«Ich finde es schwierig, alle als Opfer zu bezeichnen»

Stärkere Regulierung? Mehr Rechte? Ein Verbot? Die Politik diskutiert über Sexarbeit. Im Gespräch erzählt Hanna Lindenfelser, Leiterin der Basler Fachstelle für Sexarbeit, wer ihre Klientinnen sind und weshalb sie gegen ein Sexarbeits-Verbot ist.

Hanna Lindenfelser, wer sind Ihre Klientinnen? 

Es ist super divers. Vom Alter her zum Beispiel haben wir Frauen zwischen 18 und 70 Jahren. Pro Jahr haben wir Menschen aus über 50 Herkunftsländern. Manche machen das hauptberuflich, manche nebenberuflich, manche nur ganz punktuell. Es kommen Menschen zu uns, die leben dauerhaft in der Schweiz. Es gibt Menschen, die pendeln zwischen zwei Ländern. Wir haben Grenzgängerinnen, die kommen am Wochenende einfach einen Tag. Es kommen Menschen mit einem Studienabschluss bis zu Menschen, die die Schule im Primarschulalter abgebrochen haben. Wir haben von Sans Papiers bis zu Schweizerinnen alle möglichen Frauen bei uns. Von Menschen mit mehreren Sprachen, die sie fliessend sprechen, bis Menschen, die eine Sprache können, die keiner der Schweizer Landessprachen entspricht.

Was bringt Ihre Klientinnen in die Sexarbeit?

Die Mehrheit kommt aus ökonomischen Gründen hierher. Es geht einfach darum, Geld zu verdienen, und die meisten wissen sehr wohl, dass sie hier der Sexarbeit nachgehen werden. Also ich glaube, diese Idee, dass die Menschen hier ankommen und nicht wissen, wie ihnen geschieht – da erleben wir eine andere Realität.

«Ich kenne keine Arbeit, in der es so schwer fällt, zu erzählen, was man macht.»
Hanna Lindenfelser

Man hört das ja immer wieder, dass Frauen in die Sexarbeit gedrängt werden. Ist das nicht die Realität, die Sie erleben? 

Es gibt einfach verschiedene Faktoren, die anziehend sind in der Sexarbeit. Man kann sehr flexibel arbeiten, man verpflichtet sich zu sehr wenig, man braucht keine Ausbildung, um in dem Bereich tätig zu sein. Man braucht keine speziellen Sprachkenntnisse … Es ist ein Bereich, wo man mit relativ wenig einsteigen kann. Und das macht es zur Option für Menschen, die vielleicht eine begrenzte Wahlmöglichkeit haben. 

Eine Grundsatzfrage: Wir haben in diesem Gespräch noch nie von «Prostitution» gesprochen. Sondern immer von «Sexarbeit». Warum reden Sie nicht von Prostitution?

Wir haben uns entschieden, von Sexarbeit zu sprechen und zu sagen: Es ist eine Arbeit, aber nicht wie jede andere. Was es für mich nicht wie jede andere Arbeit macht, ist, dass ich keine Arbeit kenne, die so stark stigmatisiert ist und in der die Menschen, die ihr nachgehen, von Diskriminierung betroffen sind. Ich kenne keine Arbeit, in der es so schwer fällt, zu erzählen, was man macht. Und uns ist auch wichtig zu sagen, dass es eine Arbeit ist, weil Arbeit immer nur ein Teil vom Menschen ist. In der Diskussion werden Sexarbeiterinnen häufig auf das reduziert, aber sie haben ganz viele Rollen und das ist nur ein Teil von ihrem Leben.

«Der Opferbegriff führt ganz schnell dazu, dass man ihnen die Handlungsfähigkeit abspricht.»
Hanna Lindenfelser

Die EVP-Nationalrätin Marianne Streif-Feller hat eine Motion im Nationalrat eingereicht. Sie findet, Prostitution ist ein Akt von sexueller Gewalt. Und auch die Mitte-Frauen haben ein Positionspapier verabschiedet, in welchem sie schreiben: «Die Mitte-Frauen verstehen Prostitution nicht als gewerbliche Arbeit und verwenden darum nicht den Begriff der Sexarbeit. Die Mehrheit der Frauen in der Prostitution sind Opfer von Perspektivenlosigkeit, Zwang, Armut, Gewalt und Menschenhandel.» Wie beurteilen Sie die Haltung?

Ich finde an der Haltung schwierig, alle als Opfer zu bezeichnen. Der Opferbegriff führt ganz schnell dazu, dass man ihnen die Handlungsfähigkeit abspricht. Und wir erleben in unserem Alltag Frauen mit ganz vielen Ressourcen, auch mit vielen Strategien und mit viel Stärke. Und die Faktoren, die sie benennen – also Zwang, Armut, Gewalt – das sind Missstände. Ich finde es sehr wichtig, darauf hinzuweisen, dass diese auch im Sexgewerbe existieren. Aber es sind für mich Faktoren, die verletzlich machen. Und sie werden sichtbar im Sexgewerbe. Aber es ist nicht gleichzusetzen mit einem Opferdasein.

Also Sie würden sagen, mit dieser Haltung wird die Perspektive der Frauen darauf reduziert, dass sie Opfer sind?

Ja, genau. Für mich sind es Ursachen. Die Ursachen führen nicht nur in die Sexarbeit. Wir haben ähnliche Hintergründe auch in anderen Branchen. Und da diskutiert man nicht darüber, ob die verboten werden sollen. Wir diskutieren nicht, ob eine 24-7-Pflege verboten werden soll. Das Baugewerbe, Nagelstudios … Es gibt andere Bereiche, wo man auch sagt: Es gibt ein hohes Risiko für Menschenhandel und Ausbeutung. Und die Diskussion über das Verbot führen wir über diese Arbeitsbereiche nicht. Aber in dem werteaufgeladenen oder moralisch aufgeladenen Feld der Sexarbeit schon. Ich finde das schwierig, weil das Verbot zielt ja auf etwas, was man hier sieht und das sichtbar macht. Die Ursachen bleiben aber bestehen. Das heisst, die Menschen werden nicht weniger auf der Suche sein, nach Möglichkeiten arbeiten zu können. Wir haben das auch in Zeiten wie Corona gesehen, wo es Verbote gab, es wurde weitergearbeitet. Also die Suche nach Geld und die Möglichkeit, Geld mit Sexarbeit zu verdienen, die ist geblieben. Und ein Verbot wird das nicht ändern. 

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