Männer, die ins Blaue schiessen

Am Liestaler Banntag müssen die Ohrenstöpsel sitzen, denn es wird schon morgens ordentlich Schiesspulver verballert. Unser Autor David Rutschmann durfte als Auswärtiger (Städter! Deutscher!) beim Baselbieter Brauchtum mitwandern. Reportage eines Tages unter Herren.

Banntag Liestal
Eine praktische Art und Weise, Wanderstock und Hut zu lagern. (Bild: David Rutschmann)

Vielleicht bin ich zu schreckhaft für den Banntag. Jedes Mal, wenn wieder ein Schuss an meinem Kopf vorbeirauscht, zucke ich beim Knall zusammen. Ab wann hat man eigentlich ein Knalltrauma? Ich drücke die Ohrenstöpsel nochmal fester ins Ohr und schaue zu, wie die Gewehre Rauch in die Liestaler Atmosphäre blubbern. Habe ich schon erwähnt, dass es erst kurz nach 7 Uhr morgens ist?

Wer an den Liestaler Banntag eingeladen wird, der hat gefälligst hinzugehen. 618 Jahre gibt es diese Tradition schon und eigentlich ist sie nur Liestalern (ungegendert, dazu später mehr) vorbehalten – beziehungsweise sind die Liestaler Männer eigentlich sogar dazu verpflichtet, am Brauchtum teilzunehmen. Also: Wenn man schonmal angefragt wird, sich einer Rotte anzuschliessen, dann schliesst man sich der Rotte an. Auch wenn man nicht recht weiss, was eine Rotte ist – und dabei eher an Wildschweine denkt.

Rotten werden die vier Gruppen genannt, die am Montag vor Auffahrt einen Teil der Liestaler Gemeindegrenzen abwandern – jede Gruppe einen Viertel. Anders würde es gar nicht gehen, denn die Baselbieter Kantonshauptstadt hat rund 80 Kilometer Grenze. «Wir nehmen es gemächlich. Mein Stiefsohn sagt, dass wir ja mehr Pausen machen als wirklich zu wandern», sagt Philipp Schopfer und lacht. Er hat mich eingeladen.

Schiesszone Liestal Banntag
Achtung! Hier wird geschossen. (Bild: David Rutschmann)

Schopfer ist zwar auch kein Liestaler, er ist Basler – man kennt ihn vom Dorfverein Pro Kleinhüningen und als SVP-Politiker. Aber weil er vor vielen Jahren einmal den prächtig geschnitzten Wanderstock eines Liestalers an der Joggeli-Garderobe entgegennahm und komplimentierte, bekam er daraufhin selbst eine Einladung, als Gast am Banntag teilzunehmen – so erzählt er mir es, als wir am frühen Montagmorgen mit dem Zug nach Liestal fahren. Schon im darauffolgenden Jahr wurde er engagiert, künftig die Kinderbetreuung zu übernehmen. In diesem Jahr sind 25 Kinder quasi als «Vortrab» unserer Rotte 1 dabei – der «besten» Rotte, wie mir immer wieder versichert wird.

Der Wanderstock ist eines der Erkennungsmerkmale eines Banntäglers. Warum, erfahre ich erst, als wir nach dem Gewehr-Konzert aus dem Liestaler Stedtli abmarschieren: Alle haben den Wanderstock lässig auf der rechten Schultern ruhend, als würde man ein Gewehr präsentieren. Ein bisschen sieht es aus, als würden die Banntägler in den Kampf ziehen: Vor den Stockmarschierenden ziehen Fahnenträger und Marschmusikanten mit Piccolo und Trommler voran, an den Strassenrändern stehen die Liestaler Frauen und winken – SVP-Nationalrätin Sandra Sollberger filmt aus dem Fenster des Regierungsgebäudes, wie die Rotten vorbeiziehen.

Gut, mein Wanderstock ist leider kein prächtiger Holzstecken mit eingearbeiteten Blaggedden (ich bin nicht auf die Idee gekommen, mir so einen in der Brocki zu besorgen). Nein, ich habe mir einen Gehstock aus Plastik von meinen Grosseltern geliehen. Schräg angeschaut werde ich wegen des Stocks nicht – anscheinend misst man einen Mann hier nicht an seinem Stock. Auch an meinem Hut – ein weiteres unverzichtliches Banntags-Accessoire – ist recht behälfsmässig mit Schnur ein «Hutband» montiert, damit man damit einen Bund Blumen befestigen kann. Traditionell sind das Flieder, Tulpen und Bächligras, man sieht aber unterschiedliche Kombinationen.

David Rutschmann Banntag Liestal
Das «Gmies» gibt einen guten Schweif ab für den Hut. (Bild: David Rutschmann)

Mein Blumenstrauss hängt mir wegen des unnachgiebigen Regens schon senkrecht von der Hutkrempe, als wir nach dem Marsch die Strassen der Wohnquartiere entlang unasphaltiertes Terrain betreten. Jetzt kann man den Gehstock richtig gebrauchen. Selbst als es hier schräg bergauf geht, wird zum Teil noch getrommelt und gepfiffen. Die Musik-Gruppen sind bunt zusammengewürfelt und üben im Vorfeld nicht, sagt Christoph. Er ist Piccolospieler und seit 1972 Banntägler – mittlerweile lebt er in Lausanne und kommt trotzdem noch so gut wie jedes Jahr nach Liestal, um beim Banntag mitzumachen.

Eine gewisse Faszination muss dieses Brauchtum also haben. Ob es das gemeinsame Singen brauchtümlicher Lieder ist? Das Schiessen (ich erschrecke immer noch)? Oder die Freude, einfach mal einen Anlass «unter Männern» zu haben? Wenn man mit Banntäglern redet, ist öfter von einer «Dynamik» die Rede, die bei einem so geselligen Anlass mit Frauen und Familien eben nicht die gleiche sei. Die Liestaler Frauen hätten eben selbst gar kein grosses Interesse daran, an der Wanderung teilzunehmen – nur vor vielen Jahren gab es einmal eine protestierende «fünfte Rotte», bestehend aus Frauen und Kindern.

Die Liestaler Kinder haben derweil schulfrei und werden entweder von den Vätern an den Banntag mitgenommen – oder fahren nach Rust, seit ein geschäftstüchtiges Busunternehmen mal entdeckt hat, dass man an diesem Tag wunderbar Fahrten in den Europapark anbieten könnte. Dabei ist der Nachwuchs den Banntäglern enorm wichtig. «Die Jungen von heute stehen morgen selber hier auf den Bänken und halten Reden», sagt der Berichterstatter (und FDP-Stadtpräsident) Daniel Spinnler bei seiner Ansprache auf der Bank. Nach ein paar Stunden wandern und rasten mit diesen Männern merkt man: Es ist ihnen tatsächlich ernst mit dem Erhalt der Tradition. 

Damit das gelingt, muss man die Tradition den Jungen näher bringen. Und das umfasst eben auch, so Spinnler, dass man sich langsam dem Zeitgeist anpasst. Das muss ja nicht gleich heissen, dass man gleich Frauen aufnimmt – aber dass man bei der Spendensammlung z. B. auch Twint verwenden kann (das Geld kommt kulturellen Zwecken zugute, einem Museen und einem Altersheims zugute). Das mit der Twint-Spende klappt wegen der schwachen Internetverbindung auf dem Rastplatz im Wald, wo man auch zur Mittagszeit noch von einem «Znünihalt» spricht, nur langsam – aber es rettet mich vor der Blamage, kein Bargeld dabei zu haben.

Schiesspulver
Ein Käppchen Schiesspulver gibt einen Schuss. (Bild: David Rutschmann)

James fühlt sich jedenfalls wohl unter den Herren. «Es ist ein Generationenaustausch, Boomer und Gen Z sitzen an einem Tisch und freunden sich an» sagt er. Und es stimmt: Es riecht auf dem Rastplatz nach derben Zigarrenrauch genauso wie nach süsslichem Vape-Dampf. Der 17-Jährige mit russgeschwärzten Händen ist zwar Liestaler, aber geht in Muttenz aufs Gymnasium – er hat extra frei genommen für den Banntag. «Die anderen schreiben jetzt gerade eine Matheprüfung», sagt er, während er Schiesspulver aus einer Waschmittel-Flasche in ein Gewehr füllt. Im Gegensatz zu mir macht dem Jungschützen das Knallen nichts aus.

Das Schiessen hat tatsächlich quasi militärischen Ursprungs, erklärt mir Philipp Schopfer. Der Banntag war «Grenzsicherung» im Kleinen: Liestal überprüfte, ob die umliegenden Gemeinden nicht den Grenzstein verschoben hatten. «Weil der Banntag früher im ganzen Baselbiet an Auffahrt war, gab es oft Schlägereien», erzählt Schopfer. Dass Liestal seinen Banntag nach vorne verlegte, kann man als «Akt des Friedens» verstehen. Heute geht es beim Schiessen allein darum, die jahrhundertealte Tradition am Leben zu erhalten. Und während andere Banntage im Baselbiet sich angepasst haben, ist man in Liestal noch recht nah dran am alten Brauchtum.

Grenzstein Liestal
Ein Grenzstein auf unserer Wanderung. (Bild: David Rutschmann)

Die Wädli sind schon ordentlich stramm nach einigen Stunden Umherziehen und Grenzsteine-Inspizieren. An Speis und Trank hat es zwar nicht gemangelt: «Ich kann dir gerne ein Salätli mitbringen», hatte Philipp Schopfer auf meine Frage, was ich als Vegetarier am Banntag essen soll, geantwortet. Den Speck bei Rösti und Spiegelei wegzulassen, stellt sich dann aber doch als kein Problem heraus. Bier und Wein (aus dem 4-dezi-Glas) wird sowieso nicht knapp.

Dennoch fühle ich mich zwölf Stunden nach Marschbeginn und ordentlich matschigen Schuhen als nicht wandererprobter Städter doch reichlich kaputt, als wir mit Wanderstock-Geklacker und Marschmusik wieder ins Stedtli einziehen. Die Ohrenstöpsel kommen wieder rein, denn jetzt wird der Rest der mehr als zwei Kilo Schiesspulver verschossen. Die Fahnen werden wieder im Rathaus abgegeben und die Rotten ziehen zum «Zmittag» – selbstverständlich pünktlich um 18.30 Uhr.

Offenkundig wurden keine verschobenen Grenzsteine gefunden.

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David Rutschmann

Das ist David (er/ihm):

Von Waldshut (Deutschland) den Rhein runter nach Basel treiben lassen. Used to be Journalismus-Student (ZHAW Winterthur) und Dauer-Praktikant (Lokalzeitungen am Hochrhein, taz in Berlin, Wissenschaftsmagazin higgs). Besonderes Augenmerk auf Klimapolitik, Wohnpolitik, Demopolitik und Politikpolitik. Way too many Anglizismen.

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