Ernas letzter Auftritt

Am Theater Basel lassen sich in «Erna» derzeit sieben Frauen auf der Bühne bewundern – alle von ihnen spielen alle Rollen. Das Besondere: Die Ernas sind keine professionellen Schauspielerinnen. Unserem Kritiker Felix Schneider imponiert das, er hat die Uraufführung besucht.

Rezension Theater
Sieben Ernas in Action.

Sieben Frauen, die meisten sind jung, keine von ihnen ist professionelle Schauspielerin. Aber alle spielen die alte Erna. Und alle spielen auch Ernas Tochter, Ernas Enkelin und Nebenrollen. Und sie spielen Ernas Erinnerungen, Ernas Verwirrtheit, Ernas Tod. Das ist das Besondere am Stück «Erna», geschrieben von Silvan Rechsteiner und am Mittwoch am Theater Basel uraufgeführt.

Die sieben Ernas haben in der Theaterwelt noch nicht einmal einen positiven und wertneutralen Namen. «Lai*innen» nennt man sie, «Dilettant*innen», «Amateur*innen» – alles mehr oder weniger abwertende Bezeichnungen. «Nicht-Professionelle» sagt nur, was sie nicht sind. Dabei steht fest, was sie sind: wichtig und wunderbar.

Das Theater Basel nennt sie «alle, die selbst mitmachen wollen», und fördert und pflegt sie seit Jahrzehnten mit grossem Erfolg. Martin Frank heisst der Mann, der sich seit 27 Jahren um diese Sparte kümmert, die für die Verankerung des Theaters in der Stadt extrem wichtig ist. Derzeit gibt es sechs sogenannte «Spielclubs». Jeder Club besteht aus 10 bis 15 Mitgliedern, alles Freiwillige, die manchmal drei bis vier Jahre zusammenbleiben und von Profis betreut werden. Die Nachfrage ist riesig. Dass die «Selbst-mitmachen-Wollenden» Hervorragendes leisten, kann man derzeit bei den Musiktheaterproduktionen in Haydens «Schöpfung» und im Schauspiel bei der Uraufführung von «Erna» sehen.

Rollenwechsel

Selbst an einem Theater wie dem Basler, das auf dem Gebiet der Amateurbetreuung enorme Verdienste hat, ist eine Produktion wie «Erna» an den Rand gedrängt. Es gibt kaum Werbung, kein Programmheft – und alle sind erstaunt, als sich der Kritiker für diese Aufführung interessiert.

Aber immerhin vergab das Theater einen Schreibauftrag an den 29-jährigen Silvan Rechsteiner, der für Theater, Film und Hörspiel schreibt. Aufgewachsen in Rodersdorf, gefrustet von der Schule, nur kurzzeitig erfreut von seinem Job bei der SBB, hat er seine Theatererweckung in der Strassenbahn Nummer 10 zwischen Heuwaage und Rodersdorf erlebt. In diesem Trämli spielte nämlich das Ex/ex-Theater zur Hundertjahrfeier der Tramlinie das Stück «Rodersdorf einfach». Der 16-Jährige Silvan durfte mitmachen, und seither ist es um ihn geschehen.

Er studiert szenisches Schreiben in Zürich, Berlin und derzeit Wien. Mit dem Dramaturgen und Theaterdozenten Stephan Teuwissen pflegt er eine langjährige, produktive Zusammenarbeit, und vor Kurzem hat ihn der renommierte Rowohlt Theater Verlag aufgenommen. Sein erstes Theaterstück beruhte auf Erfahrungen, die er als Mitglied des «Solinetzes Basel« im Gefängnis Bässlergut gemacht hatte. Er hatte Häftlinge in der Ausschaffungshaft besucht und nannte sein Stück darum auch «Auszuschaffen». Schon damals, anno 2018, experimentierte er mit der Rollenverteilung auf dem Theater. In «Auszuschaffen» gab es keine festen Personen, die Spielenden mussten oder durften bei jeder Vorstellung neu aushandeln, wer welche Sätze sprach.

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In «Erna» spielen sieben Frauen verschiedenen Alters die alte Erna, ihre Tochter, ihre Enkelin und eine Reihe von Nebenfiguren. Das Stück beginnt durchaus realistisch: Die alte Erna sitzt im Rollstuhl, ihre Enkelin und ihre Tochter besuchen sie. Bald aber hebt das Stück ab. Alle spielen in schnellem Wechsel alle Personen. Erinnerungsfetzen ziehen vorbei wie Wolken im Wind. Erna, manchmal dement, manchmal klar, spielt mit der Sprache, assoziiert wild klangähnliche Wörter, erinnert sich dann aber auch präzise an Details und spricht andererseits wieder mit unbekannten Personen.

Die Zeiten gehen durcheinander: «Heute. Monate später. Vor Jahren! Vor Jahrhunderten!» heisst eine wiederkehrende Zeitangabe. Das Ganze ist aber als Spiel wohlstrukturiert: Dem Ausflug in den Garten folgen Erinnerungen, zum Beispiel an eine Reise nach Berlin – Erna war aus dem Heim abgehauen. Oder sie erinnert sich, wie sie einmal im Zug die Notbremse zog. Und es gibt die starke, die groteske Szene, wie die Grossmutter ihre Enkelin beim Kauf des ersten Büstenhalters begleitet.

Eine Enkelin in Panik

Das ist sogenanntes «Erzähltheater», das heisst, die Spielerinnen verkörpern ihre Figuren nicht durchgehend, sie lassen sie eher in der Fantasie der Zuschauenden entstehen, indem sie von ihnen erzählen. Dabei scharfe Charaktere zu zeichnen, ist nicht leicht, gelingt aber im Falle Ernas und der Enkelin sehr gut. Die temperamentvolle Grossmutter ist manchmal von schönem Eigensinn, manchmal eine Nervensäge, manchmal undurchschaubar. Die Beziehung der Enkelin zu ihr ist im Konflikt wie in der Liebe – beides gibt es zwischen den Frauen – ungestüm und anrührend. Das gilt insbesondere für die Todesszene, in der offen bleibt, ob die Enkelin sie nicht geradezu umbringt, indem sie sie in einem Panikanfall mit Kirschstängeli vollstopft.

Unter der Regie von Juliane Schwerdtner spielen Carla Bertschi, Lena Flubacher, Elin Fredriksson, Ellen Schmidt, Sibylle Schneider, Josette Spirig und Svea Stöckli. Sie alle sind von verblüffender, stupender Präzision beim Agieren und Sprechen. Da sitzt jedes Wort und jede Bewegung. Natürlich gibt es Unterschiede: Spielerinnen, die sich anstrengen müssen, und solche, die scheinbar mühelos die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Ihnen allen zuzusehen und zuzuhören macht aber durchweg Spass. Der Spieleifer, die Hingebung und oft auch einfach die Schönheit dieser Menschen sind überwältigend.

Kritisch wäre zu sagen, dass Inszenierung und Text gelegentlich wie eine Rüstung wirken, unter der die Spielerinnen verschwinden. Man könnte sich durchaus ein Theater vorstellen, das mehr von den Spielerinnen aufnimmt, ihre verschiedenen Persönlichkeiten und Temperamente sichtbarer macht.

Die nächste Vorstellungen von «Erna» laufen am Theater Basel am 05.05., 08.05., 10.05., 11.05., 13.05., 16.05. und 17.05.

zwei Herzen
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