Geduldet, solange sie nur am Bahnhof sitzen

Sie seien nur hier um zu betteln, heisst es über rumänische Wohnungslose am Bahnhof SBB. Dabei würden sie liebend gerne arbeiten. Unterwegs mit der Gassenarbeit.

Bahnhof SBB Akkordeonspieler
Auch mit der Musik verdient man nicht viel. (Bild: David Rutschmann)

Was für eine geballte Ladung Wilhelm-Tell-und-Rütlischwur-Schweiz bricht über Passant*innen herein, die mit der Rolltreppe in die Schalterhalle des Bahnhofs SBB rollen: Vierwaldstättersee! Silsersee! Jungfraujoch! Matterhorn! Gstaad! Die malerische Schweiz, die an den Basler Bahnhofswänden prangt, wartet irgendwo da draussen, aber definitiv nicht auf dem Centralbahnplatz, auf dem sich Tramschienen wie Narben auf dem Boden kreuzen. 

Genau hier steht an diesem kühlen Frühjahrsvormittag ein Mann mit schwarzem Bart, dunkler Kappe und müden Augen. Der 37-Jährige kennt die Bilder der Postkarten-Schweiz, sie seien in Rumänien sehr präsent. Deshalb kam er vor vier Jahren mit seiner Frau in das Land aus dem Fernsehen, um seinen vier Kindern in der Heimat mehr bieten zu können als die 900 Franken Durchschnittslohn. Die Schweiz ist so reich, hier kann man gutes Geld verdienen, dachte er.

«Ich habe keine Lust, auf der Strasse zu leben und die ganze Zeit auf einen Job zu warten.»
Wohnungsloser aus Rumänien

Doch weder in Zürich, noch in Bern, noch in Basel konnte er Arbeit finden. Also sitzt er jetzt hier am Bahnhof, wo wenigstens seine Landsleute sind – mit ihnen könne er sich unterhalten, und sie wüssten Bescheid, wo er ein bisschen Geld verdienen kann. «Ich arbeite sehr gerne und bin im besten Alter fürs Schaffen. Egal ob auf dem Bau oder bei der Müllabfuhr. Ich habe keine Lust, auf der Strasse zu leben und die ganze Zeit auf einen Job zu warten», übersetzt Natalie Sigg aus dem Rumänischen.

Sigg arbeitet als interkulturelle Übersetzerin beim Verein für Gassenarbeit Schwarzer Peter. Dort ist sie wegen ihrer Rumänischkenntnisse eine willkommene Unterstützung für das Team, das an diesem Morgen am Bahnhof unterwegs ist. Das Team will mit den Menschen ins Gespräch zu kommen, die ihren Lebensmittelpunkt auf der Strasse haben. 

«Das sind eben seit einiger Zeit viele Menschen aus Rumänien, die keinen Aufenthaltsstatus in der Schweiz haben», erklärt Adriana Ruzek, Gassenarbeiterin und Co-Geschäftsführerin beim Schwarzen Peter. Laut Eigenauskunft gehören die Leute allerdings nicht zu der Gruppe der Rom*nja, von denen sie sich auch klar abgrenzen wollen. Rom*nja werden medial immer wieder in den Fokus gerückt. So auch jüngst wieder, als die BaZ schrieb, dass «trotz Bettelverbot» wieder mehr Rom*nja einzig und allein zum Betteln in der Stadt seien. Die Kantonspolizei schätzt die Gruppe auf 10 bis 30 Personen.

Bettelverbot Verbot
Basler Bettelverbot

Die jüngere Basler Politikgeschichte hat einige Wendungen im Umgang mit Bettler*innen genommen. Nachdem das Übertretungsstrafgesetz 2020 so angepasst wurde, dass nur noch bandenmässiges Betteln, aber nicht mehr Betteln an sich strafbar ist, kamen mehr Bettler*innen in die Stadt – rund 150 zählte die Kantonspolizei damals. Berichte über aggressives oder aufdringliches Betteln häuften sich. Ein Jahr später wurde das Bettelverbot auf eine SVP-Motion hin wieder verschärft. Das Bundesgericht entschärfte 2023 nach einer Klage der Demokratischen Jurist*innen gewisse Klauseln der neuen Gesetzgebung, doch stütze das Gesetz grundsätzlich. Daraufhin kündigte Polizeidirektorin Stephanie Eymann (LDP) an, von nun an hart durchzugreifen. Die Polizei suchte Bettler*innen auf und wies sie an, dass Betteln in der Stadt verboten sei.

Bajour-Dossier zum Thema

Pünktlich zum Pendlerverkehr hat sich tatsächlich ein Grüppchen hier vor dem Bahnhof gebildet. Die Nächte verbringen sie laut Ruzek in privaten Unterkünften, draussen oder beim EuroAirport, weil man sie dort in der Nacht hin und wieder duldet. Am Morgen kommen sie dann zum Bahnhof. Hier ist man schnell vernetzt, trifft viele Leute – aber man ist auch schnell wieder weg, wenn es darauf ankommt. 

Ein Mann mit hellem Käppi packt ein Akkordeon aus, ein anderer eine Gitarre – seit der Netflix-Serie Haus des Geldes ist «Bella Ciao» hoch im Kurs. Musik machen, das gilt immerhin nicht als Betteln. Das Team vom Schwarzen Peter hat Kaffee dabei, manchmal kaufen sie etwas zu essen. Heute beklagt sich eine Frau über Rückenschmerzen – die Salbe, die Gassenarbeiterin Manuela Jeker kauft, wird dann in der gesamten Gruppe rumgereicht.

Hochdruckreiniger Obdachlose Bahnhof SBB Basel Schwarzer Peter Stadtreinigung
Erstmal wieder sauber machen. (Bild: David Rutschmann)

Die Gassenarbeiter*innen helfen, so gut sie helfen können: Mit Infos über Notschlafstellen, Hygienezentren und Gassenküchen. Wenn ein bärtiger Herr, der mit zwei Koffern und vielen Decken am Bahnhof sitzt, mit seiner Tochter in Rumänien telefonieren will, versucht das Team herauszufinden, wie das möglich ist, wenn man nur via Facebook-Messenger Kontakt mit ihr aufnehmen kann. Und wenn jemand die Wegweisung erhält, also Basel verlassen muss, versuchen sie in Ausnahmefällen auch, das Zugticket nach Strassburg zu zahlen.

«Am liebsten würde ich hier mal ordentlich mit dem Kärcher durchfahren», sagt Manuela Jeker. Das klingt drastisch, ist aber nicht gemeint wie damals bei Sarkozy, der die von Jugendgewalt erschütterten Pariser Banlieus mit dem Hochdruckreiniger reinigen wollte (und damit implizierte, die dort wohnenden Migrant*innen seien Schmutz). Jeker erklärt gleich: Der Boden rund um die Sitzbänke sei so dreckig und siffig, eine Reinigung wäre jetzt angebracht. «Damit sie es hier wieder schön haben.»

Tatsächlich kreuzt kurz darauf die Stadtreinigung auf und fängt an, den Bahnhofsvorplatz abzuspritzen. Der Mitarbeiter spricht rumänisch und bittet die Gruppe, kurz für die Reinigung der Sitzplätze aufzustehen. Man lacht, sie kennen sich hier. Die Gruppe zieht mit ihren Klappstühlen Richtung Strassenrand.

«Niemand ist grundlos obdachlos. Das macht dein Leben kaputt.»
Edi aus Rumänien

An diesem Morgen ist auch ein Mann am Bahnhof, den die Gassenarbeiterinnen noch nicht kennen. Er stellt sich auf Deutsch als Edi vor – er hat einen rumänischen Ausweis dabei. Das Team erklärt ihm, wo er sich duschen und neue Kleidung besorgen kann – Edi sagt nämlich, dass er Läuse habe. Er erklärt, er sei auf der Durchreise nach Deutschland, wo seine Tochter in einem Heim für Menschen mit Behinderung lebt.

Dann erzählt er, wie sein Leben nach der Geburt seiner Tochter aus der Bahn geriet. Sie kam mit nur einer Herzkammer zur Welt, die Behandlung sei sehr teuer. Er sei Pfleger gewesen, habe dann aber seinen Job verloren, die Beziehung ging in die Brüche und er landete auf der Strasse. «Niemand ist grundlos obdachlos. Das macht dein Leben kaputt», sagt Edi. Er erzählt, wie er in Bern wegen einer Geldstrafe wegen Schwarzfahrens im Gefängnis gewesen sei.

Das Dilemma sei, sagt Edi immer wieder: Um eine Wohnung zu finanzieren, bräuchte er einen Job, aber um einen Job zu finden, muss er eine Adresse angeben. «Mir macht es nichts aus, auf der Strasse zu schlafen, das bin ich gewohnt. Aber irgendwie muss ich Geld verdienen. Für meine Tochter.» Das Problem der fehlenden Adresse beschreiben an diesem Morgen einige, die sich als arbeitswillig bezeichnen und sogar zerknitterte Lebensläufe aus dem Rucksack ziehen.

Die Gassenarbeiterinnen kennen das Thema, wie Manuela Jeker erzählt: «Bestenfalls könnten Obdachlose ihre alte Adresse laufen lassen, wenn sie die Wohnung verlieren. Da könnten die Gemeinden und Kantone Lösungen finden, aber das Problem ist ihnen zu wenig bewusst. Generell wird in der Schweiz zu wenig Wert auf Prävention gelegt, um den Wohnungsverlust zu verhindern.»

Manuela Jeker, Natalie Sigg, Adriana Ruzek, Verein für Gassenarbeit Schwarzer Peter Bahnhof SBB Basel
Manuela Jeker, Natalie Sigg und Adriana Ruzek vom Schwarzen Peter. (Bild: David Rutschmann)

Das erst jüngst vom Grossen Rat abgesegnete Housing-First-Massnahmen-Paket sei aber ein Schritt in die richtige Richtung, so Jeker: Der Kanton will mehr Wohnraum für Obdachlose schaffen, aber auch Wohnungsverlust durch soziale Wohnraumbegleitung vorbeugen und das alles von einer kantonalen Kompetenzstelle aus koordinieren. 

Aktuell können Wohnungslose, welche bereits in Basel-Stadt angemeldet sind, beim Schwarzen Peter eine Meldeadresse beantragen. Doch bei der Gruppe, die aus Rumänien hier ist, wäre das gar nicht möglich: Sie haben keine Aufenthaltsbewilligung für die Schweiz. «Dass sie keine Arbeit finden, liegt aber auch oft einfach daran, dass sie die deutsche Sprache nicht beherrschen», sagt Adriana Ruzek.

Warum Rumänien?

Das weiss das Team der Gassenarbeit selbst nicht genau. Rumänien ist (nach Bulgarien) das zweitärmste Land in der Europäischen Union, seit 2007 ist der post-kommunistische Staat Mitglied. Rund 35 Prozent der Rumän*innen sind von Armut bedroht, die Arbeitslosenquote liegt bei 5,6 Prozent. Per 1. April 2024 wurde Rumänien Teil des Schengen-Raumes. Damit erübrigen sich Personenkontrollen für Rumän*innen bei der Einreise zum Beispiel per Flugzeug in die Schweiz. Doch damit sind auch Asyl- und Rückführungsregelungen verbunden.

Bajour hat 2022 eine abgeschobene Roma-Bettlerin aus Basel in Rumänien besucht.

Lies' hier die Recherche

Hartnäckig hält sich die Vermutung, dass es sich um eine organisierte Bettelbande handelt. Erst kürzlich publizierte 20 Minuten Fotos, die zeigen sollen, wie ein Van mit rumänischen Kennzeichen sie zum Bahnhof chauffiert. Dort haben sie sich dann laut «Leser*in-Reporter*in» auf dem WC «Bettel-Kleidung» angezogen. 

Adriana Ruzek hält die Story für absurd: «Da wurde viel reininterpretiert in eine Beobachtung. Doch für die Schlussfolgerung, dass das eine kriminelle Bande ist und die Menschen ausgebeutet werden, gibt es keine Beweise. Im jahrelangen Kontakt mit den Menschen haben wir festgestellt, dass sie sich vorwiegend in Familienstrukturen bewegen und untereinander Informationen austauschen.» Dass es organisierte bandenmässige Bettelei gibt, will Ruzek gar nicht abstreiten, «aber das hat zumindest nichts mit den Leuten zu tun, mit denen wir heute hier geredet haben».

Der Pendler*innenstrom ist abgeflacht, es ist ein bisschen mehr Ruhe eingekehrt am Bahnhof. Ein erster «ansässiger» Obdachloser mit Schweizer Pass trudelt bei den Sitzbänken vor dem neobarocken Bahnhofsgebäude ein. Sie haben einen anderen Rhythmus als die rumänische Gruppe. Für die Gassenarbeiter*innen wird es Zeit, weiterzuziehen. «Ab dem Mittag steigt der Alkoholpegel, da macht es keinen Sinn mehr», sagt Ruzek. Ihre Notizen, in denen steht, wer was benötigt, haben sie sich gemacht. Auch Edi hat seinen Rucksack gepackt und ist aufgebrochen. Die rumänische Gruppe jedoch bleibt da. Und sie wird wohl auch nicht so schnell verschwinden.

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Das ist David (er/ihm):

Von Waldshut (Deutschland) den Rhein runter nach Basel treiben lassen. Used to be Journalismus-Student (ZHAW Winterthur) und Dauer-Praktikant (Lokalzeitungen am Hochrhein, taz in Berlin, Wissenschaftsmagazin higgs). Besonderes Augenmerk auf Klimapolitik, Wohnpolitik, Demopolitik und Politikpolitk. Way too many Anglizismen.

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