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Long Covid

Die Vergessenen

Das Krankentaggeld vieler Long-Covid-Patient*innen läuft dieser Tage aus – und es ist noch unklar, ob die IV zahlt. Für Betroffene wie Jeanny Fischer geht es um nicht weniger als die Existenz. Ein Fachanwalt denkt deshalb darüber nach, Long Covid als Berufskrankheit bei Pflegeberufen einzustufen.

01/04/23, 04:00 AM

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Long Covid wirft Betroffene in Zeitlupe: «Erschöpft sieht man zu, wie schnell sich die Welt weiterdreht. Man will gar nicht mehr Teil sein von dieser Hektik.»

Long Covid wirft Betroffene in Zeitlupe: «Erschöpft sieht man zu, wie schnell sich die Welt weiterdreht. Man will gar nicht mehr Teil sein von dieser Hektik.» (Foto: Unsplash/Vladyslav Tobolenko)

Wenn die Kaffeemaschine in dem Café rattert, verzieht Jeanny Fischer das Gesicht. Sie habe die Bedienung bereits gebeten, die Hintergrundmusik auszuschalten, und auch das grelle Licht macht ihr zu schaffen, erklärt sie langsam und mit leiser Stimme: Wenn ein junges Pärchen lachend über den knarzigen Boden läuft, ist Jeannys Stimme nur noch schwer zu hören.

Die 55-Jährige leidet an Long Covid. Der Begriff geistert durch die Medien, richtig zufriedenstellend ist keine Definition bisher. Denn es sind viele unterschiedliche Symptome, die bei Betroffenen auftreten, nachdem sie an Covid erkrankt waren. Bezeichnend sind bislang vor allem eine niedrige «Belastungstoleranz», was sich schon durch Reizüberflutung in einem Café bemerkbar macht, sowie starke Erschöpfung und Müdigkeit. Der Fachbegriff dafür ist Fatigue. 

«Das ist aber keine Müdigkeit, wie ich sie vorher gekannt habe. Es haut einen richtig um», sagt Jeanny. «Wenn ich nachher heimkomme, werde ich nur noch abliegen» – ohne Fernsehen, Musikhören, Lesen, denn selbst dazu ist Jeanny dann zu schlapp. Das Treffen im Café ist ihr einziger Termin an diesem Tag, sie muss auf ihr Energiemanagement achten.

Energiemanagement und Crashs

Energiemanagement beschreibt, dass sich Betroffene ihre Energie vorsichtiger einteilen müssen. Die Frage «Dusche ich heute oder koche ich?», die Jeanny als Beispiel nennt, bringt es auf den Punkt. Wenn das niedrige Energielevel zu sehr belastet wird – körperlich oder emotional –, kommt es zu einem sogenannten «Crash».

«Der Körper mag nicht mehr», erklärt Jeanny, denn dann kommen zur Erschöpfung noch starke körperliche Symptome hinzu, die sehr unterschiedlich sein können: Kopfschmerzen, Fieber, Hautausschläge, Muskelschmerzen zum Beispiel. Die Symptome können Stunden oder Tage andauern. «Dann ist man nicht mal fähig, den Haushalt zu führen», so Jeanny.

Es ist ein krasser Kontrast zum Leben, das Jeanny vor Covid geführt hat. Wie viele Long-Covid-Betroffene habe sie mit hohem Tempo gelebt, «ich konnte mich nicht zurücknehmen und habe am Limit gearbeitet». Sie war in einem Pflegeheim beschäftigt und die Situation dort war so wie in vielen Heimen: Personalmangel, schlechte Arbeitsbedingungen, einem hohen Infektionsrisiko ausgesetzt

Im Dezember 2020 infizierte sich Jeanny mit dem Coronavirus – angesteckt hat sie sich bei der Arbeit. «Wir waren an der Front tätig», sagt sie. Denn ein Impfschutz, der laut Studienergebnissen auch besser vor Long Covid schützt, war zu dieser Zeit noch nicht verfügbar. Janny hatte einen mittelschweren Verlauf mit 41,7 Grad Fieber, musste ins Spital.

Seither sind zwei Jahre vergangen. Wirklich besser geht es ihr nicht. So startete sie zwar einen Arbeitsversuch in einer Grossküche. Doch dort war es: zu hektisch, zu laut, zu grell. Und als sie Salate vorbereiten wollte, merkte sie, dass sie Zahlen nicht mehr verstand. «Ich konnte eine 8 keinem Wert mehr zuordnen. Das ist völlig verrückt, wenn man es zu erklären versucht.» Viele Long-Covid-Patient*innen berichten davon, dass sie kognitiv abgebaut haben. Arbeit ist also, wenn überhaupt, nur sehr reduziert möglich.

Jeanny Fischer «an einem guten Tag», wie sie sagt.

Jeanny Fischer «an einem guten Tag», wie sie sagt. (Foto: zVg)

Doch nun läuft nach zwei Jahren das Krankentaggeld aus, und damit steht für Jeanny wie für viele andere arbeitsunfähige Long-Covid-Betroffene, die Ende 2020 erkrankten, die Kündigung bevor. Das stellt Jeanny vor ernsthafte Existenzsorgen. Denn zum RAV kann sie nicht gehen, weil sie unter diesen Einschränkungen als «nicht vermittlungsfähig» eingestuft werden würde.

Dann wäre sie ein Fall für die Invalidenversicherung – eigentlich, denn der Präzedenzfall wurde noch nicht geschaffen. «Wir wissen im Endeffekt nicht, ob die IV zahlt oder nicht. Diese Ungewissheit sitzt uns im Nacken und sie trägt nicht zur Genesung bei», sagt Jeanny. Sie erinnert an den jahrelangen Streit um das Schleudertrauma: Auch dort wurden IV-Leistungen nicht gewährt, denn es braucht genaue Diagnosen – nicht erklärbare Schmerzstörungen seien mit genügend Willensanstrengung überwindbar, hiess es. Das Bundesgericht kippte das Grundsatzurteil erst 2015.

Long Covid als Berufskrankheit?

Droht das auch den Long-Covid-Betroffenen? Das Problem ist, dass über die genauen Mechanismen der Krankheit noch zu wenig bekannt ist. Selbst einige Ärzt*innen, sagt Jeanny, bezeichnen die Leiden als psychosomatisch und diagnostizieren Depressionen. Laut einer Studie begünstigen Vorerkrankungen Long Covid. 

Dass sich die Diskussion um die Übernahme der IV-Leistungen bei Long Covid wiederholt, befürchtet auch der Basler Fachanwalt Nicolai Fullin: «Jetzt könnte in der Rechtssprechung noch Sympathie mit den Betroffenen bestehen, in ein paar Jahren ist das unklar.» Eine Möglichkeit, gerade bei Personen in Gesundheitsberufen, könnte ihm zufolge sein, Long Covid als Berufskrankheit geltend zu machen – dann müsste die Unfallversicherung übernehmen. Den Fall einer betroffenen Person bearbeitet er derzeit, ein Gutachten wird erstellt. Hat das Vorhaben Erfolg, wäre es ein Präzedenzfall.

Anwalt Nicolai Fullin will Long Covid als Berufskrankheit geltend machen – dann müsste die Unfallversicherung zahlen.

Anwalt Nicolai Fullin will Long Covid als Berufskrankheit geltend machen – dann müsste die Unfallversicherung zahlen. (Foto: zVg)

Auch in Jeannys Fall hat die Unfallversicherung nun eine Begutachtung in Auftrag gegeben, inklusive psychologischem Gutachten. Bis die Ergebnisse vorliegen und klar sein wird, wie es weitergeht, hat Jeannys Arbeitgeber*in ihr noch drei Monate Aufschub bis zur Kündigung gegeben. Trotzdem verzweifelt Jeanny an der Ungewissheit. Sie muss die Tränen unterdrücken, wenn sie das Gedankenspiel ausspricht, ihr Haus verkaufen zu müssen, um von diesem Geld zu leben. «Wir fallen durch die Maschen des Auffangnetzes. Ganze Existenzen gehen daran unverschuldet kaputt.» Sie sieht es als sozialen Absturz.

Der Stress um ihre Existenz bereitet ihr zusätzliche Mühe. «Wir brauchen einfach Ruhe, um wieder gesund werden zu können. Aber weil wir die ganze Zeit kämpfen müssen, können wir uns nicht aufs Gesunden konzentrieren», sagt Jeanny. Es sei ein Kampf darum, verstanden und mit den eigenen Leiden anerkannt zu werden. 

Was hilft?

Es gibt verschiedene Therapieansätze, doch die Forschung muss die Wurzel des Übels noch finden. An der Universität Basel forscht zum Beispiel der Neurowissenschaftler Dominque de Quervain, ob ein Multiple-Sklerose-Medikament auch bei Long Covid hilft

Das einzige, wozu Ärzt*innen derzeit raten können, ist das sogenannte «Pacing» und auch das beschreibt lediglich, dass man aufpassen soll, sich nicht zu sehr anzustrengen und die niedrigen Belastungsgrenzen nicht auszureizen. 

Wenn keine Forschungsergebnisse zur Wirksamkeit von Medikamenten vorliegen, zahlt die Krankenkasse nicht. Wer es sich leisten kann, probiert teure Therapiemöglichkeiten aus. Die Blutwäsche, Apherese genannt, stellt für viele Betroffene eine Hoffnung dar, da Patient*innen von Besserungen (allerdings nicht von Heilung) berichten, auch wenn Ärzt*innen davon abraten – eine Behandlung kostet 2000 Franken. 

Wenn die konventionelle Medizin (noch) keine zufriedenstellenden Lösungen kennt, schlägt die Stunde der Alternativmedizin: Auch Jeanny berichtet von solchen Therapieansätzen, deren wissenschaftlichen Nutzen nicht nachgewiesen ist, die ihr und anderen Betroffenen aber helfen würden. Sie würde sich mehr Offenheit der Krankenkassen dafür wünschen.

Wenigstens an einem Ort sind die Gegenüber nicht so überfordert, wie viele Freund*innen und Familienmitglieder, die sich in den vergangenen zwei Jahren von Jeanny abwendeten: in der Long-Covid-Sprechstunde. Die Rehab in Basel bietet diese an. Eine Gruppe Betroffener trifft sich dort einmal pro Woche in dem Quartiercafé, in dem wir jetzt sitzen.

Man kennt die Belastungsgrenzen, muss sich nicht erklären – und bestärkt sich, wieder am Leben teilzunehmen; mit einer Freundin aus der Gruppe war Jeanny vor kurzem an einem Konzert. «Das war Hammer, nach zwei Jahren mal wieder sowas zu erleben. Es war es wert, danach zwei Wochen flach zu liegen», sagt sie.

In dem Quartiercafé ist es ruhiger geworden. Doch nach anderthalb Stunden Gespräch ist es genug für Jeanny. Sie wird nach Hause fahren und sich ausruhen.

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