Preisschild der Masslosigkeit
Die steigenden Krankenkassenprämien schmerzen viele Versicherte. Die höheren Rechnungen führt Kolumnistin Eva Biland aber auch auf ein zunehmend massloses Konsumverhalten der Patient*innen zurück. Der Leistungskatalog müsse entschlackt werden, findet die FDP-Politikerin und Hausärztin.
Zugegeben: Wen ärgern die höheren Prämienrechnungen nicht? Einerseits belastet es das eigene Budget, und andererseits kommt die eigene Solidaritätsmoral etwas ins Wackeln, wenn man vielleicht selber kaum medizinische Leistungen benötigt und erkennen muss, dass der solidarische Beitrag an unsere Gesellschaft immer bedeutender wird. Und man mit den eigenen Prämiengeldern die zunehmenden Kosten anderer decken muss.
Nun gibt es in der Sinnhaftigkeit des solidarischen Beitrags jedoch Unterschiede: Wenn an Kosten partizipiert werden muss, welche einer jungen krebskranken Familienmutter zugutekommen, einem autoimmunerkrankten Sportler, einem an Leukämie erkrankten Kind oder einem herzkranken Senior, dann ist jeder Rappen richtig eingesetzt.
«Das Angebot an Diagnostik kann im Nutzer Appetit wecken, wie der Blick auf ein volles Schokoladenregal im Supermarkt.»
Wenn der solidarische Beitrag jedoch ein ungebremstes Konsumverhalten von – ich nenne es – Lifestyle-Medizin mitfinanziert, dann tut jeder Rappen weh. Das Angebot an Diagnostik kann im Nutzer Appetit wecken, wie der Blick auf ein volles Schokoladenregal im Supermarkt: Warum bei verstauchtem Fuss einfach zuwarten, wie es der Hausarzt vielleicht noch empfohlen hat, wenn ein MRI viel besser Auskunft geben könnte, wann genau ich mich wieder zum Joggen verabreden kann? Weshalb einfach einen Schnupfen mühsam auskurieren, wenn mir doch ein Abstrich genau sagen kann, welcher respiratorischer Virus an meinem Schnupfen schuld ist und ich mir damit besser Rechenschaft ablegen kann über mein Fehlen am Arbeitsplatz? Weshalb sich dem lästigen menopausalen Schwitzen hingeben, wenn teure laborchemische Hormonbestimmungen vermeintlich einen quantitativen Anhaltspunkt über das biologische Alter verraten können? Weshalb einfach anerkennen, dass die eigene Kondition vielleicht etwas nachgelassen hat, wenn ein Herzultraschall doch noch mehr Krankhaftes erkennen könnte, als einfach den Verdruss über den eigenen Leistungszerfall hinzunehmen?
Eva Biland politisiert für die FDP Basel-Stadt und arbeitet als Hausärztin. In ihrer Kolumne «Bilan(d)z» schaut sie aus bürgerlicher Sicht auf den Kanton und seine Menschen.
So ironisch diese Überlegungen nun vielleicht formuliert sein mögen, so ernsthaft ist aber die Erkenntnis im Praxisalltag, dass das medizinische Konsumverhalten – besonders in urbanen Regionen – über die Jahre eine gewisse Masslosigkeit erreicht hat. Die Gesundheitskosten pro Patient erklären 43 Prozent der Kostensteigerung in fünf Jahren.
Sicherlich haben Pandemie und die digitale Informationsflut das ihre dazu beigetragen, dass sich das Grundvertrauen in den eigenen Organismus nicht gerade verbessert hat. In der zweiten Jahreshälfte übrigens nehmen die Begehrlichkeiten nach Untersuchungen jeweils zu, weil der «Konsument» sich dann ausrechnet, dass sein allenfalls inzwischen erreichter Selbstbehalt nun Diagnostik im grösseren Stil zulässt, zulasten von Versicherungsgeld. Das schweizerische Solidaritätsprinzip wird durch eine zunehmende Masslosigkeit auf die Probe gestellt.
«Das schweizerische Solidaritätsprinzip wird durch eine zunehmende Masslosigkeit auf die Probe gestellt.»
Das solidarische Kassen-System sollte dennoch nicht prinzipiell infrage gestellt werden, die obligatorische Grundversicherung ist Basis für die hohe Qualität der schweizerischen Gesundheitsversorgung. Es ist lediglich überladen durch einen Leistungskatalog, für dessen Entschlackung alle Stakeholder in die Pflicht genommen werden müssen. Auch Forderungen nach einer Einheitskrankenkasse vermögen die Gesundheitskosten nicht einzudämmen, sofern die Menükarte an Angeboten nicht entschlackt wird und verspricht deshalb keine Kosteneffizienz. Dagegen wirken Managed-Care-Sparmodelle erwiesenermassen kostendämpfend.
Der Patient muss hierfür einen «Gatekeeper» als erste Anlaufstelle bei Gesundheitsfragen konsultieren. Solange jedoch an der Ausbildung von Grundversorgern bewusst gespart wird und es an Gatekeepern mangelt, werden sich attraktive alternative Versicherungsmodelle leider nicht durchsetzen können, weil die Wartezeiten beispielsweise beim Hausarzt schlicht zu lang sind. Die Grundversorgung zu stärken plus den Leistungskatalog zu entschlacken, bieten deshalb in erster Linie Hand hinsichtlich kostentechnischer, aber auch demographischer Entwicklung.
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