Wohin bei Minusgraden?

In Basel-Stadt fallen obdachlose Frauen, die nicht im Kanton gemeldet sind, langfristig durch die Maschen des Sozialnetzes. An ihrem Beispiel zeigt sich, dass auch das soziale Basel Grenzen hat. Einzelne Organisationen suchen nach Lösungen.

Symbolbild Notschlafstelle
In Notschlafstellen können Obdachlose kurzfristig übernachten. Längerfristige Lösungen für Frauen, die nicht aus Basel-Stadt kommen, werden derzeit auf unterschiedlichen Wegen gesucht. (Bild: Adobe Stock)

Es gibt Zeiten, in denen Obdachlosigkeit besonders ins Bewusstsein der Leute rückt. Im Sommer, wenn sich die ganze Stadt so sehr erhitzt, dass kühle Schattenplätze zum Durchatmen gesucht werden. Und im Winter, wenn Minustemperaturen und Schneefall eine Nacht auf der Strasse besonders gefährlich machen. So wie jetzt gerade.

Eine Möglichkeit zur Übernachtung ist für sie dann eine Notschlafstelle. In Basel-Stadt gibt es zwei: eine für Frauen, eine für Männer. Sie werden von der Sozialhilfe verantwortet und von Steuergeldern finanziert.

Seit im April 2024 die Notschlafstelle für Frauen vom alten Standort an der Rosentalstrasse an die Mittlere Strasse gezogen ist, sind ihre Kapazitäten geschrumpft, von 28 auf 20 Plätze. Zwischen Dezember 2023 und April 2024 waren es in einem Provisorium sogar noch weniger Plätze. Aus diesem Grund beschloss der Kanton, den Zugang zu beschränken. 

Institutionen, die zuvor ausserkantonal gemeldete Frauen mit einer Kostengutsprache – einer Art Gutschein – in die Notschlafstelle schickten, wurden informiert, das sei nun nicht mehr möglich. «Damit während des gesamten Winters genügend Betten für Notsituationen zugänglich sind, wurde kommuniziert, dass ausserkantonale Personen nicht mehr mit einer Kostengutsprache in der Notschlafstelle untergebracht werden können», schrieb der Regierungsrat in einer Antwort auf eine Interpellation von Basta-Grossrat Oliver Bolliger im Februar.

Sozialhilfe
Die beiden Notschlafstellen im Kanton Basel-Stadt werden von der Sozialhilfe verantwortet. (Bild: © Kanton Basel-Stadt: bs.ch/bilddatenbank)

Ende November schrieb der Kanton an die betroffenen Institutionen, dass er seine Handhabe für den aktuellen Winter wieder etwas lockert. «Hinsichtlich der anstehenden Wintermonate soll nun jedoch trotzdem ermöglicht werden, auch ausserkantonale oder ausländische Frauen in Notsituationen in den kalten Nächten eine Übernachtungsmöglichkeit zu bieten», heisst es in dem Schreiben, das dieser Redaktion vorliegt. 

Konkret bedeutet das: Wenn ausserkantonal gemeldete Frauen eine Kostengutsprache dabei haben, dürfen sie einmalig eine Nacht und an Wochenenden drei Nächte im Notfallzimmer der Notschlafstelle übernachten. Zuvor sollen die Institutionen bei der Sozialhilfe oder der Notschlafstelle anrufen, um zu klären, ob ein Bett vorhanden ist. Und: «Am nächsten Arbeitstag müssen sie zur Abklärung des Anspruchs auf Unterstützung im Rahmen der Sozial- bzw. Nothilfe während der Öffnungszeiten bei der Sozialhilfe vorsprechen», schreibt der Kanton weiter. 

Wie kommt das bei den Institutionen an?

Claudia Adrario
«Am Donnerstag vor zwei Wochen sind wir rumgerast wie die Wahnsinnigen, um für die Frauen eine Übernachtungslösung zu finden.»
Claudia Adrario de Roche, Präsidentin Verein Soup&Chill

Das Kopfschütteln von Claudia Adrario de Roche ist beinahe durch den Telefonhörer spürbar. Es ist kein Geheimnis, dass die Präsidentin des Vereins Soup&Chill nicht zufrieden ist, wie der Kanton die Situation für Auswärtige in der Notschlafstelle handhabt. Schon im Januar sagte sie zur BaZ: Der Preis für eine Übernachtung von Ausserkantonalen sei zu teuer. Personen aus Basel-Stadt zahlen für eine Übernachtung 7,50 Franken, Auswärtige 40 Franken. Nun stört Adrario de Roche aber etwas anderes. Sie  sieht in der Ankündigung des Kantons vom November eine «Pseudo-Lockerung».

Der Knackpunkt aus ihrer Sicht: Die meisten dieser Frauen sind nicht auf eine einmalige Übernachtung angewiesen, die laut Kanton jetzt möglich ist, sondern auf ein Bett in einer Notsituation. «Es geht dabei um Frauen, die sich schon lange in Basel aufhalten und die der Sozialhilfe deshalb auch schon bekannt sind.» Für sie gebe es im Kanton nach wie vor keine Lösung.

Drogenstammtisch November 2024

Nach langjähriger Obdachlosigkeit soll das Projekt «Housing First» der Heilsarmee Menschen zu einer eigenen Wohnung verhelfen. Am vierten Drogenstammtisch nannte Regierungsrat Kaspar Sutter das Projekt als Positivbeispiel. Es ging in der Diskussionsrunde aber auch um den knappen Wohnraum und wie dieser das Drogenproblem im Kleinbasel zusätzlich anheizt.

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Adrario de Roche erklärt: «Bei der Sozialhilfe kommen wir mit diesen Frauen nicht weiter, zum Beispiel weil sie keinen gültigen Pass haben oder nicht mit der Sozialhilfe kooperieren wollen.» Aktuell seien dem Soup&Chill vier Frauen in dieser Situation bekannt. Sie seien alle über 65 Jahre alt und würden auf der Strasse oder im Wald schlafen.

«Sie sind einfach nicht ins System integrierbar, wollen oder können aber auch nicht hier weg, weil sie ihren Lebensmittelpunkt seit Jahren in Basel haben. Und wenn diese Frauen in einer Notsituation sind, wenn sie zum Beispiel eine Grippe haben und ihr Fieber in einem Bett auskurieren müssten, hilft ihnen der Kanton nicht.» Oder auch bei Minustemperaturen, fügt Adrario de Roche an. Der Extremfall sei am Donnerstag vor zwei Wochen eingetreten. Heftiger Schneefall, Minustemperaturen. «Da sind wir rumgerast wie die Wahnsinnigen, um für sie eine Übernachtungslösung zu finden», sagt Adrario de Roche.

Ebenfalls stossend ist für sie, dass Männer in einer vergleichbaren Situation mehr Hand geboten würde: «Wenn wir Männer in ähnlichen Situationen zur Notschlafstelle für Männer schicken, kommen sie unter. Nicht nur einmalig, sondern auch wiederholt.»

«Bei winterlichen Temperaturen weist die Notschlafstelle keine Person ab.»
Rudolf Illes, Amtsleiter Sozialhilfe Basel-Stadt

Rudolf Illes von der Sozialhilfe sagt auf Anfrage, dass grundsätzlich die gleiche Regelung für die Aufnahme von ausserkantonalen Frauen und Männer auf den beiden Notschlafstellen gelten. «Diesen Winter sind die basel-städtischen Institutionen der Obdachlosenhilfe in Basel aber darauf hingewiesen worden, dass sie aufgrund der beschränkten Platzzahl bei ausserkantonalen Frauen vorgängig mit der Sozialhilfe Kontakt aufnehmen sollen, damit bei fehlenden Plätzen rechtzeitig eine alternative Übernachtungsmöglichkeit organisiert werden kann.» Sowieso, sagt Illes, weise die Notschlafstelle bei winterlichen Temperaturen niemanden ab. Aber es stimme: Ausserkantonale müssten sich danach bei der Sozialhilfe melden. 

Abgesehen von einer Notfallübernachtung gibt es also keine Angebote für ausserkantonale Personen. Und es zeigt: Ausserkantonale, die sich länger in Basel aufhalten und wiederholt zur Notschlafstelle wollen, fallen durch die Maschen.

Saskia Leu-Hausmann
«Bei extremer Kälte und je nach Gesundheitszustand der Betroffenen braucht es unserer Meinung nach ergänzende Massnahmen.»
Saskia Leu-Hausmann, Geschäftsführerin Frauen-Oase

Das bestätigt auch die Geschäftsführerin der Frauen-Oase, Saskia Leu-Hausmann. Die Frauen-Oase begrüsse grundsätzlich die Handhabung des Kantons, schreibt sie, «auf diesem Weg können nachhaltige Lösungen angestrebt werden.» Sie gibt zu bedenken: «Mit dieser Regelung werden jedoch nicht alle obdachlosen Frauen erreicht. Bei extremer Kälte und je nach Gesundheitszustand der Betroffenen braucht es unserer Meinung nach ergänzende Massnahmen.» Die Frauen-Oase befinde sich dazu aktuell im Austausch mit verschiedenen involvierten Stellen.

Thomas Frommherz von der Heilsarmee bestätigt den Eindruck, dass die Regelung für Ausserkantonale umtreibt. Er ist zuständig für das Projekt Housing First, das der Kanton zunächst getestet und nun fix eingeführt hat. Und er sagt: «Wir stellen im Zusammenhang mit unserer Arbeit für Housing First fest, dass die Versorgung von ausserkantonalen und vulnerablen Personen unabhängig vom Geschlecht ein Thema ist.» Dass alle Obdachlosen von einer Notschlafstelle profitieren könnten, müsse jedoch auf nationaler Ebene angegangen werden.

Thomas Frommherz
«Das ist ein Thema, das auf nationaler Ebene angegangen werden muss.»
Thomas Frommherz, Bereichsleiter Wohnbegleitung Heilsarmee

Das Soup&Chill nimmt vorerst die Zügel selber in die Hand. Schon in vergangenen Wintern hat der Verein für einzelne Nächte Hostelzimmer für Frauen gebucht, die nicht in die Notschlafstelle können. Und das macht er auch dieses Jahr, allerdings nicht nur für einzelne Notfall-Nächte, sondern für den ganzen Winter. «Im Gegensatz zur Notschlafstelle dürfen sie sich dort sogar den ganzen Tag aufhalten und bekommen zum Teil auch ein Frühstück», so Adrario de Roche. «Da ist das Angebot in der Privatwirtschaft menschenfreundlicher als das des Kantons», findet sie.

Dass die Plätze in der Notschlafstelle für Frauen begrenzt sind und er Kapazitäten freihalten will, versteht Adrario de Roche. «In Notfällen braucht es aber eine bedingungslose Hilfe im Sinne des Artikel 12 der Bundesverfassung*, der besagt: Wer in Not gerät, hat das Recht auf Obdach», findet Adrario de Roche.

Ein besprayter Container im Areal von Soup And Chill, der "Waermestube fuer Menschen, die kein eigenes Wohnzimmer haben" in Basel, am Mittwoch, 28. Februar 2018. (KEYSTONE/Georgios Kefalas)
Das Soup&Chill versteht sich als «Wärmestube für Menschen, die kein eigenes Wohnzimmer haben». (Bild: © KEYSTONE / GEORGIOS KEFALAS)

Gibt es denn aus Sicht der Sozialhilfe Basel-Stadt eine Notwendigkeit oder Bestrebungen, ein bedingungsloses Angebot zu schaffen? Über eine Nacht hinaus und unabhängig von einer Anmeldung im Kanton? 

Die kurze Antwort lautet: Nein. Denn, so hält Sozialhilfe-Amtsleiter Rudolf Illes fest: «Die beiden Notschlafstellen haben für ihren Auftrag genügend Betten. In der Regel ist darin auch die kurzfristige Notfallübernachtung für ausserkantonale Personen abgedeckt.» Für eine längerdauernde Finanzierung von Übernachtungen von ausserkantonalen Personen bestehe keine gesetzliche Grundlage, schreibt Illes weiter. Er findet, es sei «weder im Interesse der betroffenen Personen, noch der Allgemeinheit», dass eine bedingungslose Notschlafstelle für ausserkantonale Personen in Basel geschaffen werde. «Vielmehr müssten eigentlich alle professionell arbeitenden Stellen möglichst rasch bemüht sein, für diese Personen einen nachhaltige Verbesserung ihrer Situation anzustreben und zwar durch die für sie zuständigen Stellen.»

So engmaschig das soziale Basel sein mag – das Netz hat Grenzen. Und diese verlaufen, wie die vorliegende Diskussion zeigt, entlang der Kantonsgrenzen. Wie es der Schweizer Föderalismus vorschreibt.

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* Artikel 12 der Bundesverfassung: «Wer in Not gerät und nicht in der Lage ist, für sich zu sorgen, hat Anspruch auf Hilfe und Betreuung und auf die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind.»

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Nach einem Masterstudium in Geisteswissenschaften und verschiedenen Wissenschafts- und Kommunikations-Jobs ist Michelle bei Bajour im Journalismus angekommen: Zuerst als Praktikantin, dann als erste Bajour-Trainee (whoop whoop!) und heute als Junior-Redaktorin schreibt sie Porträts mit viel Gespür für ihr Gegenüber und Reportagen – vorzugsweise von Demos und aus den Quartieren. Michelle hat das Basler Gewerbe im Blick und vergräbt sich auch gern mal in grössere Recherchen. 


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