Wie das neue Sexualstrafrecht Spitäler und Co. zum Fortschritt zwingt
Seit 1. Juli gilt das überarbeitete Sexualstrafrecht in der Schweiz. Das beschäftigt nicht nur Jurist*innen, sondern rückt auch die Betreuung von Vergewaltigungsopfern in den Spitälern in den Fokus. In beiden Basel tut sich derzeit einiges.
Triggerwarnung: In diesem Artikel geht es um sexualisierte Gewalt.
Wenn Jeannette Hirt bei einer Patientin Hämatome an seltsamen Stellen findet, die kaum durch Stürze zu erklären sind, und es verschiedene alte Hämatome gibt – dann weiss sie, dass sie es mit einer Gewaltbetroffenen zu tun haben könnte. «Ich arbeite seit rund 25 Jahren als Pflegefachfrau Notfallpflege im Spital, da sind mir solche Fälle oft begegnet», sagt die stellvertretende Stationsleiterin im Notfallzentrum des Baselbieter Kantonsspitals in Liestal. «In den letzten Jahren sind der Umgang und die Betreuung solcher Personen im Spital viel professioneller geworden.»
Jeannette Hirt absolviert derzeit eine Weiterbildung zur «Forensic Nurse», frei übersetzt: Forensische Pflegekraft. Der Begriff umfasst die Untersuchung von Personen nach tätlichen Angriffen und nach sexueller Gewalt. Sie erklärt: «Wenn wir im Spital einen Herzinfarkt behandeln, gibt es einen genau geregelten Ablauf – alle wissen, was zu tun ist. Bei so einem sensiblen Thema geht die Problematik über den rein medizinischen Notfall hinaus, sie lässt sich nicht mit einer Behandlung lösen.»
«Im Schnitt braucht es sieben Fragen, bis eine Person so weit ist, zuzugeben, was ihr passiert ist.»Jeannette Hirt, Forensic Nurse
Hirt lernt also derzeit, wie man als Spitalmitarbeiterin Betroffene von häuslicher und sexueller Gewalt anhand der beschriebenen «red flags» erkennt und unterstützt: «Das Thema ist mit extrem viel Scham behaftet. In Kommunikationskursen lernen wir, wie man das anspricht. Im Schnitt braucht es sieben Fragen, bis eine Person so weit ist, zuzugeben, was ihr passiert ist.»
Die Weiterbildung von Hirt erfolgt als eine der Massnahmen, mit denen der Kanton Baselland die Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen vor Gewalt und das seit 1. Juli geltende neue Sexualstrafrecht umsetzt. Dieses bringt bei der Opferhilfe, der Polizei und bei Spitälern Neuerungen mit sich. An der Uni Basel findet eigens wegen der Änderungen im Sexualstrafrecht im Oktober eine ganze Fachtagung für Jurist*innen statt.
Eine Umfrage des Thinktanks Reatch zum Umgang mit Opfern sexueller Gewalt zeigt derweil auf, dass es je nach Kanton noch Verbesserungspotenzial gibt. Vor allem kleinere Kantone hätten noch Probleme, gerade bei der Spurensicherung und der Opferbetreuung. Während die Forschenden zum Beispiel in Glarus und in Obwalden «kaum Bemühungen» feststellen, werden in beiden Basel zumindest einige Massnahmen genannt.
Im Baselbiet beispielsweise gibt es zusätzlich zur Forensic-Nurse-Weiterbildung am Kantonsspital einen neuen Kompetenzbereich für Sexualdelikte der Staatsanwaltschaft. In Basel-Stadt wird neben der «kostenlosen Untersuchung und Versorgung am Unispital» lediglich ein runder Tisch zum Thema sexualisierte Gewalt im Kanton erwähnt. Die Pressestelle des Justizdepartements präzisiert auf Anfrage, dass zudem Schulungen für Kantonspolizei, Kriminalpolizei und Opferberatung zu Gesetzesänderungen und zum Umgang mit Betroffenen stattgefunden haben.
Der erwähnte runde Tisch mit verschiedenen Player*innen in der Region findet seit 31. Mai 2023 zweimal jährlich statt. Bei diesen Zusammenkünften sollen die bereits seit einigen Jahren funktionierenden Prozesse noch weiter «feinjustiert und optimiert» werden, sagt Eva Scheurer, Direktorin des Instituts für Rechtsmedizin. Sie erklärt weiter, dass Personen, die sexuelle Gewalt erlebt haben, schon länger in den Spitälern im Kanton medizinisch versorgt und untersucht werden können – ohne Anzeige erstatten oder dafür zahlen zu müssen.
Betroffene von sexualisierter Gewalt können sich an die Opferhilfe beider Basel oder die Fachstelle Sexuelle Gesundheit wenden.
Hilfe im Notfall:
Polizei: 117
Frauenhaus beider Basel: 061 681 66 33; info(at)frauenhaus-basel.ch
Dargebotene Hand: 143
Die Untersuchung umfasst einerseits eine gynäkologische Untersuchung, bei der Verletzungen behandelt und HIV-Prophylaxen angeboten werden – hierfür gibt es im Basler Unispital für alle Mitarbeiter*innen ein Handbuch. Darin ist festgehalten, dass beispielsweise Frauen in Vergewaltigungsfällen nur von Frauen untersucht werden sowie Psycholog*innen und der Sozialdienst hinzugezogen werden.
Andererseits wird den Betroffenen auch die Sicherung von Spuren der Vergewaltigung angeboten, falls sie sich im Nachhinein für eine Anzeige entscheiden, sich im Moment aber nicht dazu in der Lage sehen und deshalb ablehnen. Scheurer erklärt, dass es dabei um eine «gerichtsverwertbare Dokumentation von Verletzungen am Körper und im Genitalbereich sowie eine umfassende Spurensicherung» geht. Diese Untersuchung muss in beiden Basel von Dienstärzt*innen des Instituts für Rechtsmedizin gemacht werden – eine Forensic Nurse wie Jeannette Hirt ist, anders als in anderen Kantonen, nicht an der Spurensicherung beteiligt.
Kosten entstehen für die Betroffenen dadurch keine, da die Opferhilfe die forensische Untersuchung übernimmt und die medizinische Untersuchung durch die Unfall- oder Krankenversicherung abgedeckt wird (wenn beides fehlt, bietet sich auch hier die Opferhilfe an). Im Rahmen der Untersuchung können sich die Betroffenen für eine Meldung an die Opferhilfe entscheiden. Die Opferhilfe nimmt für weitere Unterstützung und Beratung proaktiv Kontakt auf und kann die Betroffenen bei einer möglichen Anzeige begleiten.
Gemäss Justizdepartement Basel-Stadt ist der Kanton bezüglich Untersuchungen nach sexualisierter Gewalt grundsätzlich gut aufgestellt. Im Bericht vom Thinktank Reatch ist derweil die Rede davon, dass Fachpersonen im Vergleich zu den Verwaltungen ein viel negativeres Bild der Betreuungssituation zeichnen.
«Wir kamen nicht wirklich vom Fleck. Aber man merkt, dass sich jetzt etwas tut.»Melanie Nussbaumer, SP-Grossrätin
Melanie Nussbaumer hat den Forscher*innen von der Situation in Basel erzählt. Die SP-Grossrätin sagt, dass der Kanton im Umgang mit sexualisierter Gewalt in der Vergangenheit wenig Fortschritte gemacht hat. «Wir kamen nicht wirklich vom Fleck. Aber man merkt, dass sich jetzt etwas tut. Da jetzt wegen des Sexualstrafrechts Schulungen stattfinden, ist das eine Chance, um bei der Opfersensibilität vorwärts zu machen.»
Nussbaumer hat einen Anzug erarbeitet, der einige Probleme im Umgang mit sexualisierter Gewalt in Basel-Stadt anpacken soll. So werden derzeit die Spuren einer Vergewaltigung nur ein Jahr lang beim Institut für Rechtsmedizin aufbewahrt, solange keine Polizeianzeige erstattet wird – im Kanton Bern, der schweizweit eine Vorreiterrolle in diesem Feld einnimmt, sind es 15 Jahre.
«Betroffene sollen die Entscheidung zu einer Anzeige ohne Zeitdruck treffen müssen. Gerade bei Wiederholungstaten entscheiden sich Betroffene erst nach mehreren Tätlichkeiten für eine Anzeige», erklärt Nussbaumer. Deshalb will sie die Aufbewahrungsdauer auch in Basel auf 15 Jahre anheben. Sie fordert zudem ein fixes Gremium mit allen Beteiligten (Spitäler, Polizei, Rechtsmedizin, Opferberatung), das kontinuierlich die Abläufe verbessern soll.
Das plant die Regierung
So ein Gremium wird derzeit vom Justizdepartement geplant, wie Mediensprecher Toprak Yerguz auf Anfrage erklärt. Die umfassende, professionelle Begleitung der Betroffenen durch das Spitalpersonal, die Nussbaumers SP-Grossratskollegin Barbara Heer in einem separaten Anzug fordert, könnte derweil «mit den bestehenden Strukturen nicht geleistet werden», so Yerguz: «Die Begleitung der Betroffenen geht über die Akutversorgung in den Spitälern hinaus.»
In einer früheren Antwort des Regierungsrats auf eine Interpellation von Melanie Nussbaumer zum Umgang mit sexualisierter Gewalt durch die Polizei wird präzisiert, dass der Regierungsrat Massnahmen wie ein Pikettdienst Opferhilfe, einen Ausbau der Ressourcen der Kriminalpolizei oder Begleitdienst bei der Akutversorgung prüft. Denn zumindest der Polizei fehlen diese Ressourcen derzeit: Im Fachbereich Sexualdelikte waren Stand Ende März nur 640 von 800 Stellenprozenten besetzt.
Weiter erarbeite das Justizdepartement derzeit einen Ratschlag für ein umfassendes Massnahmenpaket zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt. Dieses soll präventive, sensibilisierende Massnahmen wie auch Verbesserungen bei Strafverfolgung und Opferhilfe umfassen.