Schulen sind gefordert – Eltern auch
Seit dem Angriff der Hamas auf Israel vor einem Monat nehmen antisemitische Vorfälle zu. Was dagegen tun? Auf politischer Ebene schlagen zwei Grossrät*innen Massnahmen vor – und bei Gärngschee erzählen Eltern, was ihnen bei diesem Thema hilft.
Fragt man die Bajour-Community, ist das Verdikt klar: Es braucht angesichts von Rassismus und Antisemitismus Prävention in den Bildungseinrichtungen. Erziehungsdirektor Conradin Cramer schreibt auf unsere Frage des Tages: «Erschreckenderweise wissen einige Schülerinnen und Schüler heute nicht mehr viel über den Holocaust.» Teilweise werde ihnen zu Hause nicht vermittelt, «was es im letzten Jahrhundert in Europa bedeutete, jüdisch zu sein.» Die Schule sei besonders gefordert.
Klar ist: Antisemitismus nimmt zu. Allein dem Schweizerisch-Israelitische Gemeindebund SIG wurden seit Oktober über 40 Vorfälle in der Deutschschweiz gemeldet. In Basel richtet sich der Blick auch auf die Schulen: «Jüdische Kinder und Jugendliche werden auf dem Pausenhof, aber auch auf der Strasse bedroht und beleidigt», erzählt Mirjam Rosenberg von der Israelitischen Gemeinde Basel (IGB) Ende Oktober Bajour.
In den letzten Jahren legten Bildungseinrichtungen – Schulen wie Unis – ein besonderes Augenmerk auf die MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik), deren Stärkung unter anderem dem Fachkräftemangel in technischen Berufen entgegenwirken soll. Gleichzeitig kommen Geisteswissenschaften zum Teil unter Druck.
Rassistische und antisemitische Vorfälle kommen auch an Schweizer Bildungseinrichtungen immer wieder vor – gerade heute in Zeiten des Kriegs in Israel werden vermehrt Vorfälle gemeldet. Wie kann man dieser Entwicklung entgegenwirken, haben wir die Community gefragt.
Aus dem Parlament kommen jetzt Vorschläge, um die Prävention zu stärken. Postwendend auf unsere Frage des Tages «Rassismus und Antisemitismus: Muss Geschichtsunterricht stärker gefördert werden?» schreibt jgb-Grossrätin Anouk Feurer am Dienstag auf «X»: «Per Zufall sind Philip Karger und ich genau an einem solchen Vorstoss, den wir morgen einreichen werden.»
Am Telefon erklärt Feurer, dass sie zusammen mit dem LDP-Grossrat Philip Karger am Mittwoch gleich zwei Vorstösse einreichen wolle. Am Gedenkanlass vor einem Monat hätten sie mit Sorge beobachtet, wie viel Polizeischutz nötig gewesen sei, um die Sicherheit zu garantieren. Kurz darauf sei im Rathaus auch die Tribüne geräumt worden, als der Grosse Rat die Resolution zu Israel verabschiedet hat. «Das hat uns zu denken gegeben und wir haben überlegt, welche Präventionsmassnahmen es zum Thema Antisemitismus noch braucht.»
Persönlich hat Anouk Feurer in ihrer Schulzeit «nicht so viel vom Nahostkonflikt und zum Antisemitismus heutzutage mitbekommen». Deshalb findet sie es wichtig, dass man gerade als Schüler*in Personen kennenlernt, die einem davon aus erster Hand berichten.
Das Programm «LIKRAT» des Schweizerisch Israelischen Gemeindebundes will genau das. Jüdische Jugendliche besuchen eine Schulklasse und stellen dort das Judentum vor, es gibt Raum für Dialog und Begegnungen. Aktuell werde das Programm freiwillig von einer Sekundarschule und einem Gymnasium genutzt. In ihrem Anzug fordert Feurer vom Regierungsrat, ein Programm wie «LIKRAT» in den Lehrplan aufzunehmen. «Dazu sollte man auf Sekundarstufe ansetzen und nicht erst im Gymnasium», sagt Feurer, «denn das besuchen ja nicht alle».
Der zweite Vorstoss von Philipp Karger bezieht sich auf den öffentlichen Raum: Karger ist Mitglied der Fachstelle Extremismus- und Gewaltprävention und engagiert sich schon lange im Bereich Antisemitismus und Antirasissmus. Sein Anzug will das Judentum in Basel unabhängig von den Schulen sicht- und erlebbarer machen. Dazu fordert er unter anderem Tafeln im öffentlichen Raum, die die jüdische Geschichte in der Stadt darstellen.
«Bei Antisemitismus spielt die Schoah eine grosse Rolle, warum hier sicher der Geschichtsunterricht richtig ist», findet Ralph Lewin, Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds SIG bei der Frage des Tages. Prävention gehe aber weit darüber hinaus – auch Lewin erwähnt als Beispiel das Projekt LIKRAT. «Kreative Ansätze sind gefragt, Ansätze, welche die Jugendlichen in ihrer Lebenswelt abholen.»
Bajour-Leser Mike Wunderlin sieht aber auch die Eltern in der Pflicht. Wie sprechen denn Erziehungsberechtigte heute mit ihren Kindern über den Holocaust und Antisemitismus? In der Gärngschee-Community sorgt diese Frage innert kürzester Zeit für grosse Diskussionen. Claudia findet es «schwierig», sie selbst habe im Alter von 12 Jahren zum ersten Mal vom Holocaust gehört und sie sei «sehr erschüttert» gewesen. Deshalb wisse sie nicht, ob sie heute mit einem jungen Kind darüber sprechen würde.
Andere hingegen schildern, dass sie «altersgerecht» mit ihren Kindern schon früh über Weltkriege und den Holocaust gesprochen hätten – zum Teil aufgrund von Kriegserfahrungen in der Familiengeschichte, zum Teil weil «Fragen kommen». Einige greifen zur Erklärung der komplexen Thematik auch auf mediale Hilfsmittel zurück: «Mit etwa 12 Jahren haben wir die Filme Schindlers Liste und Anne Franks Tagebuch zusammen angeschaut», schreibt Denise und erzählt von einer SWR-Dokuserie für Kinder, die damals im deutschen Fernsehen den 2. Weltkrieg und die Folgen erklärt habe. «Auch sehr lehrreich für die Eltern», fügt sie an.
Sibylle empfiehlt ebenfalls Sendungen und Podcasts, zum Beispiel von WDR Kinder: «Da die Beiträge extra für Kinder produziert werden, wird viel erklärt, ohne dass das Hintergrundwissen nötig ist, das wir Erwachsenen haben.» Und Pädagogin Nadine empfiehlt als Gesprächseinstieg das Buch «Als Hitler das rosa Kaninchen stahl», ein Jugendbuch, das von den Anfängen des Dritten Reichs erzählt.
Die Beispiele zeigen: Nicht nur Schulen und Eltern sind in der Verantwortung, sondern auch die Medien.
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