Interview zum Schulstart

Neues Schuljahr, neue Überstunden?

Millionen Schulden in Form von Überstunden und mehr Krankheitsausfälle bei den Lehrer*innen – beides muss der Kanton angehen. Jean-Michel Héritier, der Präsident der Freiwilligen Schulsynode Basel-Stadt, fordert mehr Personal, höhere Pensen und ein Gesundheitsmanagement.

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Jean-Michel Héritier ist Präsident der Freiwilligen Schulsynode Basel-Stadt, dem Basler Verband für Lehrer*innen. (Bild: zVg / Adobe Stock, Collage: Bajour)

Jean-Michel Héritier, der Kanton schuldet Lehrer*innen knapp 58 Millionen Franken in Form von Überstunden. Heisst das, die Lehrer*innen starten schon ausgebrannt ins neue Schuljahr? 

Nein, ich denke, die Sommerpause ist eine starke Erholungsmöglichkeit, die wir in unserem Beruf haben. Arbeitsmedizinische Untersuchungen zeigen, dass Adrenalin und andere Stresshormone während einer Pause mit drei bis vier Wochen Ferien abgebaut werden und man so auch Erholung findet. Das heisst aber nicht, dass der Stress nicht schnell wieder hochgehen kann. 

Mit wie viel Überstunden starten die Lehrer*innen im Schnitt ins neue Schuljahr?

Das ist individuell sehr unterschiedlich. Die meisten arbeiten ein bisschen mehr als ihr vertraglich vereinbartes Pensum. Jede Lehrperson weiss das schon zum Start des Schuljahres.

Die Überstunden entstehen also in der Regel nicht nur, weil spontan und unvorhergesehen mehr Arbeit anfällt? 

Nein, wir haben einfach seit Jahren weniger Personal angestellt, als wir eigentlich brauchen. Die Lücken füllen wir mit Überstunden. Wenn ich Überstunden abbauen will, übernimmt das eine Kollegin aus dem Team und umgekehrt.

Die Lösung liegt also in der Anstellung von mehr Personal?

Ganz klar ja. Oder in der Erhöhung der Pensen. 

«Die meisten arbeiten ein bisschen mehr als ihr vertraglich vereinbartes Pensum.»
Jean-Michel Héritier

Wären Lehrpersonen dafür bereit?

Für alle kann ich nicht sprechen, aber es gibt sicher viele, die bereit wären für höhere Pensen, diese aber nicht bekommen. Für den Kanton würde das natürlich höhere fixe Lohnkosten bedeuten. Das ist im Vorschlag des Erziehungsdepartements (ED) jetzt aber nicht vorgesehen. Man hat diese Kosten bisher lieber in Lektionenguthaben versteckt .

Sie sprechen die aktuelle Vernehmlassung zu einer Verordnungsänderung an: Diese Lektionenguthaben – de facto sind es Überstunden – will das ED damit verringern. 

Dieser Vorschlag kommt jetzt zum dritten Mal. Nur fragt man neu auch die politischen Parteien, was sie davon halten. Wieso auch immer.

Sie klingen nicht begeistert.

Wir versuchen seit Jahren, mit dem ED den Dialog dazu zu führen. So wie das jetzt in der Vernehmlassung daherkommt, klingt es, als hätten wir immer alle Vorschläge des EDs abgelehnt. 

Wörtlich steht in der Vernehmlassung im Zusammenhang mit den bisherigen Diskussionen zur Verordnungsänderung: «Die Ansichten der Parteien lagen weit auseinander. Kompromisse waren nicht möglich.» 

Das stimmt aber nicht. Unser Vorschlag, die Überstunden künftig auszuzahlen, steht jetzt sogar im Vorschlag. Es ist auch vieles gut, was im Gesetzesentwurf steht: Dass die Leute nicht Schulden in Form von Überstunden aufbauen sollen, die Altersentlastung gerechter geregelt wird, Lehrpersonen Zusatzverträge bekommen, wenn sie eine längere Stellvertretung übernehmen … Das Einzige, was wir klar ablehnen, ist die Senkung des Stellvertretungslohnes. 

Vorgesehen ist, bei kürzeren Stellvertretungen künftig nur 85 Prozent des Lohnes auszuzahlen, weil im 100-Prozent-Lohn ein Teil für Weiterbildung, Eltern- und Gremienarbeit reserviert ist. Das ED argumentiert, diese Arbeiten würden in einer kurzen Stellvertretung nur bedingt anfallen.

Die Realität ist eine andere. Wenn während einer Stellvertretung Eltern anrufen, lässt man den Anruf doch nicht einfach unbeantwortet. 

«Das Einzige, was wir klar ablehnen, ist die Senkung des Stellvertretungslohnes.»
Jean-Michel Héritier

Apropos Stellvertretungen: Auch diese Kosten sind in den letzten Jahren enorm gestiegen. Gemäss Bericht der Finanzkommission sind dafür vor allem Krankheitskosten verantwortlich. Was sind die Gründe dafür, dass Lehrer*innen häufig krankheitsbedingt ausfallen?

Auch wir spüren den Fachkräftemangel. Die offenen Stellen werden zwar besetzt, aber es gibt Lehrpersonen, die zum Beispiel nicht auf der Stufe unterrichten, für die sie ausgebildet sind. Statistiken zeigen, dass an manchen Schulen bis zu einem Viertel der Lehrpersonen noch keine oder nicht die richtige Ausbildung für ihre Stellen haben. Diese Lehrpersonen verausgaben sich auch schneller. Und dann fallen sie aus.

Was würde helfen?

Was systematisch fehlt, ist ein berufliches Gesundheitsmanagement. Viele Betriebe in der Wirtschaft haben das etabliert. Sie schauen auf den Gesundheitszustand ihrer  Angestellten, wissen um Abgrenzungsmöglichkeiten zwischen Beruf und Freizeit, stellen sich Fragen wie: Wie gross sind Stress- und Erholungsfaktor? Das Erziehungsdepartement schaut hier hin bei den anderen Verwaltungs-Angestellten. Nur bei den Lehrpersonen nicht.

«Was systematisch fehlt, ist ein berufliches Gesundheitsmanagement.»
Jean-Michel Héritier

Warum nicht?

Es ist einfach bis heute nicht passiert, obwohl wir das vom Berufsverband seit gut und gerne zehn Jahren fordern. Ich höre zwar von Erziehungsdirektor Mustafa Atici, dass er das installieren möchte. Aber da muss sein Departement erst noch mitziehen. 

Abgesehen von Überstunden und Stellvertretungen: Was glauben Sie, wird die grösste Herausforderung für Lehrer*innen im neuen Schuljahr sein?

Wir haben ein Massnahmenpaket für die integrative Schule neu erhalten. Dass diese Massnahmen greifen und wir die Bildungsqualität damit erhöhen, ist die aktuell grösste Herausforderung. 

Erste Massnahmen wurden schon eingeführt. Neu kommen ab diesem Schuljahr zum Beispiel Lerninseln dazu, die Schüler*innen eine Pause ermöglichen sollen, wenn sie den Unterricht stark stören. Das Ziel ist, bis 2028 alle Massnahmen umzusetzen. Sind Sie zuversichtlich?

Wir werden sicher da und dort noch nachjustieren müssen, aber ich bin auf jeden Fall zuversichtlich. Wir haben mehr Mittel gekriegt, um Schwierigkeiten im Unterricht zu begegnen. Und ich hoffe, dass diese Mittel greifen.

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Michelle Isler

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Nach einem Masterstudium in Geisteswissenschaften und verschiedenen Wissenschafts- und Kommunikations-Jobs ist Michelle bei Bajour im Journalismus angekommen: Zuerst als Praktikantin, dann als erste Bajour-Trainee (whoop whoop!) und heute als Redaktorin schreibt sie Porträts mit viel Gespür für ihr Gegenüber und zieht für Reportagen durch die Gassen. Michelle hat das Basler Gewerbe im Blick und vergräbt sich auch gern mal in grössere Recherchen.

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