Marthalers Tragödie der Seltsamkeiten

Christoph Marthaler und sein Ensemble führen mit «Abteilung Leben» durch die verlassene alte Gemeindeverwaltung von Birsfelden. Dort trifft man auf die Geister der vergessenen Beamt*innen. Das ist zum Teil sehr witzig, dauert aber etwas gar lange und am Schluss bleibt der Sinn diffus im Staub des Beamtentums verborgen.

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Ueli Jäggi, Carina Braunschmidt und Jörg Pohl im Beamt*innenalltag (v. l. n. r.).

Hinter fast allen Türen – und davon gibt es ganz schön viele in der alten Gemeindeversammlung – trifft man auf dieses Porträt des Mannes mit dem autoritär bestimmenden Lächeln. Er entspricht dem Inbegriff des Patrons, dessen Aura auf unheimliche Weise noch immer durch die Räume schwebt. Es sind Räume, die dem Inbegriff oder einem dystopischen Abbild der verstaubten Amtsstuben-Welt entsprechen, als hätte Marthalers Leibausstatter Duri Bischoff diese extra für die Produktion oder besser noch: für eine Verfilmung eines Romans von Franz Kafka geschaffen.

In dieser tatsächlichen Gemeindeverwaltung trifft man nun, in drei Gruppen durch den Bürokratie-Dschungel geführt, auf die zurückgelassenen und vergessenen Beamt*innen von einst, die zu Geistern des Amts geworden sind. Etwa auf den Archivaren mittleren Alters (Martin Hug), der in seiner Aktentasche ein undefiniertes Haustier mit sich führt und sich in einer Endlosschlaufe durch das mechanische Einwohner*innen-Register – Marke «Hänel Rotomat» wühlt.

Marthaler Premiere
Authentisches Büro-Life, gespielt in der alten Gemeindeverwaltung von Birsfelden.

Er ist eine der verlorenen Figuren, denen man an diesem zweieinhalb Stunden dauernden Abend begegnet. Diese Figur hat den Vorteil, dass sie zumindest einigermassen fassbar ist, was bei den anderen eher weniger der Fall ist. Diese (Jan Bluthardt, Karl-Heinz Brandt, Carina Braunschmidt, Raphael Cramer, Vera Flück, Ueli Jäggi, Jakob Maison, Peter Keller und Jörg Pohl) hangeln, brabbeln und singen sich in gewohnter Marthaler-Manier in Endlosschleifen durch ihre Szenen, ohne dass ein wirklich fassbarer Sinn erkennbar wird.

Das geht vom beamtensprachlichen Stichwort-Stakkato über absurd-komische (weil wohl wahre) vorgetragenen Anleitungen etwa zur elektronischen Hunde-Registrierung bis zum mehrstimmigen Wohlgesang mit den hier unpassenden Zeilen: «Wir sitzen so fröhlich beisammen und haben uns alle so lieb …». Dieser Gesang wird denn auch folgerichtig vom Cellisten Martin Schütz auf brachiale Art jeweils musikalisch in den Boden gestampft.

Letztlich sehen wir uns lediglich austauschbaren Geistern von Beamtinnen und Beamten gegenüber.

Die wahre Entdeckung des Theaterabends ist das Setting, konkret die Gemeindeverwaltung selber. In dieser bedienen sich Marthaler und sein Ensemble aus dem Ideen- und Szenen-Fundus, den man als Vertrauter des Marthalerkosmos’ kennt. Da kommt es zu ausgesprochen witzigen und originellen Momenten – etwa wenn Ueli Jäggi im ehemaligen Einwohnerratssaal in bester Totemügerli-Manier wortgewandt-wortlose Anweisungen erteilt oder wenn Carina Braunschmidt zum sinnentleerten Beamtenjargon-Monolog ansetzt.

Marthaler
Peter Keller spielt sich in Marthaler-Manier durch die Szenen.

Je länger je mehr ermüden die in Endlosschlafen vorgebrachten Skurrilitäten des Amtsalltags aber auch. Letztlich sehen wir uns lediglich austauschbaren Geistern von Beamtinnen und Beamten gegenüber, der Ort als Verwaltung einer speziellen urbanen Vorortsgemeinde selber bekommt keine Seele, keine eigene Vergangenheit. Wenn Karl-Heinz Brandt zu Wagner- oder Schubert-Kompositionen singt, ist das in diesem Setting zwar absurd-komisch und schön schräg. Aber ohne nachvollziehbaren Sinn. Wenn Jan Bluthart mit einem grossen Stapel an Aktenordnern wiederholt stolpert und fällt, dann ist das eine gut gemachte Clownnummer – nicht mehr.

Aber sie sind gut gemacht, die Nummern. Gerne hätten wir dafür kräftigen Applaus gespendet. Aber der Abend endet ohne Vorhang, ohne Verbeugung, so dass das Publikum, ohne reagieren zu können, im abendlichen Birsfelden verschwindet.

Spirgi
Dominique Spirgi goes Bajour.

Dominique Spirgi ist langjähriger Kulturjournalist. Dieser Text ist zuerst auf seinem Stadtblog erschienen. Bajour darf ihn übernehmen.

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