«Wir haben in Gaza nichts mehr, was uns hält»

An Informationen aus Gaza zu kommen, wird immer schwieriger – die Lage der Menschen ist prekär und der Internetzugang stark eingeschränkt. Bajour erhielt die Möglichkeit, mit Maysaa Al Khodary, der Mitarbeiterin einer NGO, zu sprechen.

Maysaa Al Khodary
Das ehemalige Haus von Maysaa Al Khodary ist komplett zerstört. (Bild: zVg, Collage Bajour)

Die Lage in Gaza ist verheerend. Israel hat eine neue Offensive auf Gaza-Stadt gestartet und droht der Hamas, die Stadt zu zerstören. Israelische Truppen sollen bereits in einen Teil der Stadt eingedrungen sein. Dort befinden sich rund eine Million Menschen und die humanitäre Situation ist dramatisch: Die Bevölkerung Im Bezirk Gaza ist von einer Hungersnot betroffen. Bajour hat über eine Kontaktperson, die in der Region in der humanitären Hilfe arbeitet, die Möglichkeit erhalten, mit Maysaa Al Khodary zu sprechen. Sie lebt und arbeitet in Gaza-Stadt und gibt im Interview Einblicke in ihren Alltag im Krieg.

Maysaa Al Khodary, die Bilder, die uns in der Schweiz aus Gaza erreichen, zeigen nur einen Teil der Realität. Wie sieht Ihr Leben momentan aus?

Unser Tag hat heute um sieben Uhr morgens mit intensivem Beschuss durch die israelische Armee begonnen. Im Moment ist Gaza-Stadt kontinuierlich unter Beschuss, auch nachts. Wir schlafen daher sehr schlecht und leben in ständiger Angst. Seitdem Israel angekündigt hat, Gaza-Stadt besetzen zu wollen, haben wir zudem Sorge, dass unser Wohnhaus evakuiert wird. 

Wie ist die Versorgung? Haben Sie ausreichend Wasser und Lebensmittel?

Was das Wasser angeht, ist die Lage sehr schlecht. Die Gemeinde versucht, Wasser bereitzustellen oder Wasser in Leitungen oder das Wassernetz zu pumpen, aber das funktioniert nur an einem Tag in der Woche. Das Wasser ist dann auch nicht für alle zugänglich. Auch in dem Gebäude, in dem ich mit meiner Familie lebe, gibt es kein fliessendes Wasser. Deshalb haben meine beiden älteren Söhne die Aufgabe, mit Kanistern zum Wassertank zu gehen, wenn er kommt. Sie sind 11 und 14. Mein vierjähriger Sohn hat sich letztes Jahr sehnlichst einen kleinen Kanister gewünscht, damit auch er mir Wasser bringen kann. 

Maysaa Al Khodari
Zur Person

Maysaa Al Khodary ist 39 Jahre alt und lebt mit ihrem Mann, ihren drei Söhnen und ihrer Katze in einem zerstörten Haus in Gaza-Stadt. Sie arbeitet als Sicherheitsbeauftragte bei einer internationalen Nichtregierungsorganisation.

Wie läuft das Wasserholen ab?

Meine beiden Söhne stehen meistens stundenlang in einer Schlange von Menschen. Es gibt dort oft Streitigkeiten. Häufig müssen sie zwei Stunden warten, bis der Wassertank ankommt. Dann müssen sie erneut 30 Minuten warten, um die Kanister zu füllen. Meine Söhne bringen die Kanister dann in unser Haus und wie füllen das Wasser in einen Tank.

Handelt es sich um Trinkwasser?

Nein, es ist schmutziges Wasser, das eigentlich nicht zum Trinken geeignet ist. Aber wir haben keine andere Wahl. Wir müssen dieses Wasser trinken. Ich hatte deshalb schon Nierenkoliken. Wir recyceln das Wasser: Ich verwende es zum Waschen, anschliessend zum Geschirrspülen und dann für die Toilettenspülung. 

Maysaa Khodari
Das Foto von Maysaa Khodari und ihrer Familie auf der Flucht wurde Ende Januar aufgenommen. (Bild: zVg)

Sind Sie, seit der Krieg begonnen hat, die ganze Zeit in Gaza-Stadt gewesen?

Nach dem Attentat der Hamas am 7. Oktober haben mein Mann, meine drei Söhne und ich Gaza am 13. Oktober verlassen. Wir sind gemeinsam mit unserer Katze in den Süden geflüchtet und haben vier Monate lang in einer UNRWA-Notunterkunft gelebt. Dann wurden wir gezwungen, die Unterkunft zu verlassen und wussten nicht, wohin wir gehen sollten. Also haben wir auf der Strasse in einem Zelt geschlafen. So hat meine Familie 53 Wochen lang gelebt. Nun sind wir wieder in Gaza-Stadt untergekommen, in einem Haus, das stark beschädigt ist.

Wovon ernähren Sie und Ihre Familie sich?

Von März bis vor etwa zwei Wochen war die Lage schlimm, da nichts mehr auf dem Markt verkauft wurde. Das Essen war so knapp, dass man sich in Gefahr begeben musste, wenn man an den Verteilungszentren Essen holen wollte. Man kann dort bedroht oder auch überfallen werden, oft wird das Essen auch wieder gestohlen. Meine Familie, meine Brüder, meine Schwestern – alle um mich herum – sind noch nie zu solchen Verteilungszentren gegangen. Aber manche Leute machen es, sie ergattern dort Lebensmittel und verkaufen sie uns teuer weiter.

Dattel
Anfang August hat Maysaa Al Khodary nach fünf Monaten erstmals wieder Datteln gekauft. (Bild: zVg)

Gibt es jetzt wieder Nahrungsmittel auf dem Markt zu kaufen?

Seit etwa zwei Wochen dürfen Händler wieder Waren nach Gaza einführen. Sie haben sich mit der israelischen Besatzungsmacht abgestimmt. Seitdem ist es für uns wieder einfacher, Essen zu kaufen. Mehl, Öl, Zucker und Käse oder Kaffee werden aktuell eingeführt. Aber wir haben seit sehr Langem kein Obst, Gemüse oder frisches Fleisch gesehen, nicht einmal Fleischkonserven. Einmal konnte ich Datteln kaufen, das war eine Ausnahme. Wir erhalten nur die grundlegendsten Lebensmittel. Schokolade, Süssigkeiten, Bonbons, Snacks, alles, wovon Kinder zwischendurch einmal träumen, gibt es natürlich auch nicht. Ich wiege heute 57 Kilogramm, knapp 20 weniger als vor dem Krieg.

Was kochen Sie für die Familie? 

Ich mische alles, was wir bekommen, einfach zusammen und koche es über dem offenen Feuer. Wir haben keinen Strom. Ich habe ein Solarpanel, mit dem ich den Akku meines Handys und meines Laptops aufladen kann. Das ist meine einzige Stromquelle. 

Wie sieht Ihr Alltag sonst aus, womit beschäftigen sich Ihre Kinder tagsüber?

Wir haben nicht viel zu tun, aber wahnsinnig viel Zeit. Neben meiner Arbeit bereite ich Essen für meine Kinder zu oder wasche Wäsche mit der Hand. Meine Kinder gehen zum Glück zur Schule. Es ist keine offizielle Schule wie früher, sondern eine Initiative von Lehrkräften, die früher im Bildungsbereich gearbeitet haben. Diese Bildungsinitiativen werden von Unicef unterstützt. Die Kinder sind also beschäftigt und lernen auch etwas. Aber unser Alltag ist natürlich in keinster Weise mit dem Leben vor dem Krieg vergleichbar.

«Die Stadt ist komplett ausser Kontrolle.»
Maysaa Khodari, Anwohnerin in Gaza-Stadt

Was ist die grösste Herausforderung?

Neben dem Hunger und der Angst vor einem Angriff belastet mich sehr, dass wir keinerlei Privatsphäre mehr haben. Als Ehepaar haben wir keine Sekunde alleine, um über uns selbst, unsere Gefühle oder unsere Zukunft zu sprechen. Wir leben in einer Gemeinschaftsunterkunft. Die einfachsten Dinge, die früher selbstverständlich waren, gibt es nicht mehr. Freunde sehen, Kindergeburtstage feiern, einfach durch die Strassen laufen. Alles hat sich verändert. Unsere Träume und die unserer Kinder haben sich verändert. Wir hatten früher alles, was wir brauchten. Wir lebten ein normales Leben. Und jetzt haben wir nichts mehr. Manchmal schaue ich alte Fotos an und erinnere mich an die Tage, als unser Leben noch bequem und einfach war. Zum Glück habe ich meine Arbeit, die mich etwas ablenkt.

Sie gehen regelmässig ins Büro?

Ja. Ich verlasse mein Zuhause nur, um ins Büro zu gehen. Auch das Gebäude ist niedergebrannt und eigentlich eine Ruine. Früher haben Leute das Gebäude als Schutzraum genutzt. Ich gehe nicht zum Markt, das macht mein Mann, weil es zu gefährlich ist. Auch meine Familie, Brüder und Schwestern besuche ich deshalb im Moment nicht. Gestern haben wir nach einem Beschuss der Israeli am hellichten Tag Leute um Hilfe rufen hören. Aber wir konnten nicht zu ihnen gehen und helfen, weil wir uns dann selbst in grosse Gefahr begeben hätten.

Maysaa Al Khodary
Ausblick von ihrem Balkon in Gaza-Stadt. (Bild: zVg)

Gibt es ärztliche Versorgung?

Es gibt komplett überfüllte staatliche Krankenhäuser oder Feldlazarette von Ärzte ohne Grenzen und dem Internationalen Roten Kreuz. Mein Mann arbeitet im Gesundheitswesen, er sagt, die Auslastung im Krankenhaus liegt bei 200 Prozent. Die Patienten müssen auf dem Boden liegen, so voll ist es. Verletzte Menschen müssen oft tagelang warten, bis sie operiert werden. Viele sterben, während sie auf die medizinische Behandlung warten. 

Wie informieren Sie sich über die aktuelle Lage?

Jeden Abend von sechs bis sieben Uhr hören wir alle zusammen israelisches Radio. Es ist die einzige Informationsquelle, die wir haben. Wir haben kein Internet zu Hause, keinen nationalen Radiosender oder offizielle Kommunikationskanäle, über die wir uns informieren könnten. Im Büro habe ich zu gewissen Zeiten Internet und Zugang zu den Sozialen Medien.

Wie schätzen Sie die politische Lage in Gaza-Stadt ein? 

Die Stadt ist komplett ausser Kontrolle. Ich habe noch nie Polizei auf den Strassen gesehen. Manchmal sehen wir maskierte Männer, die behaupten, sie seien von der Hamas. Die Menschen hier sind mit der Hamas nicht zufrieden, sie beklagen sich über sie und verurteilen den Anschlag vom 7. Oktober. Die meisten von uns haben seitdem geliebte Menschen, ihr Eigentum, ihre Häuser und ihre Zukunft verloren, und viele Menschen sind krank. Das alles sind Folgen des Anschlags.

«Die hungernden Menschen würden jetzt allem zustimmen, nur um wieder dauerhaft Nahrung zu bekommen.»
Maysaa Khodari

Wie erleben Sie die israelische Armee in Gaza-Stadt?

Ich bin unter israelischer Besatzung aufgewachsen und weiss, was es bedeutet, kontrolliert zu werden. Ich bin Zeugin der Gräueltaten, die Israel aktuell an der Zivilbevölkerung verübt. Die anhaltenden Bombardierungen, die Hungersnot und das Schlimmste: Der Druck, den sie auf uns ausüben, während sie Evakuierungsbefehle verkünden. Aber jetzt bin ich an einem Punkt angelangt, an dem ich nichts mehr dagegen habe, dass die Israeli mit arabischen Streitkräften nach Gaza kommen und die Kontrolle übernehmen, wenn sie den Wiederaufbau vorantreiben und die Lage in Gaza organisieren. Die hungernden Menschen würden jetzt allem zustimmen, nur um wieder dauerhaft Nahrung zu bekommen. Wir haben nichts zu essen. Wir sind müde. In dieser Hinsicht war Israel erfolgreich.

Können Sie sich eine Zukunft in Gaza vorstellen?

Nein. Auch nicht für meine Kinder. Als Mutter hoffe ich, dass die Grenze geöffnet wird. Ich würde meine Kinder nehmen und weggehen. Ich würde an jeden Ort der Welt gehen, auch nach Somalia. Ganz egal, wohin, einfach weg von hier. Ich habe eine GoFundMe-Kampagne gestartet, wie viele meiner Freunde auch. Wir haben schon Geld gesammelt, um von hier fortzugehen. Sobald die Grenze geöffnet ist, werden wir gehen. Wir haben hier in Gaza nichts mehr, was uns hält.

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Das Interview wurde auf Englisch geführt und ins Deutsche übersetzt.

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Valerie Wendenburg

Nach dem Studium, freier Mitarbeit bei der Berliner Morgenpost und einem Radio-Volontariat hat es Valerie 2002 nach Basel gezogen. Sie schreibt seit fast 20 Jahren für das Jüdische Wochenmagazin tachles und hat zwischenzeitlich einen Abstecher in die Kommunikation zur Gemeinde Bottmingen und terre des hommes schweiz gemacht. Aus Liebe zum Journalismus ist sie voll in die Branche zurückgekehrt und seit September 2023 Redaktorin bei Bajour. Im Basel Briefing sorgt sie mit ihrem «Buchclübli mit Vali» dafür, dass der Community (und ihr selbst) der Lesestoff nicht ausgeht.

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