«Die Bulimie war mein bestgehütetes Geheimnis»
Fast 20 Jahre lang litt Andrea Ammann an Bulimie und fand schliesslich einen Weg aus der Krankheit. Heute begleitet sie betroffene Frauen auf ihrem Pfad zurück in ein selbstbestimmtes Leben.
«Ich war viele Jahre meines Lebens gefangen in der Bulimie», erzählt Andrea Ammann. Nach aussen habe sie ein «perfektes Leben» geführt, während sie innerlich nach Liebe, Anerkennung, Ruhe und Sicherheit gesucht habe. Heute sucht sie das Gespräch und steht neben dem Mentoring auch für Prävention, Aufklärung und Enttabuisierung zu dieser äusserst belastenden Essstörung zur Verfügung.
Das Thema ist für sie eine Herzensangelegenheit, weil die Krankheit viele Jahre ihres Lebens beherrscht hat – ohne dass ihre engsten Mitmenschen davon wussten.
So wie Ammann ergeht es etwa 2,4 Prozent aller Frauen in der Schweiz, die an Bulimie leiden – Tendenz steigend. Aktuell lenken in Basel die Aktionstage Psychische Gesundheit den Blick auf Erkrankungen, über die oftmals kaum gesprochen wird.
Die Basler Aktionstage Psychische Gesundheit laufen noch bis zum 30. Oktober. Die Veranstaltungsreihe bietet Interessierten, Angehörigen, Betroffenen und Fachpersonen eine interaktive Plattform für einen offenen Austausch. Mit Hilfe der informativen Veranstaltungen rund um die psychische Gesundheit und psychische Erkrankungen können Vorurteile abgebaut, Tabus gebrochen und Brücken geschlagen werden. Ziel ist es, gemeinsam Wege zu entdecken, wie die psychische Widerstandsfähigkeit verbessert werden kann, und eine Gesellschaft zu schaffen, in der sich niemand mehr scheuen muss, offen über seine Gefühle zu sprechen und bei Bedarf mutig Hilfe zu suchen, statt sich zu isolieren.
Aufgewachsen ist Andrea Ammann gemeinsam mit ihren zwei Brüdern am Untersee. Nach aussen hin schien ihre Familie intakt, sie sagt aber heute: «Meine Eltern waren mit sich selbst beschäftigt und haben sich, so gut sie konnten, um mich gekümmert. Ich wurde früh selbstständig, war gut in der Schule und habe viel Sport gemacht.» Die Verbindung zur Familie sei alles andere als innig gewesen und so habe Ammann ganz alleine dagestanden, als sie mit 16 Jahren in einer dunklen Unterführung abends auf dem Nachhauseweg vergewaltigt wurde.
Es habe ihr den Boden unter den Füssen weggerissen, diese Form der sexuellen Gewalt zu erleben, sagt sie rückblickend: «Ich hatte keine Vertrauensperson in meinem Leben, zu der ich hätte gehen können. Ich musste alleine klarkommen und habe für mich die Lösung kreiert, dass ich an allem schuld bin», sagt sie rückblickend.
«Ich habe alle an der Nase herumgeführt, indem ich immer mehr gegessen und mich anschliessend übergeben habe.»Andrea Ammann, Mentorin für Frauen mit Bulimie
Von dem Zeitpunkt an hat Andrea Ammann praktisch nichts mehr gegessen. Innerhalb von drei Monaten hat sie so viel Gewicht verloren, dass ihre Eltern sie zu einer Ärztin und einem Psychologen geschickt haben – allein. Zu beiden konnte sie kein Vertrauen fassen. «Ich habe damals gecheckt: Um möglichst schnell aus dieser Geschichte rauszukommen, muss ich wieder zunehmen. Also habe ich angefangen, wieder mehr zu essen.»
Ihr Umfeld war beruhigt, das «Problem» schien überwunden, niemand stellte Fragen. «Ich habe alle an der Nase herumgeführt, indem ich immer mehr gegessen und mich anschliessend übergeben habe. Ich wollte auf keinen Fall zunehmen und weiblich wirken.» Damals habe sie gar nicht gewusst, dass es eine Essstörung namens Bulimie gibt. Sie habe sich einfach nach dem Essen übergeben und gedacht: «Wow, ich habe eine absolut geniale Lösung gefunden.»
Ammann hat über viele Jahre mit den Essattacken und dem Erbrechen gelebt, ohne dass die Menschen, die ihr nahestanden, davon wussten. Sie sagt: «Fast 20 Jahre lang war die Bulimie meine treuste Begleiterin und mein bestgehütetes Geheimnis.» Jeder Tag begann und endete mit der Krankheit. Sie erzählt: «90 Prozent meiner Gedanken drehten sich nur ums Essen, ums Erbrechen, ums Verstecken.»
Ihr Alltag sei minutiös durchgeplant gewesen, denn: «Ich musste wissen, wo ich einkaufen würde, wo ich heimlich alles in mich hineinstopfen und wo ich mich unbemerkt wieder davon befreien konnte. Niemand durfte wissen, wie tief mich diese Sucht beherrschte oder wie massiv gefangen ich in dieser Abhängigkeit war.» Innerlich sei sie von diesen Gedanken rund um die Sucht vollkommen gefangen gewesen gewesen: «Es herrschte nie Ruhe in meinem Kopf, obwohl ich neben der Essstörung 100 Prozent gearbeitet und meinen Alltag gemanagt habe.»
«Mir wurde klar: Entweder ich beende jetzt mein Leben oder ich verändere es.»Andrea Ammann, Mentorin für Frauen mit Bulimie
Heute lebt Andrea Ammann gesund mit ihrer jüngsten der drei Töchter zusammen, die grossen zwei sind bereits ausgezogen. Sie ist dankbar, dass sie trotz ihrer Krankheit überhaupt schwanger geworden ist. «Ich habe meinen Körper über all die Jahre ständig missbraucht, das ist ein Fakt. Teilweise habe ich an einem Tag so viel gegessen und erbrochen wie eine fünfköpfige Familie in einer Woche.»
Ihre ersten beiden Töchter sind gesund zur Welt gekommen, obgleich Ammann an Bulimie litt, aber sie hat in der Zeit der Schwangerschaften mehr auf ihren Körper Acht gegeben und die Krankheit etwas besser im Griff gehabt. Dann aber – mit zwei kleinen Kindern – geriet ihr Leben aus dem Ruder. Durch ihre Sucht und ihr zwanghaftes Essen und Erbrechen sei sie am absoluten Limit angekommen, erinnert sich Ammann.
Wenn das Leben auf dem Kopf steht
«Mein Leben stand Kopf. Mein Leben mit der Bulimie war komplett durchgeplant und kontrolliert. Mit Kindern geht das nicht und ich hatte permanent Angst, dass ich auffliege. Es gelang mir einfach nicht mehr, mit dem Geheimnis, das ich jahrelang in mir trug, zu leben.» Im Mai 2004 sei sie an den Punkt gekommen, an dem sie sich eingestanden hat, dass sie so nicht mehr weitermachen kann. «Mir wurde klar: Entweder ich beende jetzt mein Leben oder ich verändere es.»
Andrea Ammann ist sich sicher: Ohne ihre beiden Töchter hätte sie die Veränderung nicht geschafft. In ihrer Verzweiflung besuchte sie einen Therapeuten, zu dem sie Vertrauen aufbaute. «Ihm habe ich zum ersten Mal von der Vergewaltigung erzählt und meine eigene Geschichte aufgearbeitet. Vorher habe ich alles verdrängt, meine Gefühle ausgekotzt und gar nichts mehr gefühlt.»
Durch die Therapie hat Ammann wieder angefangen, sich selbst und ihre Gefühle wahrzunehmen. Es ist ihr gelungen, Schuldgefühle abzulegen und an sich zu glauben. Nach einigen Monaten hat sie es geschafft, die Bulimie hinter sich zu lassen. «Ich habe wieder angefangen, einfach zu leben, zu fühlen und Dinge auszuprobieren. Und ich merkte: Je weniger ich denke und kontrolliere, umso leichter wird mein Leben.»
Nach ihrer Heilung hat Ammann es sich zur Aufgabe gemacht, anderen Bulimie-Betroffenen zu helfen. Sie arbeitet als Mentorin für Frauen mit Bulimie und hat eine Anlaufstelle für Betroffene und Angehörige gegründet. Seit etwa sieben Jahren leitet sie wöchentlich zwischen vier und elf Online-Gruppengespräche. Ihr Ziel ist es, den Frauen Achtsamkeit für sich selbst zu vermitteln, damit sie in der Lage sind, selbst Sorge für sich und ihren Körper zu tragen. Sie ist überzeugt: «Das ist das A und O.»