Corona-Hotspot Steiner Schule
Die Steiner Schule Birseck ist seit Montag im Fernunterricht, 8 Schulklassen sind in Quarantäne, 19 Schüler*innen und 3 Lehrpersonen wurden positiv auf das Coronavirus getestet. Wie konnte das passieren?
«Selbsterziehung», «Selbstbehauptung», «Selbstfindung»: Die Steiner Schule Birseck in Aesch, bietet das, was aus Sicht der Anthroposophie öffentliche Schulen nicht können. Von einer kleinen Gemeinschaft 1977 gegründet, ist das Bildungszentrum – das sich mitten in der anthroposophischen Hochburg Dorneck befindet – 500 Schüler*innen und ihren Eltern eine Heimstätte, an welcher Individualismus als ethisches Prinzip hochgehalten und gefördert wird. Denn «Frei ist nur der Mensch, insofern er in jedem Augenblicke seines Lebens sich selbst zu folgen in der Lage ist», wie Steiner in seiner Philosophie der Freiheit schrieb. Dieses Menschenbild gerät nun in einen zerreissenden Konflikt mit der Realität: der Covid-Pandemie.
«Besorgniserregende» Situation
Seit dem 15. März überschlagen sich die Ereignisse. Die Schule ist geschlossen. Das Amt für Volksschulen Baselland hat bis zu den Frühjahrsferien Fernunterricht angeordnet. Zusätzlich hat der kantonsärztliche Dienst 8 Klassen unter Quarantäne gestellt und, Stand 15. März, wurden 19 Schüler*innen und 3 Lehrpersonen positiv auf das Corona-Virus getestet.
Das bestätigt Rolf Wirz vom Informationsdienst des Kantonalen Krisenstabs auf Anfrage von Bajour. Eine Lehrperson habe sich mit Corona angesteckt, daraufhin habe der Kantonsarzt Tests an der Schule veranlasst, teilt Wirz mit. Wie sich das Virus an der Schule verbreiten konnte, sei unklar: «Bei der grossen Anzahl positiv getesteter Personen kann nicht gesagt werden, ob diese Lehrperson den Ursprung der Infektionskette bildet.»
Der kantonsärztliche Dienst ist offensichtlich alarmiert. Die Behörden liessen letzten Freitag über die Schulleitung eine Mitteilung an alle Angehörigen der Schule weiterleiten. Bajour liegt das Dokument vor. Der kantonsärztliche Dienst schlägt darin deutliche Töne an: «Die Situation bei der Rudolf Steiner Schule Birseck erachten wir als besorgniserregend. Alleine schon die hohe Zahl der Infizierten ist erschreckend.» Und äussert einen für die Schule unbequemen Verdacht: «Zudem ist zu vermuten, dass wegen der fehlenden Bereitschaft sich testen zu lassen, einige Fälle nicht erkannt werden konnten.»
Eine Anzeige und ein Offener Brief
Ist allgemeine Skepsis gegenüber dem Virus und der Pandemie der Grund für die Ausbreitung der Infektionen an der Schule?
Recherchen von Bajour zeigen, wie schwer sich die Schulgemeinschaft mit den Schutzmassnahmen tut. Mehrere Quellen aus dem Schulumfeld bestätigen, dass die Maskenpflicht, die der Kanton Basel-Land im Januar in allen Schulen auf Kinder ab 10 Jahren ausgeweitet hat, auf besonders grossen Widerstand stösst.
Dokumente, die Bajour vorliegen, zeigen, dass an der Schule eine Gruppe von Eltern und Lehrpersonen die Masken als «Maulkorb» betrachten, «der gegen ein Virus ungefähr so hilfreich ist wie es die Anordnung wäre, auf allen Vieren zu kriechen». An einer Sitzung des Eltern-Lehrer-Kreis sei es dann zum Eklat gekommen, weil mehrere Anwesende keine Maske getragen und andere, die das Verhalten als «unverantwortlich» bezeichnen, die Sitzung verlassen hätten.
«Eine Anzeige ohne vorherigen Gesprächsversuch betrachten wir als zerstörerisch für die Gemeinschaft.»Zitat aus Offenem Brief einiger Eltern
Der Konflikt spitzte sich zu: Beim kantonsärztlichen Dienst ging eine Anzeige ein, die die kolportierten Missstände an der Schule anprangert. Das wiederum ärgerte viele Eltern, die sich dann mit einem Offenen Brief an alle Schulangehörige und Eltern richtete: «Eine Anzeige ohne vorherigen Gesprächsversuch betrachten wir als zerstörerisch für die Gemeinschaft», schreiben die Unterzeichnenden, ihre Kinder würden «fürchterlich» unter der Maskenpflicht leiden und fühlten sich «gequält». Viele Lehrer*innen kämen sich wie «Folterknechte» vor, weil sie Kinder zwingen müssten, «krankmachende» Massnahmen zu befolgen.
Wenn einzelne Lehrpersonen die Durchsetzung «aufgrund von Gewissensentscheidungen nicht überall erzwingen sollten, muss das unser Erachtens toleriert werden», heisst es im Brief weiter. Sogar rechtliche Schlupflöcher seien ein Thema gewesen: Eltern hätten einen spezialisierten Rechtsanwalt kontaktiert und sich erkundigt, wie man die Maskenpflicht umgehen könne.
Freiheit vs. Sicherheit
Corona und die Eindämmungsmassnahmen von Bund und Kantonen führen in der anthroposophischen Gemeinschaft zu Diskussionen. Wie eine breit angelegte Studie der Universität Basel aufzeigt, sind Corona-skeptische, sogenannte «Querdenker*innen» überdurchschnittlich Anthroposophie-nah.
Die Basis der anthroposophischen Bewegung lehnt Schulmedizin, Impfungen sowie Masken und Abstandsregeln zu grossen Teilen ab. Für Institutionen, wie die internationale Vereinigung anthroposophischer Ärztegesellschaften oder das sich in Dornach befindende Goetheanum ist die Positionierung bezüglich der Pandemie und deren Bekämpfung ein Spagat: Einerseits werden etwa Impfempfehlungen ausgesprochen, andererseits ist auf den offiziellen Kanälen wie anthroposophie.ch von «indirekten Impfzwang» die Rede.
Diesen Spagat muss offenbar auch die Steiner Schule Birseck vollführen.
«Die behördlichen Vorgaben stehen nicht zur Diskussion.»Ursula Kradolfer, Mitglied der Geschäftsleitung
Die Schule beteuert, dass sie hinter den Schutzmassnahmen stehe und sich in engem Kontakt zu den Behörden befinde und dass diese auch umgesetzt würden: «Unsere Schule setzt das Tragen von Masken gemäss kantonalen Vorgaben um. Alle Lehrpersonen, die heute unterrichten, haben bestätigt, die Masken zu tragen. Einige konnten das aus medizinischen Gründen nicht. Für diese haben wir Vertretungen organisiert», sagt Ursula Kradolfer, die Mitglied der Geschäftsleitung ist.
Seitens der Eltern gebe es Kritik: «Drei Familien weigern sich aufgrund der Masken, ihre Kinder in den Unterricht zu schicken». Für die Eltern wie auch für die Lehrer*innen sei die Situation nicht einfach: «Unsere Lehrpersonen sind enorm belastet», erklärt Kradolfer weiter, wer sich dem Tragen einer Maske verweigere, sei direkt angesprochen worden: «Wo es Schwierigkeiten gab, haben wir Vertretungen organisiert und bei einer Lehrperson mussten personalrechtliche Massnahmen ergriffen werden».
Angesprochen auf die Äusserungen von Eltern und Lehrpersonen in der internen Kommunikation sagt Ursula Kradolfer: «Freie Meinungsäusserung gilt natürlich auch für Personen aus dem Schulumfeld. Mir ist aber wichtig, dass diese Meinungen nicht die Auffassung der Schule repräsentieren», rechtliche Abklärungen zur Umgehung der Maskenpflicht habe die Schule selbst keine veranlasst.
Der Vorwurf, die Schule habe mehr Verständnis für die Verweigerungshaltung als für das Einhalten der Massnahmen wird ausserdem entschieden zurückgewiesen: «Als Mitglied der Geschäftsleitung kann ich sagen: Uns ist es ein Anliegen, auf die kritischen Eltern zuzugehen. Aber die behördlichen Vorgaben stehen nicht zur Diskussion.» Die Schulaufsicht habe bereits einige Male unangekündigt die Schutzkonzepte der Schule überprüft, dies «ohne Beanstandungen».
Das Ziel, den Präsenzunterricht im Rahmen der Schutzmassnahmen aufrechtzuerhalten, weil Fernunterricht in den Augen der Schule «die klar schlechtere Lösung für die Schüler*innen» sei, konnte dennoch nicht erreicht werden.
Nach den Frühjahrsferien werden die Schüler*innen nach Birseck zurückkommen, ob sich bis dahin die Lage beruhigt haben wird, bleibt abzuwarten.