09/20/22, 03:25 PM

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Von der Schweiz im Stich gelassen: Martha Schwartz in der Frauenstrafanstalt Gotteszell in Schwäbisch Gmünd.

Von der Schweiz im Stich gelassen: Martha Schwartz in der Frauenstrafanstalt Gotteszell in Schwäbisch Gmünd. (Foto: Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Staatsarchiv Ludwigsburg, E 356 i Bü 2375)

Es ist der 6. April 1938, nachmittags um vier. Die 46-jährige Martha Schwartz steigt in Basel in ein Tram der Nummer 6 und fährt Richtung deutsche Grenze. Am Zoll weist sie ­einen Tagesschein vor, der sie zum einmaligen Grenzübertritt ins Nazireich berechtigt, und fährt weiter in die Innenstadt von Lörrach. Sie trägt einen Mantel, schwere Halbschuhe, auf dem Kopf einen Hut und hält in der Hand eine schwarze Handtasche.

In Deutschland ist in diesen Tagen eine besondere Spannung in der Luft. Auf den 10. April ist eine Volks­abstimmung über den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich angesetzt. Bereits einen Monat zuvor hatten deutsche Truppen das östliche Nachbarland besetzt. Die Volksabstimmung soll nun die Geschlossenheit des neuen Grossdeutschlands demonstrieren. Nichts wird dem Zufall überlassen. Überall ist die Polizei in Alarmbereitschaft versetzt.

Martha Schwartz weiss das. In ihrer Handtasche befindet sich ein kleineres rotes Täschchen und da­rin Flugzettel, die mit verschiedenen Sprüchen für ein Nein am 10. April werben. Auf den einen steht «Arbeiter! Protestiert gegen die Hunger-Kriegs-Abenteuerpolitik Hitlers am 10.4. mit – NEIN –.»

In Lörrach bummelt sie durch die Stadt. Etwa um 18 Uhr kommt sie zum Werderplatz, der an diesem Tag mit Hakenkreuzfähnchen umrahmt ist. Auf der Ostseite des Platzes ist eine Rednertribüne aufgebaut, versehen mit Reichs­adler und Hakenkreuz. Hier soll eine Kundgebung der Nazis zur Volksabstimmung stattfinden. Jetzt ist der Platz aber noch leer.

Nur ein paar Tramstationen von Basel entfernt: Die Lörracher Innenstadt, 1938.

Nur ein paar Tramstationen von Basel entfernt: Die Lörracher Innenstadt, 1938. (Foto: Eugen Zürcher, Stadtarchiv Lörrach Zü.6.362.6)

Auf dem quadratischen Platz schlendert Schwartz umher, öffnet hin und wieder ihre Handtasche und versucht, unauffällig einige Zettel auf den Boden fallen zu lassen. Doch sie wird beobachtet. Cäcilie Hies, die den Platz von ihrer Wohnung an der Hunnenstrasse 5 überblicken kann, verfolgt seit geraumer Zeit, wie sich eine offenbar auffällig gut gekleidete Frau scheinbar ziellos auf dem Platz bewegt und Zettel auf den Boden fallen lässt. Als ihr Mann zufällig den Platz überquert, ruft sie ihm zu, er solle schauen, was auf diesen Zetteln steht.

«Geeignete Freunde»

In Lörrach sind die Nazis überall. Denunziationen durch Nachbarinnen und Arbeitskollegen, selbst innerhalb der Familie, sind weit verbreitet. Auch anderen Be­woh­ner:in­nen der Hunnenstrasse 5 ist Martha Schwartz aufgefallen. Sie verständigen sich mit dem Ehepaar Hies und suchen weitere Plätze in der Nähe nach Flugzetteln ab. Derweil macht sich Cäcilie Hies mit ihrem Mann an die Verfolgung von Martha Schwartz, die inzwischen den Platz verlassen hat. Es gelingt den beiden schnell, die Schweizer Kommunistin zu stellen. Mit Gewalt schleppen sie sie in die nahe gelegene Ortsgruppengeschäftsstelle der Nazipartei NSDAP, wo schon bald ein Kriminalsekretär erscheint und Schwartz verhaftet.

Martha Schwartz wird am ­22. August 1892 als eines von sieben Kindern in die Familie eines Schmieds in Basel geboren. Sie wächst bei ­ihren Grosseltern im ­basellandschaftlichen Hünenberg auf, wo sie schon als Kind auf dem Feld zu arbeiten oder am Webstuhl zu werken hat. Schlafen muss sie im Stall. Mit sechzehn Jahren zieht sie nach Basel, wo sie zuerst in einer Seidenfabrik und danach als Dienstmädchen und Küchen­angestellte arbeitet.

Mit zwanzig heiratet sie Josef Schwartz, einen Halbwaisen, dessen Mutter als Putzfrau und Wäscherin arbeitete, um die Familie durchzubringen. Josef musste wegen Geldsorgen der Mutter seine Lehre als Schweisser abbrechen und wurde Hilfsarbeiter. Später findet er eine Stelle bei den Basler Verkehrsbetrieben. Dort arbeitet er zuerst als Wagenwäscher, dann als Wagenführer.

Die Familie Schwartz wohnt seit knapp fünfzehn Jahren in einer Parterrewohnung an der Fröschgasse 15 und hat vier Kinder, von denen 1938 zwei noch zu Hause leben. Martha und Josef Schwartz sind Mitglieder der Kommunistischen Partei und haben nach Hitlers Machtübernahme in Deutschland immer wieder deutsche Ge­nos­s:in­nen beherbergt. So vermutlich auch den Antifaschisten Karl Wagner, der sich von Mai 1934 bis März 1935 in Basel unter dem Deck­namen «Fritz» versteckt hält. Die Kader der KPD, die seit Beginn der Nazidiktatur von 1933 in Deutschland verfolgt werden, bauen in den Nachbarländern sogenannte Abschnittsleitungen auf, so auch in der Schweiz. Hier stellen sie mit Unterstützung von Schweizer Freund:in­nen etwa Flugblätter und Zeitungen her und schleusen sie ins Deutsche Reich ein. Alles läuft im Geheimen ab, den Aus­län­der:in­nen ist die politische Betätigung verboten, und die KPS wird von der politischen Polizei der Schweiz streng überwacht.

«Hochverräterisches Unternehmen»: 
Titelseite der Anklageschrift gegen Martha Schwartz.

«Hochverräterisches Unternehmen»: Titelseite der Anklageschrift gegen Martha Schwartz. (Foto: Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Staatsarchiv Ludwigsburg, PL 524 i Bü 13)

Es ist also sehr wahrscheinlich, dass Martha Schwartz die Flugzettel von deutschen Ge­noss:in­nen entgegengenommen hat, um sie in Lörrach zu verteilen. Die deutschen Kom­munis­t:in­nen sehen die bevorstehende Volksabstimmung als Möglichkeit, die Deutschen vor der akuten Kriegsgefahr zu warnen und eine «Volksfront» gegen die Hitler-Diktatur aufzubauen, zu der auch Sozial­demokratinnen, Christen und Liberale gehören sollen. «Geeignete Freunde» aus dem benachbarten Ausland sollen in den nächsten Wochen dazu nach Deutschland fahren.

Allerdings hat es die KPD 1938 schwer: Die Organisation ist in Deutschland nahezu zerschlagen, die verbliebenen Zellen sind von Spitzeln durchsetzt. Auch der Ruf der Sowjetunion, die von der KPD als Arbeiterparadies dargestellt wird, ist durch den stalinistischen Terror gegen angebliche Volksfeinde mehr als angeschlagen. So hat die Kampagne gegen die Volksabstimmung nur eine bescheidene Reichweite. Viele Flugblätter und Handzettel werden vom Ausland per Post an zufällige Adressen geschickt. Ein illegaler Radiosender verbreitet die KPD-Parolen. Vereinzelt schreiben Ge­noss:in­nen in den Städten Parolen an Hauswände. Aktionen wie diejenige von Martha Schwartz sind selten. Die Abstimmung selber ist dann eine einzige Farce. Am Ende verkünden die Nazis, über 99 Prozent hätten zur deutsch-österreichischen Vereinigung Ja gesagt.

«Das Schlimmste zu befürchten»

Die Polizei in Lörrach verhört Martha Schwartz nach ihrer Festnahme immer wieder und will ihr ein Geständnis abringen. Schwartz jedoch streitet alles ab und sagt, sie habe die Zettel bloss vom Boden aufgehoben, gelesen und wieder fallen lassen. Am 13. April wird Haftbefehl gegen sie erlassen.

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Josef Schwartz, der durch die Basler Polizei von der Festnahme seiner Frau erfährt, reagiert schnell, als er vom Haftbefehl hört. Er schreibt am 14. April mit schwarzer Tinte einen Brief an Bundesrat Giuseppe Motta, den damaligen Aussenminister der Schweiz. Er macht ihn darin auf den Gesundheitszustand seiner Frau aufmerksam. Er habe beim Basler Polizeiinspektorat zwei Arztzeugnisse vorbeigebracht, die belegten, dass «das Schlimmste zu befürchten ist». Sie sei sehr krank: «im Herz, in den Nerven und in den Unterleibsorganen». Er bittet Motta, sich dafür einzusetzen, dass seine Frau freigelassen wird.

Dem Politischen Departement – so hiess das Aussen­ministerium damals – pressiert es nicht. Erst am 6. Mai lässt es den deutschen Botschafter in der Schweiz wissen, dass man Martha Schwartz doch in eine Heilanstalt verbringen möchte, falls sich die Behauptungen ihres Mannes bestätigen würden. Als mehr als ­einen Monat später die Antwort kommt, eine ärztliche Unter­suchung habe ergeben, dass Frau Schwartz sehr wohl haftfähig sei, verzichtet das Departement auf weitere Forderungen gegenüber den deutschen Behörden.

Antifaschistische Arbeit ist in Nazideutschland lebensgefährlich – 
wer ist ein Spitzel, wer ein Denunziant? Blick von der Lörracher 
Turmstrasse zum Kaufhaus Vortisch (heute Müllermarkt), 1938.

Antifaschistische Arbeit ist in Nazideutschland lebensgefährlich – wer ist ein Spitzel, wer ein Denunziant? Blick von der Lörracher Turmstrasse zum Kaufhaus Vortisch (heute Müllermarkt), 1938. (Foto: Eugen Zürcher, Stadtarchiv Lörrach Zü.19.56.20)

Auch ein konsularischer Besuch bei Martha Schwartz findet nicht statt. So beklagt der zuständige Konsulatsmitarbeiter am 16. Mai, dass ein Besuch in Lörrach wegen der langen Hin- und Rückreise von und nach Mannheim wohl mehr als einen ganzen Tag in Anspruch nähme. Das Aussenministerium zeigt dafür Verständnis. So beauftragt das Konsulat schliesslich Carl Isler, den Stadtmissionsinspektor aus dem deutschen Freiburg. Er sieht Martha Schwartz Anfang Juni. Doch hat der Mann weder von medizinischen Belangen noch von konsularischer Vertretung eine Ahnung. Stattdessen versucht er, «den Schlüssel zur Seele» von Martha Schwartz zu finden, sie «seelisch zu beeinflussen und zu stärken», wie er im Besuchsbericht an den Konsul schreibt. Das, so ist er überzeugt, habe ihr «wohlgetan».

Weniger begeistert von Islers Besuch ist Josef Schwartz, der Bundesrat Motta am 26. Juni schreibt: «Ich muss gegen eine solche Art der Hilfeleistung protestieren.» Ein vertrauenswürdiger Arzt, der seine Frau untersuche, sei viel wichtiger als geistiger Trost. In jedem Brief an ihn, der es durch die Zensur schaffe, würde seine Frau über ihre Gesundheit klagen. So zitiert er sie mit den Worten: «Meine Nerven und mein Herz wollen fast zerspringen, wenn mir was sollte passieren, so denkt nie etwas schlechtes von mir, ich war immer aufrichtig und nie verlogen, schicke mir endlich einen Arzt.»

Am 17. September findet in Lörrach der Prozess gegen Martha Schwartz statt. Die Öffentlichkeit ist nicht zugelassen, der angereiste Sohn muss draussen warten und darf nur die Urteilsverkündung mitverfolgen. Einzig der Schweizer Konsul aus Mannheim kann als Aussenstehender dem Prozess beiwohnen. Dafür muss er schon um 3.52 Uhr in der Früh von Mannheim losfahren, wie er in der Einleitung zu seinem Prozessbericht schreibt.

Im Prozess werden die Zeu­g:in­nen nochmals vernommen, so auch ein Kriminalsekretär aus Lörrach, der weiss, dass «Frau Schwartz in kommunistischen Kreisen in Basel als tüchtige Genossin» gelte. Nach ihrer Verhaftung sei innerhalb der KPS darüber gesprochen worden, dass eine «Genossin» in Lörrach in Haft sei. Woher die Lörracher Polizei diese Informationen hatte, bleibt unklar.

Der Staatsanwalt sagt in seinem Plädoyer, dass Martha Schwartz zwar über verschiedene Krankheiten klage, der Amtsarzt jedoch ihre Haftfähigkeit bejahe. Sie übertreibe und simuliere. Auch auf den Abgesandten des Schweizer Konsulats – Carl Isler – habe sie keinen kranken Eindruck gemacht. Es sei erwiesen, dass sie die Zettel verteilt habe, die «deutlich zu erkennen lassen», dass sie den Sturz von Adolf Hitler fordere. Weil das nur mit Gewalt gehe, sei «subjektiv und objektiv der Tatbestand der Vorbereitung zum Hochverrat gegeben».

Martha Schwartz wird zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, ohne Anrechnung der Untersuchungshaft. Sie stehe als Kommunistin auf der Seite der Staatsfeinde des Deutschen Reichs, erkennt das Gericht. Ihr Verhalten als Ausländerin zeuge von einer «unverschämten Frechheit». Sie habe ausgerechnet vor der Volksabstimmung, in «dieser Zeit der Hochstimmung des deutschen Volkes den zersetzenden Keim der kommunistischen Propaganda legen wollen».

Kein Gnadengesuch der Schweiz

Das Schweizer Aussenministerium bleibt auch nach dem Urteil passiv. Einen Gefangenen­austausch zu organisieren, wie das der Lörracher Anwalt von Martha Schwartz vorschlägt, lehnt es ab. Auch ein Gnadengesuch, wie das ein Basler Anwalt anregt, will die Behörde nicht stellen. Den Prozessbericht des Konsuls schickt sie allerdings an die Schweizerische Bundesanwaltschaft. Im Begleitschreiben dazu heisst es: «In der Verhandlung war mehrfach von einer kommunistischen Betätigung der Frau Schwartz in Basel die Rede, sodass wir annehmen, dass für Sie der Fall von Interesse ist.»

Martha Schwartz tritt ihre Strafe am 4. Oktober in der Strafanstalt Gotteszell in Schwäbisch Gmünd bei Stuttgart an. Ihr Mann Josef schreibt ihr jeden Monat. In seinem ersten Brief nennt er sie seine «innigste Geliebte». Er schreibt, dass er wieder Militärdienst leisten müsse. Der Bundesrat hatte wegen der Kriegsgefahr beschlossen, die Militärdienstpflicht auf ältere Jahrgänge auszuweiten: «Ich werde mit Freuden einrücken, wenn es heisst, unser Land zu beschützen.» Der Brief endet mit dem Satz: «Ich hoffe, dass Du dich nicht aufregst, sondern immer denkst, es warten deine Kinder sowie Papa auf Dich.» Dazu bekommt sie Postkarten, so auch von ihrer jüngsten Tochter Gerta oder ihrem Sohn Max, der von einer Velotour im St. Galler Oberland berichtet. Die Briefe von Martha Schwartz an ihre Familie sind verschollen.

Am 1. April 1939, ein halbes Jahr nach der Einlieferung von Martha Schwartz in die Strafanstalt, schreibt das Aussenministerium der Schweiz an Josef Schwartz, dass es vorerst kein Gnadengesuch für seine Frau stellen wolle, es sei noch zu früh. Während die Welt immer schneller auf den Zweiten Weltkrieg zurast, beginnt am 6. Mai in Zürich die Landesausstellung. Auch die Familie Schwartz reist nach Zürich und schickt von dort Postkarten an die Mutter ins Gefängnis.

Im Sommer 1939 spitzt sich die Situation zu. Es geht Schwartz gesundheitlich immer schlechter. Am 5. August wird sie wegen «Ungehorsam» drei Tage in eine Arrestzelle gesperrt. Hat sie gegen ihre Haftbedingungen protestiert? Am 20. August schreibt sie ihrem Mann, wie dieser danach Bundesrat Motta berichtet: «Die ganze Woche habe ich Kopfweh, dass ich nachts im Bett sitzen muss, kann den Kopf nicht auf die Kissen legen.» Schwartz will, dass der Bundesrat endlich ein Gnadengesuch stellt, doch dieser zögert weiter.

Doch für Josef Schwartz wird es jetzt noch schwieriger, Druck auf die Schweizer Behörden aufzubauen. Denn die politischen Ereignisse überstürzen sich. Am 1. September überfallen deutsche Truppen Polen, der Zweite Weltkrieg beginnt. Deutschland befindet sich im Kriegszustand, die Schweiz ordnet am 2. September die allgemeine Mobilmachung an. Josef Schwartz hört nichts mehr von seiner Frau. Am 5. Oktober 1939 fordert er von Bundesrat Motta in einem Brief, dass man sich endlich für sie einsetzen soll: «Ist sie so krank, dass sie nicht mehr schreiben kann?»

Tod in der Strafanstalt

Endlich wird nun der Generalkonsul in Mannheim aktiv und will Martha Schwartz erstmals in ihrer Zelle besuchen. Doch es ist zu spät. Martha Schwartz ist am 6. Oktober von Gotteszell in die Strafanstalt Stadelheim in München verlegt worden. Die Gründe bleiben unklar. Weder die Schweizer Behörden noch die Familie werden darüber rechtzeitig informiert. Doch auch in Stadelheim bleibt sie nur wenige Tage. Offenbar verweigert sie die Nahrung und wird «wegen Schizophrenie» in die Psychiatrische Universitätsklinik in München verlegt. Das Schweizer Konsulat in München erfährt von der Verlegung und kann mit dem behandelnden Arzt reden. Dieser spricht von einem «Unterleibsgeschwür, das Rückwirkung auf den Blutkreislauf und den Geisteszustand» habe. Der Zustand von Martha Schwartz habe sich seit der Verlegung gebessert, doch könne «eine Sprech­erlaubnis noch nicht erteilt werden».

Am 30. Oktober stirbt Martha Schwartz. Die offizielle Todesursache lautet «Lungen­entzündung mit folgender Kreislaufschwäche».

Was mit Schwartz in der Münchner Klinik geschah, bleibt unklar. Eine Obduktion fand nicht statt, die Leiche wurde nach einer Woche eingeäschert. Die Angaben der Ärzte sind widersprüchlich. Der verwehrte Kontakt mit Angehörigen und dem Konsul erscheint dubios. Eine politische Gefangene zu sein, der eine psychische Erkrankung diagnostiziert wird, ist 1939 in Nazi­deutschland lebensgefährlich. Fast zeitgleich mit dem Überfall auf Polen hatte Hitler die Ermächtigung für ein Vernichtungsprogramm in Gang gesetzt. «Unwertem Leben» sollen Ärzte den «Gnadentod» geben. Im Visier standen unter anderem Menschen mit angeblicher Schizophrenie, speziell wenn sie als «kriminelle Geisteskranke» gelten oder Aus­län­der:in­nen waren.

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Nach dem Tod von Martha Schwartz handelt das Aussen­departement für einmal sehr schnell: Am 6. November schreibt das Ministerium Josef Schwartz, er solle mit beigelegtem Einzahlungsschein 400 Franken ans eidgenössische Kassen- und Rechnungswesen überweisen, damit der Transport der Urne und weitere Gebühren in Deutschland bezahlt werden können.

Josef Schwartz verdient bei den Basler Verkehrsbetrieben rund 400 Franken pro Monat. Die Familie bezog in früheren Jahren bei der Fürsorge jeweils kleinere Geldbeträge, die sie in den folgenden Jahren wieder zurückzuzahlen hatte. Wegen seiner vielen Schulden wird Josef Schwartz jedes Jahr mehrmals betrieben. Allein bei seinem Vermieter hat er Ausstände von mehreren Hundert Franken. Die monatliche Miete von 80 Franken wird ihm deshalb seit mehreren Jahren direkt vom Lohn abgezogen, dazu die Zinsen für die Schulden. Seit seine Frau in Haft ist, haben sich seine finanziellen Verhältnisse weiter verschlechtert. Und nun soll er aufgrund des Todes seiner Ehefrau auf einen Schlag 400 Franken zahlen? Josef Schwartz schreibt am 8. November einen weiteren Brief an Bundesrat Motta und bittet darum, den Betrag wenigstens in Raten von 50 Franken überweisen zu können. Eine Antwort liegt nicht vor. Doch am 17. November überweist er per Einzahlungsschein 150 Franken. Offenbar hat er sich in der Zwischenzeit mit den Behörden auf diesen Betrag geeinigt.

Der Tod von Martha Schwartz beschäftigt auch die Schweizer Presse: So bringt die KPS-Zeitung «Freiheit» am 9. November einen Nachruf und titelt: «Eine Basler Arbeiterfrau in einem deutschen Gefängnis zugrunde gerichtet». Die Presseartikel beunruhigen das Aussendepartement, sie seien «der Beschleunigung der Angelegenheit gerade auch nicht dienlich», schreibt der Chef der Abteilung für Auswärtiges an Josef Schwartz Ende 1939, nachdem dieser sich beschwert hatte, dass die Urne immer noch nicht in Basel angekommen sei.

Im Januar 1940 kann die Asche von Martha Schwartz schliesslich in Basel beigesetzt werden. Die Versandkosten der Urne haben nur gerade 6 Reichsmark betragen, wer sie letztlich bezahlt hat, ist unklar. Am 7. Februar teilt das Aussendepartement Josef Schwartz deshalb mit, dass es ihm die 150 Franken zurückzahlen werde – abzüglich 12.40 Franken Bearbeitungsgebühr sowie Porto- und Telefonspesen des Münchner Konsulats.

Der Tod seiner Ehefrau wirft Josef Schwartz völlig aus der Bahn. Wegen seiner Geldsorgen schreibt er einer Freundin in Züric­h schon kurz nach der Beerdigung Briefe, bittet darin um Geld und tönt an, sie heiraten zu wollen. Innerhalb von vier Monaten erhält er so 675 Franken zugeschickt. Als er dann aber eine ander­e Frau heiratet, wird er von der Frau aus Zürich wegen Heiratsschwindel angezeigt und zu sechs Monaten Gefängnis verurteil­t.

Nach seiner Haftentlassung im Frühling 1942 geht es für Josef Schwartz weiter bergab. Seine Stelle bei den Verkehrsbetrieben hat er verloren, die Schulden werden immer grösser. Er und seine neue Ehefrau verfallen dem Alkohol und streiten immer wieder so heftig, dass sich Polizei und Fürsorgebehörde einschalten. In dieser Zeit wohnt auch die nun dreizehnjährige Tochter Gerta mit ihrem Vater und ihrer Stiefmutter zusammen. Nach dem Tod ihrer Mutter muss sie also eine weitere traumatisierende Zeit durch­leben. Schliesslich lässt sich Josef Schwartz scheiden und zieht nach Zürich. Er heiratet erneut, stirbt aber bereits kurze Zeit später, am 17. April 1944, offenbar völlig verwahrlost.

Kein Denkmal

Der Fall von Martha Schwartz steht nicht allein. Hunderte Schweizerinnen und Schweizer wurden während der Nazizeit aus politischen Gründen oder weil sie Juden und Jüdinnen waren in Gefängnissen und Konzentrationslagern eingesperrt. In der Regel setzten sich die Schweizer Behörden nur «routinemässig» für die Schweizer Gefangenen ein, schreiben die Autoren des Buchs «Die Schweizer KZ-Häftlinge» von 2019. Ausnahmen wurden nur gemacht, wenn die Häftlinge mit Leuten aus politisch oder religiös führenden Kreisen in der Schweiz verwandt oder beruflich vernetzt waren.

Für die Schweizer Opfer der NS-Diktatur gibt es hierzulande kein Denkmal. Es ist, als ob es sie nie gegeben hätte (immerhin wird inzwischen an der Universität Fribourg das Verhalten der Schweizer Behörden gegenüber den Opfern der NS-Gewaltherrschaft erforscht). Die von der WOZ aufgespürten Grosskinder des Ehepaars Schwartz wussten nichts von ihrer Grossmutter oder hatten nur andeutungsweise von der Leidensgeschichte erfahren. Zwar zahlte Deutschland auf Betreiben der Schweizer Behörden in den fünfziger Jahren Entschädigungen, doch sie blieben bescheiden. Die Nachkommen des Ehepaars Schwartz erhielten 1956 insgesamt 20 000 Franken, Gerta Schwartz bekam davon knapp 4000 Franken.

Die Schweizer Behörden haben sich bei ihr und ihren Geschwistern nie für die damalige Untätigkeit entschuldigt. Heute ist es zu spät. Inzwischen sind alle gestorben.

Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ. Dieser Fonds unterstützt Recherchen und Reportagen, die die finanziellen Möglichkeiten der WOZ übersteigen. Er speist sich aus Spenden der WOZ-Leser:innen.

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