Nach sechs Monaten auf Lesbos: Wie abnormal normal es hier ist
Fanny Oppler hat auf Griechenland sechs Monate in einem Hilfsprojekt für geflüchtete Menschen gearbeitet. Jetzt ist sie zurück in Basel und fragt sich: Komme ich hier jemals wieder an?
Seit einiger Zeit frage ich mich, was das sein soll: «Normalität». Was ist normal? Und wenn Normalität bedeuten soll, dass etwas in «geordneten Bahnen» verläuft, was akzeptiert unsere Gesellschaft dann als Normalzustand?
Vor neun Monaten habe ich meinen Job bei einem Basler Grafikstudio auf Eis gelegt und bin nach Lesbos gefahren, um zu helfen. Es war nicht das erste Mal, dass ich mich in der Flüchtlingshilfe engagierte, aber es sollte der längste Aufenthalt auf der griechischen Insel ganz im Osten, direkt vor der türkischen Küste, werden.
September bis März. Griechenland liegt zwar im europäischen Süden, aber kalt ist es in dieser Jahreszeit auch dort. Die Temperatur, so viel vorneweg, trägt aber nur einen Teil zur allesdurchdringenden Kälte bei, die dort herrscht.
In unserem Gemeinschaftszentrum One Happy Family lerne ich im Januar die 11-jährige Samira kennen. Sie strahlt mich an, hüpft um meinen Tisch und fängt an, mich über meine Familie auszufragen. Ganz komisch findet sie, dass ich nicht verheiratet bin.
Nach Moria kommt das schlechtere Moria
Ein kleiner Knirps klammert sich plötzlich an Samiras Bein und kichert, während er ihr den Pulli langzieht. Sie erklärt mir, dass sie mit ihrer Mutter ins Gemeinschaftszentrum gekommen ist, um Kleider auszusuchen, da letzte Nacht in ihr Zelt eingebrochen wurde und fast alles, was sie an Hab und Gut hatten, verschwand.
Samira hat sechs Geschwister, sie ist die Älteste, ihr kleinster Bruder ist gerade mal ein paar Monate alt. Sie erklärt mir in erstaunlich gutem Englisch, dass sie das abgebrannte Camp Moria gut fand. Das neue Camp aber, das in kurzer Zeit auf einem ehemaligen Schiessplatz direkt an der Küste aufgebaut wurde, das sei ganz schlimm.
Mein Herz bricht, und ich frage sie, wieso Moria denn gut war. «Moria, school, good». Dort hat sie ihr Englisch erlernt, sagt sie.
Was muss alles falsch gelaufen sein, wenn eine 11-Jährige das Camp Moria, das schon vor dem Brand als Symbol für die gescheiterte europäische Asylpolitik galt, im Vergleich zum neuen Camp als «gut» bezeichnet?
Das Erlebnis ist eines von vielen, das sich mir eingebrannt hat und mir, zurück in der Schweiz, immer wieder in Erinnerung kommt.
Überlebensstrategie: Eine Beschäftigung, etwas zum dran festhalten
Ein anderes Erlebnis kommt zum Beispiel dann auf, wenn ich mich mit dem Velo bei kaltem Regen und Wind über die Johanniterbrücke kämpfe. Dann erinnere ich mich an den Abend kurz vor Sonnenuntergang auf Lesbos, als ich nochmal zum Camp gefahren bin, um einem unserer Community Volunteers, Houssain, ein Wifi-Hotspot-Gerät zu bringen. Die Windböen waren an diesem Abend so heftig, dass mir der Wind mein Handy aus der Hand riss, kurz bevor ich das Tor mit dem vielen Sicherheitspersonal erreichte. Keinen Meter darf ich ins Camp hinein.
Houssain kam zum Tor mit breitestem Grinsen im Gesicht, er war wie immer gut drauf und erzählte mir in dieser aufgewühlten Stimmung von den vielen coolen Videoprojekten, die er da drinnen umsetzen wollte. Hinter ihm peitschte der Wind die Planen der Zelte umher, die von dünnen Seilen und Steinen notdürftig am Boden gehalten wurden. Einige Zelte waren schon zerstört. Die Wellen schlugen teilweise bis über die Strasse und alles war nass, obwohl es nicht einmal regnete.
Ich hatte Mühe auch nur eine Minute dort am Gitter zwischen Wasser, Wind und Polizei zu stehen, und frisch-fröhlich über Videos zu diskutieren. Houssain schien allerdings den Wind gar nicht zu hören und die Kälte gar nicht zu spüren.
«Alles hat eine Ordnung hier und die kleinsten Dinge werden ausgiebig diskutiert, aber grössere, ‹globale› Themen werden unter den Teppich gekehrt.»
Mir wurde einmal mehr bewusst, dass es genau das ist, was den Menschen in den Camps hilft, mit der Situation umzugehen: Eine Aufgabe zu haben, einen Sinn.
Viele meiner Freund*innen im Camp finden keine Möglichkeit, so einer Aufgabe nachzugehen oder eine Passion auszuleben. Speziell damals, als das Camp im kompletten Lockdown war, wurden sie noch extremer isoliert, sodass sie in tiefe Depressionen fielen. Manche versuchten, sich das Leben zu nehmen.
Zurück in Basel: Erstmal das Körbchen richten
Es wird für mich eine absurde Zeit, die Normalität in der Schweiz wieder als eine Normalität zu akzeptieren. Mit dem Wissen, dass auf den griechischen Inseln gleichzeitig eine komplett inakzeptable «Normalität» herrscht.
Grundsätzlich ist es diese Ordnung hier überall, sie steckt in Gesten, Ritualen, Alltagshandlungen. Dass eine Kundin in der Migros nach dem Aufs-Band-Legen ihrer Einkäufe noch kurz ein Körbchen von der Nebenkasse, wo es ein anderer Kunde vergessen hat, in die Hand nimmt und auf den Körbchenturm platziert. Dass man Alu von Karton, ja sogar Plastiksorten trennt. Dass man um Punkt eigentlich schon zu spät ist. Dass man eine Zentralheizung hat. Dass man innerhalb von einem Tag jegliche Dokumente beantragen und, wenn man Glück hat, auch erhalten kann. Aber auch, dass man fürs WC am Bahnhof zwei Stutz zahlt und dafür das WC-Papier in die Schüssel schmeissen darf. In Griechenland verstopft dann zuverlässig die Leitung. Dass man sich über Vorsorge sehr viele Gedanken machen soll.
Alles hat eine Ordnung hier und die kleinsten Dinge werden ausgiebig diskutiert, aber grössere, vermeintlich ferne, irgendwie «globale» Themen werden aus meiner Sicht unter den Teppich gekehrt mit der Einstellung «sehen wir nicht, gibt's nicht».
Die Kameras sind schon weitergezogen
Über ein Jahr ist es nun her, seit dem Osterapell «Evakuieren JETZT», den unser Hilfswerk One Happy Familie mitinitiiert hat. Der Aufruf wurde von vielen unterzeichnet und blieb dennoch ein frommer Wunsch. Denn vom «jetzt» ist nicht viel übriggeblieben und es gab auch kein «später». Ich verliere langsam die Hoffnung und habe aufgehört zu hoffen, «morgen» werde etwas passieren.
Das Thema Geflüchtete ums Mittelmeer und speziell auf den griechischen Inseln gehört nun zur Normalität. Es ist also normal, dass Familien in Europa jahrelang in unmenschlichen Camps hausen, ihre traumatisierten Kinder von Ratten gebissen werden, keinen Zugang zu fliessend Wasser haben, misshandelt werden und komplett abhängig vom politischen Willen in diesem Missstand gehalten werden.
«Der Zynismus der Schweizer Asylpolitik und Verwaltung ist aus der Ferne und aus der Mitte des Elends nur schwer zu ertragen.»
Falls mal ein Lager mit 13'000 Bewohner*innen abbrennt, gibt es viel Rauch, die Kameras werden zu den Köpfen da oben gerichtet. Jeder Kopf muss sich äussern. «No more Moria» wird bestimmt von den Notizen oder Telepromptern abgelesen und einen Monat später steht ein neues Camp, aber die Kameras sind schon weitergezogen.
Irgendwer wird's richten
Nach sechs Monaten auf Lesbos und vielen Einsätzen in den letzten vier Jahren, frustriert mich zudem, dass es nun vor allem die Freiwilligen sind, die von überall in vulnerable Krisensituation wie Lesbos gehen und jahrelang ihr Möglichstes tun, weil sie diese Unmenschlichkeit nicht akzeptieren. Sie haben das dringende Gefühl, handeln zu müssen, weil von den eigentlich verantwortlichen Köpfen nichts unternommen wird. Ja, es kommt ihnen vielleicht gerade noch recht, dass sich «on the ground» ein paar Freiwillige um die Mindestversorgung kümmern.
Zurück in der Schweiz, hier spricht man mit Blick auf die Coronamassnahmen von einer «neuen Normalität». Aber, nochmal, was ist schon normal? Ich höre in den Medien paranoide Stimmen, die sich durch die Hygienemaske in ihrer Freiheit eingeschränkt fühlen und absurde Vergleiche zum 2. Weltkrieg ziehen. Währenddessen sie in Altdorf oder Liestal auf der Strasse spazieren dürfen, ohne dass die Polizei sie ohne Angabe von Gründen direkt aufs Revier schleppt und eine Busse verteilt in der Höhe eines Drittel ihres Jahreseinkommens. Auf Lesbos kommt sowas vor.
Die Achtung nicht verlieren
Ich möchte an dieser Stelle meine Hochachtung aussprechen an alle, die immer noch für grundsätzliche Menschenrechte in Europa kämpfen. An alle Politiker*innen, die immer noch das Redner*innenpult erklimmen, obwohl sie bei ihrem letzten Versuch, etwas zu bewegen, ignoriert wurden. An alle Freiwilligen, die diese Normalität nicht akzeptieren und täglich ihr Möglichstes tun, obwohl sie Gefahr laufen, kriminalisiert zu werden. An alle grosszügigen Spender*innen, die Projekte unterstützen, obwohl sie wissen, dass auch die im grossen Ganzen nur ein Tropfen auf den heissen Stein sind. An alle Medienschaffenden, die sich noch immer bemühen, die Missstände aufzuzeigen, obwohl das Publikum es gleich danach wieder vergisst. Merci! Wer weiss, vielleicht kommt die Menschlichkeit ja irgendwann zurück in unsere Politik.
Das wäre dann eine Normalität, mit der ich mich auch wieder anfreunden könnte.
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